31
Poole
Tag 5, 12.06 Uhr
Poole trank so gut wie nie Alkohol. Er konnte sich nicht mal mehr daran erinnern, wann er zuletzt ein Bier, geschweige denn etwas Stärkeres getrunken hatte. Als er jetzt, Stunden nachdem er den Vernehmungsraum mit Bishop betreten hatte, wieder dort rauskam, hatte er trotzdem das dringende Bedürfnis nach einem Drink. Nach einem Doppelten, wenn nicht nach einer Flasche. Die Vorstellung, einen Fall einfach zu vergessen, und wenn es nur für eine Weile wäre, war noch nie in seinem ganzen Leben so verlockend gewesen.
Nash kam ihm auf dem Flur entgegen und flüsterte ihm sofort ins Ohr: »Passen Sie auf, was Sie in Gegenwart dieses Kerls, dieses Warnick sagen. Der war nonstop am Telefon und hat für jemanden den Liveberichterstatter gespielt. Keine Ahnung, für wen – er hat gut aufgepasst, dass er keinen Namen erwähnt. Er hat den Kollegen am Aufnahmepult schon um eine Kopie des Mitschnitts gebeten. Ich hab ihm sofort gesagt, das müsse er sich erst von Ihnen genehmigen lassen, es seien jetzt die Bundesbehörden zuständig und so weiter. Ich bin mir allerdings nicht sicher, wie viel Zeit uns das verschafft.«
»Hat Hurless angerufen?«
Nash verdrehte die Augen. »Nur so was wie ein Dutzend Mal. Ich hab ihm gesagt, Sie sind gerade mit Bishop in Klausur. Er will, dass Sie ihn sofort anrufen, sobald Sie raus sind.«
Nash wollte ihm schon das Handy zurückgeben, aber Poole nahm es nicht an. »Noch nicht«, sagte er, »und Sie haben mir auch nichts ausgerichtet.«
Als er an Nash vorbei den Überwachungsraum ansteuerte, hielt der Detective ihn mit der Hand vor der Brust auf. »Sie wissen, dass das alles Bullshit war, was der Typ erzählt hat?«
Poole wusste nicht, was er noch glauben sollte; nicht mehr nach alledem, was er gehört hatte.
Sowie er den Überwachungsraum betrat, fiel Warnick über ihn her. »Rufen Sie sofort Ihren Vorgesetzten an, SAIC Hurless. Sie haben die Anweisung, mir eine Kopie des Vernehmungsmitschnitts auszuhändigen.«
»Und wer hat die Anweisung erteilt?«
»Das muss Sie nicht interessieren«, entgegnete Warnick. »Auf dem Schreibtisch Ihres Chefs liegt der Haftbefehl, und den sollen Sie auf der Stelle umsetzen.«
Nash funkelte den Mann finster an. »Seit wann hat das Bürgermeisteramt die Befugnis, einen Haftbefehl im Rahmen einer Bundesermittlung auszustellen?«
»Kein Mensch hat behauptet, dass der Haftbefehl aus dem Bürgermeisteramt stammt. Und wenn man bedenkt, dass Sie kurz vor Ihrer Suspendierung stehen, Detective, bin ich mir nicht sicher, ob Sie sich hier einmischen sollten«, blaffte Warnick ihn an.
Nash nieste.
Er machte keine Anstalten, sich Mund und Nase zuzuhalten, vielmehr hatte Poole das untrügliche Gefühl, als sei Nash auch noch einen Schritt auf Warnick zugegangen, ehe er seine Salve verschossen hatte. Dann nieste er ein zweites Mal .
