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Nash
Tag 5, 17.03 Uhr
Die Geschäftsräume von Pizza Carmine befanden sich im Erdgeschoss eines alten dreistöckigen Gebäudes in der West 26th, in einem Viertel namens Little Village. Nash ließ seinen Chevy Nova in die Parklücke halb schlittern, halb holpern und hörte, während er bereits die rot-grün-weiße Fassade musterte, noch kurz zu, wie der Motor röchelte. Mehrere Mitarbeiter verließen mit Pizza-Thermokisten beladen den Laden; einige liefen die Straße entlang, andere hielten auf Autos zu, die zwei Gebäude entfernt in einer Nebenstraße geparkt waren. Noch während Nash in seinem Wagen saß, trat ein Mann in den Sechzigern an die Tür, hielt sie für einen Angestellten auf und schlüpfte dann selbst hinein. Fünf Minuten später kam er mit einem Pizzakarton in der Hand wieder heraus. Ein Teenie-Mädchen in einem gefütterten pinkfarbenen Mantel mit Schal, Mütze und Handschuhen war die Nächste. Sie kam mit zwei Kartons und einer Plastiktüte heraus und eilte zurück zu einem Fahrzeug, in dem eine Frau am Steuer saß und wartete, allem Anschein nach die Mutter.
Von außen betrachtet wies nichts darauf hin, dass dort ein Escort-Service betrieben wurde, im Gegenteil, je länger Nash hinsah, umso hungriger wurde er. Sein Magen hatte bereits fünf Minuten zuvor angefangen zu knurren. Trotzdem
betrieben sie hier laut Sitte seit annähernd zehn Jahren ein Escort-Business.
Im selben Bericht hatte allerdings auch gestanden, dass die Pizzeria auf Yelp einen Viereinhalb-Sterne-Durchschnitt hatte.
Nun war es nichts Neues, dass man unter dem Deckmäntelchen legaler Geschäfte insgeheim auch illegalen Aktivitäten nachgehen konnte. Nash fand jedoch allein den Standort von Carmine höchst irritierend. Die Strafvollzugsbehörde des Cook County war beispielsweise nicht einmal einen Straßenzug entfernt: knapp vierhunderttausend Quadratmeter Knast, mindestens sechseinhalbtausend Insassen, dreitausendneunhundert Beamte, dazu siebentausend Zivilangestellte. Eine Ecke des riesigen Gebäudes konnte er sogar von seinem Parkplatz aus sehen. Unwillkürlich fragte er sich, wie viele Pizzas wohl täglich an diese erlauchtesten Mitbürger Chicagos geliefert wurden, und er hätte darauf gewettet, dass die Pizzas jedes Mal von einem verstohlenen Händedruck oder einem Zwinkern begleitet würden, weil kein Sex-auf-Bestellung-Lieferdienst der Welt so
weit unter dem Radar operieren konnte. Die Sitte wusste Bescheid. Auch im Gefängnis mussten sie Bescheid wissen. Aber es scherte sich anscheinend niemand darum. Da musste die Pizza aber wirklich erstklassig sein.
Nash würgte den Motor ab, stieg aus und überquerte die Straße. Fast wäre er auf dem vereisten Gehweg ausgerutscht, fing sich wieder, zog die Tür zu Carmine auf und trat ein.
Der Geruch war betörend.
Ein Teenager von vielleicht sechzehn Jahren, in einem soßenbekleckerten Carmine-T-Shirt und mit Papierhütchen auf dem Kopf, blickte vom Tresen auf. »Stück oder ganze Pizza?«
Hinter dem Tresen lag der offen einsehbare
Küchenbereich: mindestens ein halbes Dutzend Pizzaöfen, fünf Angestellte, die hin und her wuselten – Tomatensoße anrührten, Geschirr spülten, Teig kneteten. Verdammt, war Nash hungrig. Er versuchte, nicht hinzusehen.
