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Poole
Tag 5, 13.20 Uhr
Wie von Hurless angekündigt, stand am Straßenrand vor Upchurchs Haus ein schwarzer Cadillac Escalade mit getönten Scheiben für sie bereit. Der einzige Insasse war der Fahrer, ein Mann Ende fünfzig in einem makellosen schwarzen Anzug. Er stieg aus, ging um den Wagen herum, zog für sie die Türen auf und winkte sie hinein – Poole auf den Beifahrersitz, Nash auf die Rückbank.
Wohin sie unterwegs waren, wollte er ihnen nicht verraten.
Poole hatte nie zuvor in einem derart sauberen Wagen gesessen. Das schwarze Leder schimmerte wie frisch vom Werk, und auf den Scheiben war nicht der geringste Fleck oder Schmierer zu sehen. Abgesehen vom Schneematsch, den er selbst an den Schuhen hereingetragen hatte, war selbst die Fußmatte mikroskopisch rein, als hätte jemand sie seit der letzten Fahrt ausgetauscht.
»Hier hinten ist eine Bar«, stellte Nash fest, »eine voll ausgestattete Bar – sogar mit Snacks! Wenn Sie sich in meinem Auto zur Rückbank umdrehen, können Sie froh sein, wenn Sie ein Fleckchen getrocknete Burgersoße auf McDonald’s-Papier finden … und vielleicht gerade noch eine halb volle Flasche Wasser.« Er hielt ein Twix nach vorn. »Wollen Sie?
«
Poole ignorierte ihn und wandte sich zu dem Fahrer um. »Wem gehört dieser Wagen?«
»Ich fürchte, das darf ich nicht sagen«, erwiderte der Mann.
»Ihnen ist aber schon klar, dass ich FBI-Agent bin?«
»Tut mir sehr leid, Sir, aber ich habe Anweisungen.« Er bog mehrmals ab und folgte dann der Beschilderung in Richtung 290 East und Seeufer.
Als Poole den Schokoriegel nicht entgegennahm, ließ Nash sich zurücksinken und riss die Verpackung auf. Er hatte das Twix schon halb aufgegessen, als er nach vorn fragte: »Warum ist das FBI überhaupt an der Sache dran?«
»Das wissen Sie ganz genau.«
Nash nahm noch einen Bissen. Als er weitersprach, spuckte er Schokobrösel. »Ehrlich gesagt weiß ich es nicht
. Es hieß, Sie hätten übernommen, weil Bishop entkommen war und wir nicht schnell genug Fortschritte machten. Aber so läuft das doch nicht. Das FBI kann so einen Fall doch nicht einfach so an sich reißen – es sei denn, es handelt sich um bundesstaatenübergreifende Verbrechen. Oder die örtliche Polizeibehörde beantragt Amtshilfe. Die ursprünglichen Verbrechen sind alle in Chicago verübt worden – jedes einzelne von Bishops Opfern ist hier vor Ort aufgefunden worden, und ich weiß sicher, dass die Metro keinen Hilfsantrag gestellt hat.«
»Wir haben auch Morde in South Carolina und Louisiana, die mit den hiesigen in Verbindung stehen«, gab Poole zurück, unschlüssig, ob er diese Unterhaltung überhaupt fortführen wollte.
»Die erst ans Licht kamen, nachdem
das FBI eingeschritten war«, rief Nash ihm in Erinnerung. »Vorher nicht.«
»Ich habe die Order von meinem direkten Vorgesetzten erhalten, von SAIC Hurless.«
»Und wer hat zum Hörer gegriffen und ihn
zu der Party
eingeladen? Wo kam seine
Order her?« Nash schluckte den letzten Bissen hinunter und warf die Verpackung in den Fußraum. »Wenn wir das rausfinden, wissen wir auch, wem der Wagen gehört.«
Der Fahrer bog auf Höhe der LaSalle von der 290 ab und links auf die State Street ein.
