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Clair
Tag 5, 13.05 Uhr
Keine Spur.
Nichts.
Nada.
Zumindest bis jetzt.
Clair hatte soeben erst mit Officer Sutter gesprochen, und auch wenn der es tatsächlich geschafft hatte, mit fast einem Drittel der Leute aus der Cafeteria zu reden, hatte keiner von ihnen irgendetwas Hilfreiches zu sagen gewusst. Wenn zwischen ihren zwei Opfern eine Verbindung bestanden hatte, dann war ihnen diese bislang verborgen geblieben. Ihre beiden vermissten Officers, Henricks und Childs, waren immer noch nicht wieder aufgetaucht; sie fehlten jetzt schon seit über vier Stunden. Ein kleines Nickerchen hätte sie ihnen nachgesehen, besonders weil keiner der beiden seit Tagen eine nennenswerte Pause hatte einlegen dürfen. Aber das hier war etwas anderes. Das leise Stimmchen in ihrem Hinterkopf klang mittlerweile alarmiert. Allmählich musste sie darauf reagieren. Wenn herauskäme, dass zusätzlich zu den beiden Morden zwei Officers verschwunden waren, wäre kaum mehr abzusehen, was die verbleibenden Leute im Krankenhaus anrichten könnten – und das galt für Polizeibedienstete, Krankenhauspersonal und Zivilisten gleichermaßen. Es würde übel ausgehen. Sie konnte es ihnen vom Gesicht ablesen – die Angst, die Niedergeschlagenheit, die Müdigkeit, die Wut. Ordnung und Zivilisiertheit waren eine Illusion, die von einer Mehrheit aufrechterhalten wurde, nur dass ihr kleiner Trupp aus Polizisten und Securitymitarbeitern längst nicht die Mehrheit war.
Und jetzt auch noch das.
Klozowski hatte die Information sofort weitergegeben, als sie eingegangen war, und der Kloß in ihrem Hals war auf die Größe einer Bowlingkugel angeschwollen. Sie starrte Kloz über den Tisch in ihrem Behelfsbüro hinweg an und versuchte verzweifelt zu schlucken. »Das darf doch nicht wahr sein!«
»Ist es aber«, erwiderte Nash, der den Blick auf den Bildschirm gerichtet hatte. »Es ist einfach nur noch komplett verquer … Aber es ist wahr.«
»Porter kann Bishop nie im Leben in eine Undercoveraktion eingespannt haben, ohne dass wir das mitbekommen hätten, nie im Leben!«
»Selbst wenn es keine Undercoveraktion gab, hieße das trotzdem, Porter hätte Bishop für sich eingespannt – und das würde bedeuten, dass Bishop nicht 4MK sein kann. Es würde bedeuten …«
Clair griff nach einer der Mappen, beugte sich über den Tisch und verpasste Kloz damit eine Backpfeife. »Wag es nicht, so etwas laut auszusprechen! Jetzt nicht und nie wieder! Ich glaub kein Wort von diesem Bullshit!«
»Ich versuche doch nur, das Ganze objektiv zu überdenken. Vergiss alles, was wir von ihm wissen, und betrachte ihn einen Moment lang, als wäre er ein Verdächtiger: Dann hätte er …«
Sie schlug erneut nach ihm. »Sam ist kein Verdächtiger! Nimm dieses Wort nicht in den Mund!«
Kloz rieb sich den Kopf. »Könntest du mal für fünf Minuten aufhören, mich zu schlagen, und mir einfach nur zuhören?«
»Sam ist kein Verdächtiger!«
»Okay, Person von Interesse.«
»Interessante Person.«
Kloz runzelte die Stirn. »Unter diesen Umständen glaube ich kaum, dass die Formulierung korrekt ist.«
»Ist mir egal.«