»Ich würde gern mit dem Geschäftsführer sprechen.«
Der Junge verdrehte die Augen und rief über die Schulter: »Addie, wieder mal ein Cop für dich!«
»Wieder mal ein Cop? Kommen die Kollegen häufiger?«
Statt zu antworten, trollte der Junge sich und verschwand ohne ein weiteres Wort in die Küche.
Einen Augenblick später kam eine Mittfünfzigerin durch die Seitentür neben der Spüle. Sie trug einen weißen Pullover, schwarze Yoga-Pants und brachte mit Sicherheit einhundertfünfzig Kilo auf die Waage. Nash kam nicht umhin zu glotzen, als sie sich seitwärts drehen musste, um sich zwischen den Arbeitstischen und Öfen hindurchzuquetschen. Als sie den Tresen erreichte, sah sie Nash erst von oben bis unten an und verzog dann das Gesicht. »Was?«
»Ich bin nicht wegen der Pizza hier.«
»Totaler Quatsch. Sogar die Cops, die uns filzen kommen, nehmen eine Pizza. Kommen Sie mit.«
Sie drehte sich um und ging denselben Weg zurück.
Nash folgte ihr.
Sie führte ihn in ein kleines Arbeitszimmer, das mit Kisten und Schachteln vollgestellt war, und hieß ihn die Tür zumachen. Sowie diese ins Schloss gefallen war, ließ sie sich auf ihren Bürodrehstuhl sinken und lehnte sich zurück. »Ich hab diesem Warnick alles gesagt, was ich weiß. Er meinte schon, Sie würden trotzdem vorbeikommen. Womöglich sogar mitsamt FBI, um hier alles auf den Kopf zu stellen. Reine Zeitverschwendung – aber tun Sie, was Sie nicht lassen können. Nur räumen Sie hinter sich auf, bevor das Abendgeschäft losgeht.«
»Sie scheinen sich ja kein bisschen Sorgen zu machen.
«
Sie schnaubte. »Was sollten Sie mir schon antun? Hier ist alles legal – ich bringe Leute zusammen. Das ist auch schon alles. Was diese Erwachsenen
in ihrer gemeinsamen Zeit anstellen, ist ihre Sache, nicht meine. Ich hab inzwischen öfter vor Gericht gestanden, als ich zählen könnte, und nie hat man mir etwas nachweisen können.« Sie beugte sich über den Tisch und senkte die Stimme. »Und ganz ehrlich? Wenn Sie wüssten, wer alles auf meiner Kontaktliste steht, wüssten Sie auch, dass ich im Leben keinen Ärger bekommen werde. Ich hab Kopien meiner Kontaktliste bei Freunden im ganzen Land deponiert. Wenn mir irgendwas zustößt, dann kommen die Namen an die Öffentlichkeit, schön einer nach dem anderen. Da sehen Sie auf meinem Instagram-Account plötzlich auch keine süßen Katzenbabys mehr, sondern Politiker im Babydoll mit Gagball im Mund. Ich könnte Sie draußen mitten auf der 26th erschießen, wenn ich wollte – niemand würde mir ein Haar krümmen. Insofern … Es ist schon nach fünf. Wir müssten jetzt bitte ein bisschen Gas geben. Wonach suchen Sie?«
Vor ihrem Schreibtisch stand ein zweiter Stuhl. Nash nahm den Stapel ungeöffneter Post von der Sitzfläche und legte ihn auf der Schreibtischplatte ab. Dann setzte er sich und machte es sich bequem.