»Das geht auch anders.« Poole beugte sich vor und machte das Handschuhfach auf.
»Sir, bitte tun Sie das nicht.« Der Fahrer riskierte einen Seitenblick und konzentrierte sich dann sofort wieder auf die Straße. Der Verkehr auf der State Street war für diese Uhrzeit überraschend dicht.
Poole durchwühlte das Handschuhfach und angelte die Fahrzeugpapiere hervor – nur stand dort bloß Elite Rentals and Transportation Services, LLC
. Dann fand er einen abgelaufenen Parkschein, das Service-Handbuch – und eine .38er in einem Holster. »Dürfen Sie eine versteckte Waffe führen?«
»Ja, Sir. Hab meinen Schein gerade erst vergangenen Monat erneuert. Und ich bin mindestens ein Mal pro Woche auf dem Schießstand.«
»Sind Sie dann Fahrer oder Sicherheitspersonal?«
Der Mann antwortete nicht. Stattdessen setzte er den Blinker und fuhr auf die Wabash.
»Gehören Sie einer Strafverfolgungsbehörde an?«
Der Fahrer bog erneut links ab und hielt am rechten Straßenrand. »Wir sind da, Sir.«
Nash sah aus dem Fenster und pfiff durch die Zähne. »Das Langham Hotel? Hier war ich mal auf einer Hochzeit. Bin im Pool gelandet. Die haben diese kleinen Blinklichter oben auf dem Dach. Das war vielleicht eine Party!«
»Ich glaube kaum, dass wir auf eine Hochzeit gehen«, murmelte Poole.
Der Fahrer stieg aus, umrundete den Escalade, machte
erst Poole, dann Nash die Tür auf. »Gehen Sie jetzt bitte umgehend in Zimmer 1218.«
Dann ließ er sie auf dem Gehweg im eisigen Wind stehen.
Poole starrte die Eingangstür an und legte beide Hände vor den Mund, als wollte er sie mit seiner Atemluft wärmen. »Ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefällt. Wer weiß sonst noch, dass wir hier sind?«
»Ich hab Clair gerade eine Nachricht geschrieben und ihr die Zimmernummer durchgegeben. Wenn ich mich nicht innerhalb der nächsten Viertelstunde bei ihr zurückmelde, schickt sie Verstärkung.«
Poole schob die schwere Glastür auf, und Nash lief hinter ihm her in die Lobby. Wie angewiesen ließen sie den Trubel an der Rezeption, Concierges und Hotelpagen links liegen und marschierten direkt auf die Aufzüge zu. Als der mittlere aufging, traten sie ein und fuhren hinauf in den zwölften Stock, wo ein groß gewachsener Mann in einem dunkelblauen Anzug, mit rasiertem Schädel und Ziegenbärtchen sowie einem Klemmbrett in der Hand sie willkommen hieß.
Pooles Blick huschte von der Wölbung unter dessen linker Schulter zu einer weiteren über dem rechten Fußknöchel. Zwei Schusswaffen, womöglich mehr. Der Mann schien Poole gleichermaßen zu mustern, nahm erst Pooles Dienstwaffen, dann die von Nash zur Kenntnis. Sofern er nicht damit gerechnet hatte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. »Namen?«
Poole stellte sich und Nash vor.
Er überflog eine Liste, blätterte um und dann wieder zurück zur ersten Seite. »Einen kleinen Moment, bitte.« Ohne auf eine Reaktion zu warten, verschwand er den Gang entlang um eine Ecke.
»Secret Service?«, murmelte Nash
.
Poole schüttelte den Kopf. »Die erlauben keine Gesichtsbehaarung.«
»Ernsthaft?«
Einen Augenblick später tauchte der Mann wieder auf – in Begleitung von Anthony Warnick aus dem Bürgermeisteramt. Warnick hielt sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf. »Da lang!«
Poole und Nash wechselten einen Blick und folgten ihm. Der Mann mit dem Klemmbrett kehrte auf seinen Posten am Fahrstuhl zurück.