Warnick wich bis an die Wand zurück. »Detective, was zur …«
»Sorry.« Nash wischte sich mit dem Jackenärmel über die Nase. »Hab mir irgendein echt fieses Virus eingefangen. Wahrscheinlich in Upchurchs Haus …«
Warnick riss die Augen weit auf. »Sie gehören in Quarantäne!«
»Wenn wir hier fertig sind, lass ich mich durchchecken«, erwiderte Nash. »Hm, vielleicht sollten Sie sich das auch überlegen. Vorsicht ist besser als Nachsicht, Sie wissen schon.«
Mit hochrotem Kopf wirbelte Warnick zu Poole herum. »Kopie des Mitschnitts! Sofort!«
Poole stieß einen Seufzer aus und wandte sich an den Officer am Aufnahmepult, der sich das Ganze wortlos mit angesehen hatte. »Könnten Sie mir eine Kopie ziehen, bitte?«
Der Officer drückte die Eject-Taste am CD-ROM-Fach, nahm den Datenträger heraus und überreichte ihn Poole. »Schon passiert.«
»Den können Sie ihm doch nicht einfach so überlassen!«, rief Nash.
»Wenn ich die Anweisung habe, schon«, erwiderte Poole. »Aber zum jetzigen Zeitpunkt habe ich eine solche Anweisung noch nicht erhalten.« Mit der CD-ROM in der Hand wandte er sich zur Tür. »Außerdem muss ich das hier zuallererst mit Detective Porter besprechen.«
Warnick versuchte, ihm den Weg zu versperren. »Sind Sie wahnsinnig? Das dürfen Sie Porter nicht zeigen! Nicht bis wir es den entscheidenden Behörden vorgelegt haben. Zumindest müssen wir den Mitschnitt analysieren – auf alles, was die Anklage bekräftigen könnte. Wir müssen Porter befragen und …«
»Sie und ich«, fiel Poole ihm ins Wort, tippte erst sich auf die Brust und zeigte dann auf Warnick, »Sie und ich sind kein Wir. Ich bin ehrlich gesagt immer noch unschlüssig, was Sie hier überhaupt machen. Gehen Sie mir jetzt sofort aus dem Weg, oder Sie haben eine Klage wegen Behinderung einer bundesbehördlichen Ermittlung am Hals.«
Für einen Moment rührte Warnick sich nicht. Dann schüttelte er den Kopf, wich nach links aus und wählte im selben Moment erneut eine Nummer.
Draußen auf dem Flur packte Nash Poole an der Schulter. »Ich muss da mit rein. Mit mir redet er.«
»Unter gar keinen Umständen.« Poole schüttelte den Kopf. »Was ich vorhin gesagt habe, gilt immer noch. Solange Ihr Team als befangen gilt, müssen wir Sie auf Abstand halten. Besonders jetzt, da dieses Video kursiert.«
»Sie haben mich an einen Leichenfundort geschickt«, wandte Nash ein.
»In Begleitung mehrerer FBI-Agents und mit mir selbst in der Telefonleitung. Das war etwas anderes. Mein Team – und nicht die Metro – hat sämtliche Spuren gesichert und dokumentiert. Sie waren nur dort, damit Sie als Experte auf Ähnlichkeiten mit vorangegangenen Fällen hinweisen konnten. Ein klein bisschen Spielraum habe ich, aber nicht viel – und um ehrlich zu sein, sind Sie mir gerade eine bessere Hilfe, wenn Sie einfach nur stiller Beobachter sind, und zwar so lange, bis wir wissen, was für ein Spiel hier gespielt wird. Vielleicht rufe ich Sie ab einem gewissen Punkt herein, aber nicht gleich von Anfang an.«
Widerwillig nickte Nash und betrat den Überwachungsraum auf der gegenüberliegenden Flurseite.
Poole atmete tief durch, dann öffnete er die Tür zum Vernehmungsraum.
Porter hatte die Nase in eines der Tagebücher gesteckt und blickte nicht einmal auf. Zumindest nicht gleich. Unter dem Tisch wippte er mit den Knien. Das Whiteboard, das sie ihm zuvor gebracht hatten, war inzwischen mit Stichwörtern übersät, sogar mit einigen Skizzen, dem Grundriss eines Hauses. Die Kaffeekanne war leer, der Becher ebenfalls.
Poole setzte sich ihm gegenüber auf denselben Platz, auf dem er zuvor schon gesessen hatte. »Brauchen Sie mehr Kaffee, Sam?«
Ohne den Blick vom Tagebuch abzuwenden, antwortete Porter: »Er kannte Libby McInley, Barbara McInleys Schwester. Wussten Sie das? Und nach den Ereignissen rund um sein Elternhaus ist er in einer Art Pflegeheim gelandet.«
»Im Finicky-Heim«, sagte Poole.
