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Tagebuch
Tags darauf kurz vor Sonnenuntergang fanden wir den Truck: einen 1998er Ford F150, einen Pick-up, den nur noch der Rost und ein letzter Rest gelben Lacks zusammenhielten. Irgendjemand hatte den Wagen bis in die hinterste Ecke geschoben und dann eine Plane in Tarnfarben darübergeworfen. Die Rostlaube stand direkt an der Bretterwand, und man kam nur auf die andere Seite, indem man auf den Stoßfänger stieg und dann rüberkletterte. Anscheinend war die Ladefläche früher als Zwischenlager für Sachen benutzt worden, die aufbewahrt werden sollten, dann aber in Vergessenheit geraten waren. Libby und ich fanden alles Mögliche – von einem alten Vogelbauer über Schuhe bis hin zu Büchern. Dazwischen lag sogar ein alter Fernseher. Der Bildschirm hatte einen Sprung, durch den man die Innereien sehen konnte, das elektronische Gedärm, die Arterien, das Herz eines seit Langem toten Geräts.
Alle vier Reifen waren platt. Der Schlüssel steckte zwar, aber der Wagen machte keinen Mucks, als wir den Zündschlüssel herumdrehten. Die Fahrerkabine roch schimmlig und muffig, wie eine ägyptische Grabkammer, die nach Jahrtausenden geöffnet wurde.
»Bäh!« Libby hielt sich die Nase zu.
Da war etwas, was zum Himmel stank – als wäre es unter das Armaturenbrett gekrochen, um es sich dort gemütlich zu machen, und wäre dann gestorben. Vielleicht ein Waschbär oder eine Ratte oder eine ganze Mäusesippe. Ich beugte mich nach unten, aber ohne Taschenlampe konnte ich nicht viel erkennen. Die Kunstledersitze waren von einem Spinnennetz aus Rissen durchzogen. Hier und da quoll die gelbliche Polsterung hervor. Als Libby auf den Beifahrersitz kletterte und sich darauffallen ließ, stob eine Staubwolke auf, die uns beiden einen Niesanfall bescherte. Als sie wieder imstande war, normal zu sprechen, strich sie mit dem Finger durch den Staub auf dem Armaturenbrett und verkündete: »Der ist perfekt!«
»Der ist Schrott.« Ich drehte erneut den Schlüssel herum. »Irgendwer hat den hier zum Sterben zurückgelassen.«
Mit einem Lächeln im Gesicht drehte sie sich zu mir um. »Wir könnten ihn wieder in Gang setzen und nach Kalifornien oder Kanada fahren oder sogar nach Mexiko. Wir lassen alles hinter uns und fangen woanders neu an.«
»Dazu bräuchten wir Werkzeug und Ersatzteile. Verflixt, wo kriegen wir jetzt Werkzeug und Ersatzteile her? Der nächste Laden ist mindestens zehn Meilen entfernt – aber selbst wenn wir dort hin- und wieder zurückkämen, bräuchten wir immer noch jemanden, der wüsste, wie man so ein Ding repariert. Vater hat mir beigebracht, wie man einen Ölwechsel macht und ein Auto pflegt, aber von Motoren hab ich keine Ahnung … also, wie man so was wieder zum Laufen bringt …«
Libbys Lächeln verblasste. Sie sah mich nachdenklich an. »Du sagst immer ›Vater‹. Nie sagst du ›mein Vater‹ oder ›Dad‹. Immer nur ›Vater‹. Warum?«
Darauf wusste ich keine Antwort. Er war für mich immer nur Vater gewesen – genau wie Mutter immer nur Mutter gewesen war. Irgendwie hatte sich die Frage auch nie gestellt, es war einfach bloß die Bezeichnung dessen, was es nun mal war. Wie Luft Luft war oder Dreck Dreck. Ich war
»Anson«, sagte sie, »entschuldige bitte. Ich hätte es nicht ansprechen dürfen. Das war unsensibel von mir. Du hast sie verloren, und das tut mir sehr leid.«
Sie verschränkte ihre Finger mit meinen. Inzwischen hielten wir uns öfter an der Hand, und ich mochte das. Meine Hand fühlte sich ohne ihre Hand unvollständig an. Genau wie Dr. Oglesby hatte auch sie mal erwähnt, dass ich während eines Gesprächs manchmal in Gedanken abzuschweifen schien, aber anders als bei Dr. Oglesby wollte ich das bei ihr nicht.
Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Das ist es nicht … Ich hab wohl einfach nie darüber nachgedacht. Meine Eltern haben mir nie erlaubt, sie ›Mom‹ und ›Dad‹ zu nennen, immer nur ›Mutter‹ und ›Vater‹. Und wenn man es nicht besser weiß, dann kommt einem das so normal vor wie alles andere auch.« Mit der Anrede war es im Grunde das Gleiche wie mit dem Vorhängeschloss am Kühlschrank, nur dass ich ihr das lieber nicht erzählte. Es war wie mit so vielen Dingen, die bei uns zu Hause passiert waren – aber auch die erwähnte ich besser nicht. Inzwischen war es schon Monate her, seit ich zuletzt daheim gewesen war, und ich wäre nur zu gern dorthin zurückgekehrt – um unser Haus zu sehen und meinen See … Als ich zuletzt dort gewesen war, war meine Welt bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Ich hätte zu gern gewusst, was davon übrig war. Was selbst das Feuer verschmäht hatte.
»Komm, wir erzählen es Paul.«
Paul war, wo er immer war: mitsamt Zeichenblock auf seinem Bett. Als wir ihm berichteten, was wir gefunden hatten, blickte er nicht ein einziges Mal auf, sondern zeichnete weiter. »Vincent hat in einer Werkstatt gearbeitet. Der wüsste, wie man ihn repariert. Aber ich frage ihn nicht. Für mich ist Mr. Vincent Weidner gestorben.«
Vincent hatte Paul übel zugerichtet. Sein linkes Auge war immer noch blau, und obwohl er ihm die Nase nicht gebrochen hatte, war sie geschwollen und die Haut drumherum seltsam grünlich-blau verfärbt. Seit jener Nacht hatte keiner von uns Vincent noch einmal gesehen, er war nicht aus seinem Zimmer gekommen, nicht mal aufs Klo gehuscht. Sein Zimmer lag genau über dem von Miss Finicky, und Paul mutmaßte, dass er wahrscheinlich einfach aus dem Fenster auf das darunterliegende Vordach pinkelte. »Da wird sie sich aber freuen, wenn die Sonne erst rauskommt«, hatte Paul geunkt. Ich nahm an, er ging einfach immer dann aufs Klo, wenn sonst niemand da war.
»Wir reden mit ihm«, beschloss Libby. »Oder, Anson?«
Ich wollte nicht mit ihm reden. Ich wollte ihm nicht gegenübertreten. Vincent Weidner machte mir Angst. Vater hätte es nicht gutgeheißen, dass ich diese Angst offen zeigte – zumal in Anwesenheit eines Mädchens. Also nickte ich nur, und bevor ich etwas entgegnen konnte, hatte sie mich auch schon auf den Flur gezogen, steuerte Vincents Tür an und klopfte.
»Vincent, hier sind Libby und Anson.«
Keine Reaktion.
»Vielleicht ist er draußen?« Dabei wusste ich genau, dass er da drin war.
Libby klopfte erneut.
»Nein!«, rief Vincent aus seinem Zimmer.
Libby sah erst mich an und dann die Tür. »Nein? Was … nein?«
»Du: Nein. Anson: Nein. Jeder andere: Nein. Niemand, okay. Einfach: Nein.«
»Wir wollen bloß reden.«
»Schön für dich. Und jetzt verschwinde!«
Doch Libby blieb stehen, und ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen, also blieb ich ebenfalls stehen. Dann klopfte sie wieder an .
»Ich werf euch Schmeißfliegen gleich aus dem Fenster, wenn ihr mich nicht sofort in Ruhe lasst!«
Ich atmete tief durch. Insgeheim war ich mir sicher, dass es mein letzter Atemzug wäre. »Vincent, wir haben in der Scheune einen Pick-up entdeckt.«
Wieder keine Reaktion.
Als nach einer Weile die Tür aufging, stand da nicht Vincent, sondern Kristina. Sie hatte sich die Haare zusammengebunden und trug ein Bangles-T-Shirt und pinkfarbene Sportshorts – sonst nichts, auch nicht an den Füßen. Ich glaube, sie hatte nicht mal einen BH an. »Was für einen Pick-up?«