Ein weiterer Posten stand vor der Flügeltür zu Zimmer 1218. Als sie näher kamen, zog er seine Codekarte durch den Kartenleser und schob die Tür für sie auf.
Das war kein Zimmer.
Das war eine Suite.
Quasi eine ganze Wohnung. Oder ein kleines Haus.
Gut und gern drei Meter hohe Kassettendecken. Gegenüber eine einzige Glasfront mit Blick über den See. Zwei Sofas flankierten einen großen Couchtisch in der Mitte des Raums. Zur Linken befand sich der Essbereich, zur Rechten führten mehrere Türen in angrenzende Zimmer – eins war das Bad und zwei weitere waren verschlossen, vermutlich die Schlafzimmer. Gemusterte Teppiche lagen auf dem Parkettboden, und an den Wänden hingen geschmackvolle Drucke. Alles in allem war die Einrichtung modern in Naturtönen gehalten, dazu der eine oder andere farbige Akzent.
Etwa ein halbes Dutzend Leute – Männer wie Frauen – lief auf und ab, telefonierte oder beriet sich. Ein paar drehten sich um, als Nash und Poole den Raum betraten, wandten sich dann aber wieder ab und machten weiter, womit auch immer sie gerade beschäftigt waren.
An einem Schreibtisch an der Fensterfront saß eine Frau, die sich aus dem Trubel ausgeklinkt hatte. Sie trug
Kopfhörer, hatte einen beigefarbenen Pullover und Jeans an, und ihr Blick war starr auf den Bildschirm eines riesigen MacBook Pro gerichtet. Darauf liefen zwei Videoclips – einer mit Anson Bishop, der zweite mit Sam Porter. Die Vernehmungen, die Poole früher am Tag durchgeführt hatte. Die Frau hatte Porter auf Pause gedrückt; Bishop lief nach wie vor.
»Was ist das hier?« Poole zog die Stirn kraus.
»Madeline Abel«, erklärte Warnick, »unsere führende Expertin auf dem Gebiet der Kinetik – das ist die Wissenschaft der …«
»Ich weiß, was Kinetik ist«, blaffte Poole ihn an. »Warum darf sie die Videos sehen? Haben Sie überhaupt eine Verfügung für Porter? Wer hat die ausgestellt?«
Warnick ignorierte die Fragen. »Dafür hab ich jetzt keine Zeit. Ich will wissen, wer von den beiden die Wahrheit sagt. Sie haben nicht annähernd schnell genug Ergebnisse geliefert.« Er sah Nash missbilligend an. »Keiner von Ihnen beiden.«
Nash schnaubte, sagte aber nichts.