Er verdrehte die Augen. »Okay, meinetwegen. Ich will damit bloß sagen, dass wir es mit einer Reihe von Alarmsignalen zu tun haben. Hast du Emorys Zeugenaussage gelesen? Sie hat Bishop nie als denjenigen benannt, der sie verschleppt hat. Sie hat sein Gesicht nie gesehen. Sie hat bloß von oben eine Stimme durch den Fahrstuhlschacht gehört, aber mit dem Echo und angesichts ihres damaligen Zustands bezweifle ich doch sehr, dass sie die Stimme wiedererkennen würde, wenn wir ihr jetzt Stimmproben vorspielten. Ganz ehrlich? Ich glaube, die Staatsanwaltschaft würde dem auch nicht zustimmen, weil sie nicht riskieren will, dass sie die falsche Person auswählt und den kompletten Fall gefährdet. Wahrscheinlich ist es nur deshalb nie auch nur erwogen worden.«
Diesmal war Clair an der Reihe, die Augen zu verdrehen. »Warum hätte Sam sie entführen sollen? Warum hätte er all diese Leute umbringen sollen? Wir haben Bishops Motiv. Sam hätte keins gehabt.«
»Nur weil wir sein Motiv nicht kennen, heißt das nicht, dass er keins gehabt hat«, dozierte Kloz. »Wir haben nur nie danach gesucht. Und mal ernsthaft – wie wasserdicht ist unsere Hypothese zu Bishop? Die kam ursprünglich von Sam – es war seine Analyse des Tagebuchs und der Infos, die er von Bishop hatte. Wir haben niemanden, der ihre Unterhaltung bezeugen könnte – es kam alles nur von Sam. «
»Du hast mit ihm telefoniert, als Bishop ihn niedergestochen hat.«
Kloz zuckte mit den Schultern. »Ich hab nur die eine Seite ihres Gesprächs gehört. Nur das, was Sam gesagt hat. Ich weiß kein bisschen mehr, was in der Wohnung passiert ist, als du. Wir haben Sams Wort für bare Münze genommen.« Er klickte mehrere Schaltflächen auf seinem Laptop an und rief den Videomitschnitt von Bishops Vernehmung durch Poole wieder auf. »Es könnte durchaus so gewesen sein, wie Bishop behauptet. Es steht sein Wort gegen das von Sam. Woher wissen wir, wer die Wahrheit sagt? Können wir es wirklich mit Sicherheit sagen
Clair wollte davon nichts hören. »Bishop hat Sam gegenüber ein Geständnis abgelegt, bevor er Talbot umgebracht hat.«
»Sam gegenüber hat er ein Geständnis abgelegt«, wiederholte Kloz. »Und zwar nur Sam gegenüber.«
»Und was ist mit den Fingerabdrücken?«, fragte Clair verächtlich. »Sie haben Bishops Teilabdruck auf dem Förderwagen bei Gunther Herberts Leiche gefunden. Im Multifax-Gebäude. Wenn Bishop Herbert nicht umgebracht hätte, was hätten die Abdrücke dann dort verloren?«
»Tja, den Bericht habe ich auch gelesen.« Er rief das Dokument auf und scrollte vor bis zu den hinteren Absätzen. »Mark Thomas aus Brogans SWAT-Team hat den Abdruck vom Förderwagen genommen und Sam den Beweismittelbeutel in die Hand gedrückt – laut Bericht um Punkt 18.18 Uhr. Sam hat das Material mit sich herumgetragen, bis er es drei Stunden später an Nash übergab und ihn bat, es ins Labor zu schicken. Drei Stunden später. Findest du nicht, da hätte er Zeit gehabt, die Folie mit dem Abdruck durch eine andere zu ersetzen?«
»Das würde Sam niemals tun!«
»Vergiss endlich, dass wir von Sam reden. Wir reden jetzt über die ›interessante Person‹. Wenn diese Person Bishop hätte hinhängen wollen, hätte sie die Möglichkeit gehabt. Wir haben keinen einzigen Zeugen, der Bishop zweifelsfrei identifizieren könnte.«
