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Tagebuch
Libby und ich waren noch nicht ganz am Haus angelangt, als wir Geschrei hörten. Na ja, so ähnlich – erst knallte es ein Mal laut, dann knallte es mehrmals hintereinander, und dann erst ging das Geschrei los. In ein paar Zimmern ging Licht an, sowohl oben im ersten Stock als auch im Erdgeschoss, und es mag albern klingen, aber meine einzige Sorge war, dass Libby und ich Ärger bekommen könnten, weil wir so spät noch draußen gewesen waren.
Vincent hatte die Eingangstür offen stehen lassen. Der erste Knall musste von dem runden Tisch im Eingangsbereich gekommen sein, denn als wir ins Haus kamen, lag der Tisch umgestürzt an der Flurwand. Die Blumenvase mitsamt Inhalt sowie das Schälchen, in dem sonst Autoschlüssel lagen, waren in eine Million Stücke zerschellt. Der Teppich war vom Blumenwasser klatschnass, und ich wusste intuitiv, dass Miss Finicky bei diesem Anblick einen Wutanfall bekommen würde. Allerdings hatte ich keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, weil Libby mich an der Hand auf die Treppe und zu den lauten Stimmen im ersten Stock zerrte.
Wir eilten die Stufen hinauf – inzwischen war es völlig egal, welche davon knarrten –, und oben stand Vincent Weidner mit hochrotem Kopf in der Mitte des Flurs, hielt die Arme vor sich ausgestreckt und hatte Blut auf dem Hemd. In der Wand klafften mehrere Löcher – eins zu sei ner Linken, zwei auf der rechten Seite. Nach den Schrammen auf seinen Fäusten zu urteilen hatte er in den Gipskarton geboxt. Allerdings stammte das Blut auf seinem Hemd nicht von ihm selbst. Es war Pauls Blut – denn der lag vor ihm auf dem Boden und hielt sich die Nase zu, um den Blutfluss zu stoppen. Allem Anschein nach hatte auch er einen Schlag abgekriegt. Er versuchte gerade, wieder auf die Füße zu kommen, rutschte aus und fiel auf den Hintern.
»Bleib unten!«, schrie Vincent ihn an. »Bleib verdammt noch mal unten!«
Tegan stand in T-Shirt und Slip in ihrer Zimmertür. Wiesel und Kid spähten aus ihrem Zimmer, trauten sich aber nicht heraus. Kristina stand auf dem Flur und streckte die Arme nach Vincent aus. Als sie ihn am Unterarm berührte, schlug er ihre Hand weg und hätte ihr fast einen Ellbogenstoß verpasst. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Vince, es ist alles okay. Komm mit in mein Zimmer, dann reden wir darüber. Es wird alles gut.«
»Ich wollte nur helfen«, stammelte Paul. Erst in diesem Moment sah ich, dass er auch aus der Lippe blutete. Vince musste ihn gleich mehrmals erwischt haben.
Ich wollte schon zu ihm gehen und ihm hochhelfen, aber Libby hielt meine Hand fest und ließ sie nicht los. Tegan schien es bemerkt zu haben, weil sie uns beide inzwischen unverwandt anstarrte.
»Was zur Hölle ist hier los?«
Die Stimme war von hinten gekommen. Als ich mich umdrehte, stand dort Miss Finicky in einem langen gelben Nachthemd und mit einer Schrotflinte in der Hand. Ihr Blick huschte von Libby und mir über Paul am Boden und den Löchern in der Wand bis zu Vincent. Auf ihn richtete sie jetzt den Lauf ihrer Flinte. »Was soll das?«
Auch wenn es kaum möglich schien, lief Vincent noch dunkler an. »Ihr lasst mich jetzt alle verdammt noch mal in Ruhe!« Ich dachte schon, er würde Paul einen Tritt versetzen; stattdessen stieg er über ihn drüber, lief den Flur entlang zu seinem Zimmer und donnerte die Tür hinter sich zu.
Wir anderen standen einen Augenblick wie versteinert da. Anscheinend wusste niemand so recht, was er als Nächstes tun sollte.
Tegan starrte jetzt nicht mehr nur, sie funkelte uns wütend an, und Libby ließ meine Hand los. Ich spürte, wie sie ganz langsam in Richtung ihres Zimmers zurückwich.
»Hoch mit dir«, blaffte Miss Finicky Paul an und senkte den Lauf der Flinte. »Oh, dein Gesicht … Was hat er mit dir gemacht?«
Paul hielt sich immer noch die Nase zu. Mit der freien Hand fasste er sich an die Lippe, wimmerte, dann kam er wacklig auf die Beine.
Miss Finicky machte ein paar Schritte auf ihn zu. »Himmel, ihr bringt mich noch ins Grab … Kopf in den Nacken – du blutest sonst den ganzen Boden voll!« Dann sah sie Kristina an. »Hol einen Lappen aus dem Bad. Und die anderen – verschwindet in eure Zimmer, sofort!«
Wiesel und Kid huschten davon wie zwei Mäuse, wenn in der Küche unversehens das Licht anging. Tegan blieb noch für einen Moment in ihrer Tür stehen, allerdings starrte sie nicht Paul an, sondern mich. Als ich mich nach hinten umdrehte, war Libby verschwunden. Ihre Zimmertür war so leise zugegangen, dass ich es nicht mal gehört hatte.
»In dein Zimmer, Anson!« Miss Finicky nickte in Richtung der offenen Tür. Dann kniff sie die Augen zusammen. »Warum bist du überhaupt noch angezogen?«
Ich antwortete nicht. Stattdessen schlüpfte ich in mein Zimmer und schloss die Tür.
Als Paul fast eine geschlagene Stunde später endlich kam, war ich immer noch wach. Ich hatte das Licht ausgemacht, trotzdem konnte ich ihn einigermaßen erkennen. Er hielt sich einen in ein grünes Geschirrtuch gewickelten Eisbeutel auf die Nase. Als er das Zimmer durchquerte und die Leiter zu seinem Bett hinaufkletterte, machte er keinen Mucks. Er lag fast zehn Minuten lang da, bevor er überhaupt etwas sagte. »Dich nehmen sie als Nächstes mit. Das ist dir klar, oder?« Er näselte.
»Wohin denn?«
Er antwortete nicht. Und ich war mir nicht sicher, ob ich die Antwort hätte hören wollen.
»Jeder muss mit. Nach dir ist Libby dran. Dann womöglich Wiesel und Kid …« Er verstummte. Ich hörte die Eiswürfel in dem Beutel klimpern. »Bei Tegan und Kristina ist es was anderes, sogar bei mir und Vince … Wir haben immerhin auf der Straße gelebt. Aber das sind noch Kinder!«
Am liebsten hätte ich ihn darauf hingewiesen, dass wir alle Kinder waren.
Es verstrich wieder eine Minute, womöglich zwei, bis er mich fragte: »Du warst in der Scheune, oder? Mit Libby?«
»Ja.«
»Hast du den Truck gesehen? Ich hab gehört, da soll ein Truck stehen«, flüsterte er. »Wir müssen herausfinden, ob der noch läuft.«