Warnick legte der Frau eine Hand auf die Schulter. Sie drückte auf Pause, setzte die Kopfhörer ab und sah zu ihnen hoch. Als ihr Blick an Poole hängen blieb, riss sie die Augen auf. »Frank?«
Warnick runzelte die Stirn. »Sie sind miteinander bekannt?«
»Agent Abel hat mich ausgebildet.«
Sie lächelte. »Inzwischen nur noch Maddie Abel. Sagen Sie Maddie. Ich hab vor drei Jahren den Dienst quittiert, arbeite jetzt in der Privatwirtschaft.«
»Ich muss wissen, wer von den beiden lügt«, wiederholte Warnick und sah sie finster an. »Sie beide können später über alte Zeiten plaudern.«
Ihr Lächeln verblasste, und sie wandte sich wieder dem
Bildschirm zu. »Beide lügen. Und beide sagen die Wahrheit. Ich brauche mehr Zeit, um mir das anzusehen. Die zwei haben beide Talent, sie sind eindeutig mit der Kinetik vertraut und treffen sowohl bewusst als auch unbewusst Entscheidungen, um über jede Lüge hinwegzutäuschen. Agent Poole hat einen erstklassigen Job gemacht, als er erst gewisse Fragen gestellt hat, um den Boden zu bereiten, und dann Folgefragen, die auf die Lücken in den jeweiligen Schilderungen abgezielt haben. Leider kontern beide auf seine Taktik mit geeigneten Gegenmaßnahmen.«
Warnick lief dunkelrot an. »Ich habe Sie einbestellt, weil Sie angeblich die Beste auf Ihrem Gebiet sein sollen. Ich brauche Antworten, nicht diesen gedrechselten Bullshit! Einer der beiden ist dafür verantwortlich, und ich muss wissen, wer.«
Sie seufzte und rieb die Hand über die Tischkante. »Womöglich mit zusätzlichem Material … Gibt es mehr Aufzeichnungen von Bishop? Und von Porter auch? Vielleicht Vernehmungen, die er in der Vergangenheit durchgeführt hat? Das wäre wirklich sehr hilfreich. Sobald ich seine kinetischen Kenntnisse eruiert habe, könnte ich das entsprechende Verhalten aus dieser vorliegenden Aufzeichnung aussondern und mich auf Aspekte konzentrieren, die ich bislang vielleicht übersehen habe. Es ist rein physisch unmöglich, jeden
Hinweis auf eine Lüge zu verschleiern.«
Warnick schnipste mit den Fingern, und ein jüngerer Kerl, der hinter ihnen gestanden und zugehört hatte, eilte auf ein Telefon zu.
»Von Porter bekommen wir mehr«, sagte Warnick, »aber von Bishop gibt es nichts. Das da ist alles.«
Maddie biss sich in die Wange und drückte wieder auf Play. Dann zoomte sie Bishops Schläfe heran. Sie drückte wieder auf Pause. »Funktioniert so nicht …«
»Was?
«
»Manchmal kann man in den Aufzeichnungen den Puls des Verdächtigen erkennen, aber das Material ist nicht hoch genug aufgelöst. Zumindest bei Bishop wird es wohl nicht funktionieren. Er scheint seine unwillkürlichen Handlungen – die Atmung, alles andere – ungemein gut unter Kontrolle zu haben, und ich wette, sein Puls war die komplette Vernehmung hindurch stabil.«
»Verantwortlich wofür, Warnick?« Die Frage kam von Nash. Seit sie die Suite betreten hatten, war es das Erste, was er laut geäußert hatte. »Sie sagten gerade, Sie müssten wissen, wer von den beiden dafür verantwortlich
ist – was genau meinten Sie damit?«
Für einen kurzen Augenblick sah Warnick aus, als wollte er ernsthaft antworten, aber das tat er natürlich nicht. Stattdessen drehte er sich in Richtung der geschlossenen Türen. »Da lang!«
Sie folgten ihm zu der Tür links neben dem Bad. Er drehte den Knauf und stieß sie auf.
Das komplette Schlafzimmer war hell erleuchtet: die Einbau-Spots an der Decke, die Nachttischlampen, eine weitere Lampe auf einem Beistelltisch. Selbst im Ensuite-Bad brannten sämtliche Lichter. In der Mitte des Zimmers stand ein Kingsize-Himmelbett. Laken und Decke lagen unordentlich zusammengeschoben über dem Fußende. Eine Videokamera auf einem Stativ stand keinen Meter entfernt, die Linse war auf das Bett gerichtet. Überall am Boden lagen Kleidungsstücke – die eines Mannes: Anzughose und Jackett, Hemd, Krawatte, Socken, Boxershorts. Auf dem Bett breitete sich über knapp zwei Drittel der Matratze ein bräunlich roter Fleck aus.
Poole und Nash traten über die Schwelle.
Warnick stellte sich hinter sie. »Der Bürgermeister ist seit gestern Abend neun Uhr dreißig verschwunden. Und ja, das da ist Blut.«