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Tagebuch
Aus meinem Fenster sah ich, wie Tegan, Kristina und Libby davonfuhren. Welderman und Stocks waren um kurz nach elf da gewesen und wie immer draußen stehen geblieben. Welderman hatte zweimal auf die Hupe gedrückt, und Stocks war ausgestiegen, um zu rauchen. Die beiden hatten vielleicht fünf Minuten gewartet, bis die Mädchen nach draußen gekommen waren und sich auf die Rückbank gesetzt hatten. Libby hatte noch hoch zu meinem Fenster geguckt, und als sie mich dort hatte stehen sehen, hatte sie gelächelt, allerdings sah ich die Angst und Unsicherheit in ihrem Blick.
Sie sah hinreißend aus. Tegan und Kristina hatten sich gleich nach dem Abendessen an ihr zu schaffen gemacht und hinter verschlossenen Türen ein Schönheits- und Verwöhnprogramm für sie veranstaltet. Ich hatte Gekicher und nervöses Lachen gehört, geflüsterte Fragen und Antworten, die noch leiser gewispert wurden. Sie hatten sie in ein eng anliegendes, glänzend schwarzes Etwas gekleidet, das ihr an dünnen Trägerchen von den Schultern hing und vielleicht bis zur Mitte des Oberschenkels reichte. Außerdem trug sie hohe Schuhe, und an der Art und Weise, wie sie aus dem Haus zum Auto stakste, konnte ich ihr ansehen, dass das neu für sie war. Sie hielt sich fast den kompletten Weg an Kristinas Schulter fest, und jedes Mal, wenn sie ins Straucheln geriet, kicherte sie nervös. Sie hatten sie sogar geschminkt, und nicht nur im Gesicht: Sämtliche verblassenden blauen Flecken waren überschminkt worden – mit einer dünnen Schicht Puder, Creme oder was auch immer. Sie hatten ihr das Haar an einer Seite festgesteckt, während es ihr auf der anderen Seite locker über die Schulter fiel.
Tegan und Kristina hatten ebenfalls echt schöne Kleider an, die ich zuvor nie an ihnen gesehen hatte. Doch während Kristina neben Libby herlief, um sie zu stützen, ließ Tegan sich ein Stück zurückfallen, behielt die anderen beiden im Blick, und unwillkürlich fiel mir wieder ein, wie sie Libby und mich am Vorabend angestarrt hatte, als wir uns an den Händen gehalten hatten.
Einen Moment später war der Wagen mit den drei Mädchen verschwunden. Der Kloß in meinem Hals schwoll schlagartig an, sobald die Rückleuchten nicht mehr zu sehen waren.
»Die Lämmer werden zur Schlachtbank geführt«, sagte Paul leise. Er saß auf seinem Bett. In den vergangenen Tagen hatte er kaum den Mund aufgemacht. Ich wollte den alten Paul zurück. Als wir aus der Scheune zurückgekehrt waren, hatte ich ihm von dem Pick-up erzählt und dass Vincent vorhatte, ihn zu reparieren. Dass die Mädchen versprochen hatten, Geld zu beschaffen. Nichts von alledem hatte seine Laune aufgehellt.
»Ich glaub, Tegan steht auf dich«, sagte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte sagen sollen.
Paul schnaubte. »Sie steht nicht auf mich. Sie steht auf dich. Und Libby auch. Kristina ist mit Vincent zusammen. Verdammt, sogar Wiesel und Kid hätten einander, wenn die sich später mal in so eine Richtung entwickeln sollten. Und wie immer stehe ich allein da. Der kleine Paul, mal wieder mutterseelenallein. Vielleicht versuch ich’s mal bei der Finicky. Die ist doch gar nicht übel. Ich hätte gegen eine Mrs.-Robinson-Nummer nichts einzuwenden. Zumindest hat sie ein Haus – alles da, um eine ordentliche Sugar Mommy zu sein. Everyone needs a little lovin’ …«
»Darf ich deine Zeichnung sehen?«
Er schien kurz darüber nachzudenken und drehte dann seinen Zeichenblock so herum, dass ich einen Blick darauf werfen konnte. Es war Tegan. Sie war nackt und lächelte mir verführerisch entgegen. Er hatte sie an ein Seil gehängt, das von der Decke baumelte, und ihre Fußspitzen tänzelten gefährlich nahe über einem Abgrund, der aussah wie ein großer Fleischwolf. Um ein Haar hätte ich zu ihm gesagt, dass die Brüste verkehrt aussähen, dass echte Nippel kleiner seien, als er sie gemalt hatte, aber ich war mir dann doch ziemlich sicher, dass ihn das auch nicht aufheitern würde.
