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Poole
Tag 5, 13.00 Uhr
»Die Fotos sind jedenfalls noch nicht sehr alt. Die Frisuren waren die gleichen.« Nash starrte auf Upchurchs Laptop.
Poole sah zu Rolfes. »Darf ich?«
Sie nickte.
Er setzte sich auf den Schreibtischstuhl und klickte mit der rechten Maustaste eins der Fotos an, rief die Dateieigenschaften auf, machte das Gleiche mit einem zweiten Bild. »Die sind von letzter Woche.«
Rolfes streckte sich nach der Tastatur aus und drückte mehrere Tasten. »Er hat jeweils zehn, zwölf Bilder von den Frauen gemacht, immer in unterschiedlichen Outfits. Einige mit hochgestecktem, andere mit offenem Haar. Ich könnte nicht sagen, ob das bedeutet, dass er mehr als nur ein Ausweisdokument herstellen wollte, oder ob sie sich einfach nur das beste Bild aussuchen wollten.«
Poole scrollte durch die Bildergalerie. »Wie weit ist er gekommen? Und haben Sie Namen gefunden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Für keine der beiden. Sieht ganz danach aus, als wäre er nicht mehr fertig geworden. Allerdings gibt es Hunderte weiterer Bilder, die teils mehr als zehn Jahre alt sind. Und nicht nur Papiere aus Illinois, sondern auch aus Louisiana, North und South Carolina, New York … Der hat das schon eine Weile gemacht.
«
Nash schnalzte mit der Zunge. »Hat Sam nicht zwei Frauennamen erwähnt, aus dem Tagebuch, gleich als Sie zu ihm reingegangen sind? Könnte es nicht sein …«
»Kristina Niven und Tegan Savala«, rief sich Poole in Erinnerung. »Keine Ahnung. Könnte sein.«
»Würden Sie das alles bitte in Kopie an Kloz schicken?«, fragte Nash an Rolfes gewandt.
»Schon passiert. Ist sogar schon ein paar Stündchen her.«
Poole angelte eine Visitenkarte aus seiner Gesäßtasche. »Rufen Sie SAIC Foster Hurless auf dieser Nummer an – das Chicagoer FBI-Büro braucht ebenfalls Kopien.«
Sie schob die Visitenkarte in ihre Brusttasche. »Natürlich.«
Poole stand wieder auf und sah sich in dem Durcheinander um. Auf dem Tisch neben ihm lag ein Handy in einem Asservatenbeutel. »War da was Nützliches drauf?«
Rolfes zuckte mit den Schultern. »Kommt darauf an, was Sie für nützlich erachten. Es ist ein Billigmodell mit einer Prepaidkarte. Upchurch hat nach jedem Anruf die Liste gelöscht, aber die Technik hat die Verbindungsdaten beim Netzbetreiber angefordert. In ein paar Stunden sollten wir mehr wissen.«
»Rufen Sie mich an, sobald Sie die Daten haben. Meine Handynummer steht auf der Rückseite der Visitenkarte«, teilte Poole ihr mit. »Haben Sie zufällig etwas gefunden, was wie ein Tagebuch aussieht, ein Notizbuch – diese schwarz-weißen Blankobücher …«
Rolfes nickte hinüber zur rückwärtigen Zimmerwand. »Unter dem Bett.«
Nash stand am nächsten dran. Er drehte sich um, ging auf alle viere und hob die Hello-Kitty-Decke an.
Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann zog er einen noch eingeschweißten Fünferpack hervor, zwei lose Notizbücher
sowie mehrere mit Foldback-Klammern zusammengeheftete Stapel Papier.
Poole ging zu ihm und nahm ihm eins der Bücher aus der Hand. Am Deckel klemmte ein schwarzer Stift, und mehrere lose Blätter lagen zusammengefaltet zwischen den Seiten. Er faltete die Blätter auseinander und fing an zu lesen.
Hallo, Sam,
ich kann mir vorstellen, dass Sie jetzt verwirrt sind.
Ich kann mir vorstellen, dass Sie jetzt Fragen haben.
Ich weiß, ich hatte Fragen. Ich habe noch immer Fragen. Wirklich.
Fragen sind die Basis aller Erkenntnis, allen erlernten Wissens, der Entdeckung und Wiederentdeckung. Jemand, der Fragen stellt, blickt über seinen Tellerrand. Jemand, der Fragen stellt, ist wie ein unendlich großes Warenhaus, wie ein Erinnerungspalast mit unendlich vielen Stockwerken und Zimmern und glitzernden, schönen Dingen. Manchmal jedoch nimmt jemand Schaden; dann bröckelt eine Wand, Zimmer verfallen, der Palast der Erinnerungen muss renoviert werden. Ich fürchte, Sie gehören genau dieser Kategorie an. Die Fotos, die Sie vor sich sehen, die Tagebücher – all das sind Hinweise, die Sie durch den Verfall führen sollen, während Sie Ihren Palast neu errichten.
Ich bin für Sie da, Sam. So wie ich es immer war.
Ich habe Ihnen vergeben, Sam. Andere werden es mir vielleicht gleichtun. Sie sind nicht mehr jener Mann. Sie sind jetzt so viel mehr.
Anson
Genau diesen Text hatten sie auf dem Computerbildschirm im Guyon Hotel gefunden, nur dass er hier nicht bloß auf dem Ausdruck stand, sondern auch auf der ersten Seite des
Blankobuchs. Poole hatte sich hinreichend mit den Tagebüchern beschäftigt, um zu wissen, dass die Handschrift derjenigen entsprach, die sie Anson Bishop zugeordnet hatten.
Nash saß ans Bett gelehnt auf dem Boden und sah zu ihm hoch. »Bishop könnte es hier deponiert haben. Das hier bedeutet noch lange nicht, dass er die Wahrheit gesagt hat.«
Natürlich hatte er damit recht; es sah trotzdem nicht gut aus für Porter.
Im nächsten Moment klingelte Pooles Telefon.
Nash sah immer noch zu ihm hoch. »Hurless?«
Poole starrte auf das Display und nickte.
»Als jemand, der mit Versteck-dich-vor-deinem-Chef einige Erfahrung hat, kann ich nur sagen: Irgendwann erwischt er Sie«, sagte Nash. »Und je länger Sie es hinauszögern, umso wütender wird er sein.«
Widerwillig nahm Poole den Anruf entgegen. »Agent Poole.«
»Warum sind Sie in Upchurchs Haus?«
Hurless hatte Zugriff auf die GPS-Daten der Telefone seiner Leute. Wann immer der Mann ihn in der Vergangenheit darauf hingewiesen hatte, hatte Poole ein mulmiges Gefühl gehabt.
Er erzählte Hurless, worauf sie gestoßen waren.
Hurless dachte kurz darüber nach. »Lassen Sie die Seiten in unsere Niederlassung bringen. Wir haben immer noch Laptop und Drucker aus Porters Wohnung – sehen wir doch mal, ob wir die Sachen miteinander in Verbindung bringen können.«
»Ja, Sir.«
Hurless legte die Hand auf die Sprechmuschel, wandte sich an jemand anders, war dann aber sofort wieder in der Leitung. »Draußen wartet ein SUV auf Sie, ein schwarzer
Escalade. Sie und dieser Detective stehen in fünf Minuten Gewehr bei Fuß vor mir.«
»Ich muss zurück zur Metro und die Befragung …«
»In fünf Minuten«, unterbrach Hurless ihn und legte auf.
Poole neigte sonst nicht dazu, ungehalten zu fluchen, aber diesmal schossen ihm gleich mehrere Beschimpfungen durch den Kopf.