Diesmal blickte Porter auf. »Das wissen Sie?«
»Steht da auf dem Whiteboard.«
Porter nickte. »Vincent Weidner war auch da. Paul Upchurch …« Er stand auf und trat an das Whiteboard. »… und diese Mädchen hier, Kristina Niven und Tegan Savala. Sie müssen die Namen überprüfen, vielleicht haben die auch mit der Sache zu tun. Es waren noch mehr Jungen dort, die versuche ich immer noch zu identifizieren. Und bevor Bishop in diesem Heim landete, war er in einer Einrichtung namens Camden Treatment Center. Suchen Sie alles zusammen, was die dort über ihn aufgezeichnet haben. Das wird unter ärztliche Schweigepflicht fallen, insofern müssten Sie sich wahrscheinlich eine richterliche Verfügung besorgen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Richter Bedenken hätte.«
»Sam, was sagt Ihnen der Name Montehugh Labs?«
Porter runzelte für einen Moment die Stirn, dann sah er zum Whiteboard. »Sie haben recht, das muss auch da stehen.« In das unbeschriebene Eckchen oben rechts schrieb er es unter die Überschrift andere Orte von Interesse.
»Was wissen Sie darüber? «
»Dort hat sich Bishop angeblich das Virus besorgt. Haben Sie das bestätigen können? Wenn nicht, müssen wir das schleunigst machen. Vielleicht kann man uns dort zumindest sagen, wie viel er davon erbeutet hat.«
»Bishop ist in Gewahrsam.«
Es dauerte einen Augenblick, ehe die Nachricht bei Porter angekommen war. Als es so weit war, kehrte er an den Tisch zurück und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Seit wann?«
»Seit etwa halb zehn. Er hat sich downtown in irgend so einem verfallenen Haus der Polizei – beziehungsweise Nash – gestellt.«
»Er hat sich gestellt ? War seine Mutter bei ihm? Welches Haus war das?«
»Ist das denn wichtig?«
»War es das Guyon Hotel?«
Poole schüttelte den Kopf. »Nein, nicht das Guyon. 426 McCormick. Und von der Frau, die sich als Sarah Werner ausgegeben hat, nirgends eine Spur.«
Porter stand wieder auf und notierte die Adresse unter Montehugh. »Ich weiß nicht, ob dieser Ort etwas zu bedeuten hat, aber wir behalten ihn besser im Hinterkopf. Und wir müssen sie finden – sie kann nicht weit sein.« Dann riss er die Augen auf und stellte die nächste Frage, als würde sein Gehirn gerade leicht zeitverzögert arbeiten. »Hat er Ihnen die restlichen Viren übergeben? Oder gestanden, wo er sie deponiert hat?«
Poole antwortete nicht, zumindest nicht sofort, weil er sich nicht sicher war, wie er darauf reagieren sollte. Dann entschied er sich für die Wahrheit. »Bishop sagt, Sie hätten das Virus.«
Sofern diese Aussage Porter überraschte, ließ er sich nichts anmerken. »Bitte?«
»Er meinte, Sie wären ins Montehugh eingebrochen und hätten das Virus entwendet, nicht er. «
Porter schmunzelte. Er sah aus, als würde er gleich in Gelächter ausbrechen. »Das ist echt verrückt! Warum sollte ich ein Virus entwenden?« Dann verblasste das Lächeln. »Ist er hier? In diesem Gebäude? Wo haben Sie ihn hingebracht?«
»Setzen Sie sich wieder, Sam. Ich muss Ihnen etwas zeigen.« Diesmal war es an Poole aufzustehen. Er trat an den Rechner in der Ecke und legte die CD-ROM ein.
Sam hatte sich keinen Millimeter bewegt.
»Setzen Sie sich, Sam!«
Bishop tauchte auf dem Bildschirm auf, und Porter setzte sich.