»Ich hab’s Menschenfresserfresser genannt.«
»Das ist … ah.« Mir schoss das Blut ins Gesicht.
Er schien es als Kompliment aufzufassen. »Soll ich Libby für dich zeichnen?«
»Äh … So?«
Er schlug ein frisches Blatt Zeichenpapier auf. »Nein, nicht so. Netter. Geschmackvoll. Aber nackt. Muss nackt sein.«
Ich dachte kurz darüber nach und schüttelte den Kopf. »Nein danke.«
»Nein danke«, wiederholte er gekünstelt. Dann legte er los, und keine Minute später konnte ich die ersten Andeutungen von Libby erkennen: nackt auf einem Bett in zerwühlten Laken, einen Finger an die Lippen gelegt, die andere Hand …
Ich streckte mich nach dem Block aus, riss die Seite heraus und zerknüllte sie. »Ich hab Nein gesagt!«
Paul hob abwehrend die Hände. »Sorry, Kumpel. Hab doch nur Spaß gemacht. War ein Scherz, tut doch keinem weh!« Er blätterte zurück zu seiner Zeichnung von Tegan, nahm den Bleistift wieder zur Hand, und ich wandte mich zur Tür.
»Wenn du damit jetzt deinen kleinen Bishop bearbeiten willst, Bishop, dann könnte ich es für dich erst noch bunt ausmalen.«
»Ich bringe das raus und verbrenne es.«
»Die Unterdrückung von künstlerischer Freiheit ist in mehreren europäischen Ländern ein Verbrechen, auf das die Todesstrafe steht.«
Anschließend sagte er noch etwas anders, aber das hörte ich schon nicht mehr, weil ich da bereits auf halber Treppe stand. Ich hätte längst unten sein können, hätte ich nicht mein Foto zwischen den Bildern der anderen entdeckt. Das hatte zuvor noch nicht dort gehangen. Es war eins der Bilder, die Paul geschossen hatte, unten im Gemeinschaftszimmer. Ich hatte ein schiefes Lächeln im Gesicht und lehnte mit dem Rücken an der Zimmerwand. Ich wollte mir einreden, dass ich selbstbewusst aussähe, aber insgeheim war mir klar, dass ich ungelenk und unsicher wirkte. Nicht gerade das beste Bild, das von mir existierte. Allerdings womöglich auch nicht das schlechteste.
Das Bild hing leicht schief, und als ich versuchte, es gerade zu rücken, fiel es von der Wand. Zum Glück war das Glas nicht gesplittert. Ich wollte es schon wieder zurückhängen, als mir ein dünner Papierstreifen auffiel, der auf der Rückseite aufgeklebt worden war und auf dem stand: 124. WM15. 1,4k.
Ich nahm ein paar andere Bilder von der Wand und fand auf der jeweiligen Rückseite ähnliche Notizen.
»Was treibst du da?«
Ich hatte sie gar nicht kommen hören. Mit einem Drink in der einen und einem zerlesenen Taschenbuch in der anderen Hand war Miss Finicky hinter mir aufgetaucht .
»Ich hab nur …«
»Häng die wieder hin. Alle! Du bist Gast in meinem Haus, und ich erwarte von dir, dass du meinen Besitz respektierst.«
»Ja, Ma’am.«
»Außerdem ist es schon spät. Du solltest längst im Bett liegen. Du brauchst deinen Schlaf.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Drink. Der schien nicht von schlechten Eltern zu sein. Was immer es war – ich konnte ihn riechen. »Morgen gehst du mit den Detectives mit, und da will ich keine Klagen zu deinem Benehmen hören.«
Mir rutschte das Herz in die Hose. Aber ich sagte nichts.