Sie runzelte die Stirn. »So sieht Gasgeben aber nicht aus.«
»Nein.«
Sie seufzte. »Hören Sie. Ich hab Warnick gesagt, dass ich Latrice geschickt hatte: blond, blaue Augen, zweiundzwanzig und nur zu gern bereit, die kleinen Spielchen des Bürgermeisters mitzuspielen. Die war schon zweimal bei ihm und wusste, worauf sie sich einließ. Für mich arbeitet sie jetzt seit drei Jahren, und ich hab ihr damals schon mit auf den Weg gegeben, womit sie rechnen soll, wenn er mal was ausprobieren will, weil diese Männer sich irgendwann
weiterentwickeln – oder zurückentwickeln, je nachdem, wie man’s sieht. Ich hab von der Sorte schon einige gesehen – und er ist weder eine Ausnahme noch eine Überraschung. Einfach bloß ein anderes Kästchen auf der Checkliste des modernen Mannes. Sie war also vorbereitet – das sind meine Mädchen immer. Sie war drei Minuten vor der vereinbarten Zeit vor Ort und ist achtunddreißig Minuten vor der Zeit wieder gefahren. Von meiner Seite aus lief alles wie geplant. Ich lasse ungern Spielraum für Überraschungen. Keine Ahnung, wer Ihr brünettes Mädchen war – von uns war es jedenfalls keine.«
»Haben Sie entsprechende Aufzeichnungen?«
»Glauben Sie ernsthaft, die würde ich Ihnen zeigen?«
Nash zuckte mit den Schultern.
Sie warf einen Blick auf einen zerkratzten Laptop, der an der Schreibtischkante lag. »Ich könnte
Ihnen nicht mal etwas zeigen. Nicht mal wenn ich wollte. Hab mir irgend so ein Computervirus eingefangen. Meine kompletten Daten sind weg. Ich warte gerade auf einen Techniker, der das wieder in Ordnung bringen soll.«
Auf seinem Handy rief Nash die Bilder der zwei Frauen auf, die Upchurch am Rechner bearbeitet hatte, und schob das Handy über den Schreibtisch. »Haben Sie eine der beiden schon mal gesehen?«
Erst sah sie nicht einmal hin. Als würde er die Frage zurücknehmen, wenn sie ihn nur lange genug anstarrte. Als sie schließlich doch einen Blick darauf warf, schüttelte sie den Kopf. »Nicht meine Mädchen.«
Als Nächstes zeigte er ihr ein Foto von Porter. »Und der hier?«
Bei Sams Anblick hielt sie kurz inne, und erst hatte Nash das Gefühl, sie könnte ihn wiedererkannt haben. Doch dann dämmerte ihm, dass sie in ihrem Leben so viele Männergesichter vor sich gehabt hatte, dass es schlicht ein
wenig länger dauerte, bis sie ihren mentalen Rolodex durchgesehen hatte.
»Keiner meiner Kunden«, sagte sie schließlich und lehnte sich wieder zurück.
Erst spülte Erleichterung über ihn hinweg, ehe ihm dämmerte, dass er befürchtet hatte, sie könnte Sam tatsächlich wiedererkennen. Und das machte ihm Sorgen: dieser kurze Moment des Zweifels. Manche Leute nannten es Bauchgefühl, andere Intuition, und Porter hatte ihm mal gesagt, er müsse dieser Stimme des Unterbewusstseins vertrauen. Es habe die Fähigkeit, Dinge schneller als das Bewusstsein in einen Zusammenhang zu bringen, und wenn er erst lerne, der Stimme wirklich zuzuhören, werde aus ihm ein guter Cop. Nash hatte erwidert, er müsse zuallererst aufhören, auf all die anderen Stimmen
in seinem Kopf zu hören. Womöglich sollte er allmählich seinen eigenen Rat befolgen.