Clair schnipste mit den Fingern. »Was ist mit Tyler Mathers, Emorys Freund? Er und sein Onkel – die haben die Versicherungssumme kassiert, Talbots Schuhe geklaut …«
Klozowski rief Mathers’ Zeugenaussage auf, fuhr mit dem Finger über die Zeilen und las dann laut vor: »›Ich hab ihn selbst nie zu Gesicht bekommen. Und ich glaub auch nicht, dass Onkel Jake ihn je gesehen hat. Sie haben immer nur telefoniert.‹« Kloz sah zu ihr rüber. »Das ist dein Bericht – du hast den Jungen persönlich befragt.«
»Okay. Die Leute aus dem Park, aus dem Emory entführt wurde – da gab es Augenzeugenberichte …«
Doch Kloz schüttelte bereits den Kopf. »Die Berichte stammen ebenfalls von dir, und die Beschreibungen dieser Zeugen widersprechen sich von A bis Z. Es hat ihn keiner genau gesehen. Es ist wie bei der Stimmprobe für Emory – die Staatsanwaltschaft wird mit solchen Zeugen keine Gegenüberstellung riskieren wollen, nachdem die Beschreibungen in den Protokollen derart auseinanderklaffen. Wenn du solche Leute einbestellst und jeder von ihnen auf jemand anders zeigt, bricht der komplette Fall in sich zusammen.« Er ließ sich schwer gegen die Stuhllehne zurücksinken und atmete tief durch. »Hör mal, ich sag ja gar nicht, dass Bishop es nicht war. Ich will bloß zu bedenken geben: Falls jemand den Fall durchlöchern wollte, dann wäre das nicht allzu schwierig.«
»Bishop ist ein so dermaßen krankes, wahnsinniges Hirn, ein Stück Scheiße, ein selbstherrlicher Killer … Er war’s – er hat all diese Taten verübt. Er ist der Grund, warum wir hier sitzen und in diesem gottverdammten Krankenhaus eingesperrt sind. «
»Fällt es dir wirklich so schwer, dir vorzustellen, dass ein Cop Selbstjustiz üben könnte? Sam wäre nicht der Erste.« Kloz wich zurück und wappnete sich für den Gegenschlag.
Doch diesmal schlug Clair nicht zu. Stattdessen erschauderte sie und nickte in Richtung des schweren Mantels am Boden neben Kloz’ Stuhl. »Gib mir den, mir ist kalt.«
»Du schwitzt. Wahrscheinlich hast du Fieber.«
»Es geht mir gut.«
Kloz hielt ihr den Mantel hin. »Ich glaube, die Medikamente, die sie uns geben, helfen kein bisschen.«
Sie zog sich den Mantel über die Schultern und versuchte zu verhindern, dass ihre Zähne klapperten.
Der Laptop vermeldete eine eingehende Nachricht, und Kloz beugte sich wieder vor. »E-Mail von CSI Rolfes.«
»Was steht drin?«
Erst antwortete er nicht. Stattdessen klickte er das Attachment an und öffnete eine Zipdatei. Ein gutes Dutzend Fotos erschien auf dem Bildschirm – Fotos von Sam mit Bishop in unterschiedlichen Altersstufen.
»Sind das die Bilder, die wir im Guyon Hotel bei Sam gefunden haben?«
Kloz nickte. »Ich glaube schon.«
Clair drehte den Laptop so herum, dass sie Rolfes’ Anschreiben lesen konnte.
Das stammt alles von Upchurchs Computer. Alles Fake.
Lindsy
»Bin mir nicht sicher, was das heißen soll«, flüsterte Clair.
»Das heißt, entweder hat Sam Upchurch bezahlt, um diese Fotos zu erstellen, genau wie die Tagebücher. Oder Bishop steckt dahinter.«
»Okay, und aus welchem Grund? «
Auch diesmal antwortete Kloz nicht.
Dann ging eine Nachricht von Officer Sutter auf Clairs Handy ein.
Brauche Sie in der Cafeteria. Sofort.