Er wechselte das Thema. »Wann haben Sie sich das Virus eingefangen?«
Mit einem Blick auf den Laptop runzelte sie die Stirn. »Vielleicht vor einer Woche? Da schien er irgendwie dement zu werden, hat Sachen nicht mehr gespeichert. Dann sind sämtliche Dateien durcheinandergeraten, und das ist das Schlimmste – was immer ich aufrufe, selbst innerhalb bestimmter Dateien, seien es Tabellen oder Word-Dokumente: Die Daten sind komplett willkürlich durcheinandergeraten. Ich bin mir immer noch nicht sicher, wie das passieren konnte. Ich bin keine von diesen Leuten, die auf irgendeinen Link in einer E-Mail klicken oder auf nichtsnutzige Webseiten gehen. Mein EDVler sagt, das wäre bei der Software, die er mir aufgespielt hat, auch gar nicht möglich. Verdammter Stümper.«
»Ich hätte da jemanden, der sich das für Sie ansehen könnte. Soll ich den Rechner mitnehmen?«
Zum ersten Mal, seit er ihr gegenübersaß, bedachte sie
ihn mit einem Schmunzeln. »Das dürfte das Lustigste sein, was ich die ganze Woche über gehört habe.« Sie grinste breit. »Klar, Mister Cop! Nehmen Sie meinen Laptop nur mit. Machen Sie ihn wieder heile. Nur klicken Sie bitte nichts an. Da kann ich Ihnen doch vertrauen? Verpissen Sie sich, Mann!« Der Stuhl ächzte unter ihrem Gewicht. »Ich nehme an, wir sind fertig.«
»Eine Sache noch.« Nash scrollte durch die Bilder auf seinem Handy und wurde fündig. Es war eins der Polaroids aus der Schachtel aus der Suite des Bürgermeisters im Langham Hotel. Mit zwei Fingern vergrößerte er die Notiz – 203. WF15. 3k. LM
. Dann schob er das Handy erneut auf sie zu. »Sagt Ihnen das etwas?«
Sie beugte sich vor und drehte das Handy zu sich herum. Gab kein Wort von sich – zunächst. Musste sie aber auch gar nicht. Sie war schlagartig blass geworden, und für den Bruchteil einer Sekunde war ihr die Kinnlade runtergeklappt, ehe sie sich am Riemen riss und das Handy zurückschob. »Nein.«
»Jetzt gerade ist nicht der Zeitpunkt, um mich anzulügen.«
»Gehen Sie damit zu Warnick. Da mische ich mich nicht ein.«
»Weiß Warnick, was das zu bedeuten hat?«
»Sie sollten jetzt gehen.« Sie stand auf und marschierte auf die Bürotür zu. Streckte sich nach der Klinke.
»Hat Charleston etwas damit zu tun?«
Sie hielt inne. »Charleston? Nein … Ich bin mir nicht sicher, was Sie … Reden Sie mit Warnick.«
»Und das Guyon?«
Es sah aus, als wollte sie etwas abschütteln, als wäre sie verwirrt, als versuchte sie, ihre Gedanken neu zu sortieren.
Dann klopfte jemand, und Addie riss die Tür auf. Eine junge Frau, vielleicht neunzehn Jahre alt, stand in einem
grauen Cocktailkleid und roten Highheels vor der Tür. Bei Nashs Anblick runzelte sie die Stirn. »Tut mir leid, ich wusste nicht, dass Sie in einer Besprechung sind.« Dann sah sie wieder Addie an. »Ich bräuchte eine Mitfahrgelegenheit.«
Jetzt war es an Addie, die Stirn zu runzeln. »Michael soll dich fahren. Es sei denn, Detective Nash hier möchte das übernehmen. Er wollte ohnehin gerade gehen.«
Bei der Erwähnung des Detective
riss das Mädchen die Augen auf.
Nash stand auf. »Wie wär’s, ich bringe Sie in ein Frauenhaus?« Er lächelte das Mädchen aufmunternd an. Das Mädchen wich einen Schritt zurück, und wortlos stapfte er an den beiden vorbei.
Er hörte noch, wie die Frau ihm nachrief: »Das alles ist doch nicht neu, Detective, nichts von alledem. Das gibt’s seit Adam und Eva. ›Wenn ich dies und das für dich tun soll, dann lass mich von deinem Apfel abbeißen.‹ Ich selbst kümmere mich nur um die Organisation und Sicherheit. Sie sollten dankbar sein – besser, die Mädchen arbeiten für mich als auf eigene Faust draußen auf der Straße. Wir wissen beide, wie solche Geschichten ausgehen.«
Allerdings, das wusste Nash nur zu gut.
Im Vorbeigehen nahm er sich zwei Pizzastücke von einem Blech und verließ den Laden. Nicht weil er es so gewollt hätte, sondern weil er sich hierum nicht kümmern konnte. Zumindest noch nicht.