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Nash
Tag 5, 17.12 Uhr
Schwarze Schrift, Blockbuchstaben, die quer über ausgebleichte, gesprayte Fragmente verliefen. Nash sah sie zum ersten Mal, trotzdem wusste er genau, was er vor sich hatte. Irgendjemand hatte die Stücke aus der Wand eines Abbruchhauses an der 41st geschnitten – wo Special Agent Diener ermordet worden war. Anson Bishop war unterdessen im Haus gegenüber untergetaucht.
Poole hatte die Texte aus dem Gedächtnis zitiert und auf eins der Whiteboards in ihrer Einsatzzentrale geschrieben. Sie waren davon ausgegangen, dass Bishop aus unerfindlichen Gründen nicht gewollt hatte, dass sie die Texte fänden, und deshalb die Stücke aus der Wand geschnitten hatte, nachdem er Diener die Kehle durchgeschnitten hatte. In den Aufzeichnungen vom Morgen hatte Bishop behauptet, es sei Porter, der Diener auf dem Gewissen hatte – was gleichzeitig bedeutete, dass er auch die Trockenwand … rausgeschnitten … und die Stücke später hier versteckt hatte?
Aber selbst wenn Sam der Täter wäre – warum sollte er Beweisstücke in seiner eigenen Wohnung verstecken?
Die mussten hier absichtlich deponiert worden sein. Alles andere war undenkbar.
Wofür hatte Sam Upchurch bezahlt
?
Nash legte die Gipskartonstücke vor sich nebeneinander. Auf dem ersten stand:
Das zweite Gedicht lautete:
So nimm zum Beispiel Wasser und Eis
Wasser erstarrt und wird zu Eis
Eis schmilzt und wandelt sich zurück zu Wasser
Was einmal starb muß sicher wieder leben
Und was geboren ward das kehrt zurück zum Tod
Wasser
und Eis
die tuen sich nicht weh
Ins Leben
wie zum Tod
zu kehren ist beides gut!
Das dritte war noch ein wenig länger:
Alles Suchen und Streben wird nutzlos sein,
Freude durchdringt das Hier und das Jetzt.
Aus dem blauen Ozean des Todes
Fließt das Leben wie Nektar.
Im Leben ist Tod; im Tod ist Leben.
Wo soll die Angst sein, wo ist Angst
?
Die Vögel am Himmel singen: »Kein Tod, kein Tod
!«
Tag und Nacht spült die Welle der Unsterblichkeit
auf diese Erde herab.
Genau wie Poole gesagt hatte, waren mehrere Wörter unterstrichen worden
.
Wasser
Eis
Leben
Tod
heim
Angst
Tod
Irgendwann waren sie zu dem Schluss gekommen, dass sie die Bedeutung dieser Wörter erkannt hätten: Upchurch hatte seine toten Opfer im Eis deponiert; ihre erste Leiche hatten sie am Seeufer im Wasser gefunden, nachdem Upchurch das Mädchen mehrfach in einem Salzwassertank in seinem Keller ertränkt hatte. Nach allem, was sie von den beiden Überlebenden erfahren hatten, hatte er herausfinden wollen, ob sie nach dem Ertrinken irgendetwas sehen würden – oder sobald er sie wiederbelebt hatte. Poole war der Ansicht gewesen, dass nur deshalb das Wort »Tod« gleich zwei Mal unterstrichen gewesen war. Und auch die restlichen Wörter passten in ihre Theorie … außer »heim«. Das hatten sie nie zuordnen können.
Nichts von alledem erklärte indes, warum jemand (ob nun Bishop oder Porter) sich die Zeit hätte nehmen sollen, um diese Stücke aus einer graffitibeschmierten Wand zu schneiden und sie irgendwo anders zu verstecken – erst recht binnen Sekunden nachdem erst ein FBI-Agent aus dem Weg hatte geräumt werden müssen und ein zweiter bloß einen Katzensprung entfernt auf der anderen Straßenseite unterwegs gewesen war.
Irgendwas stimmte da doch nicht. Irgendwas hatten sie übersehen.
Nash machte Fotos von den Gipskartonstücken und schickte sie an Clair, Klozowski und Poole. Die hab ich bei Sam zu Hause gefunden.
Er wusste natürlich, dass sie
Fragen stellen würden, aber inzwischen fiel ihm kein Grund mehr ein, warum er den Fund vor den anderen verheimlichen sollte. Sie würden es schon richtig einordnen.
Wieder juckte ihn die Nase, er drehte den Kopf und nieste – drei Mal. Schnellfeuer. Als es vorbei war, richtete er sich auf und sah sich im Zimmer nach Taschentüchern um. Wenn Heather noch da gewesen wäre, hätte ganz sicher in jedem Raum eine Schachtel gelegen. Sam hatte sich langsam zurück in einen Junggesellen verwandelt; Taschentücher waren nirgends zu sehen. Auch in der Küche fand Nash nur eine leere Papprolle, wo Küchenpapier hätte sein müssen.
Doch selbst der nachlässigste Junggeselle kaufte Klopapier. Kurz entschlossen marschierte Nash ins Bad und knipste das Licht an.
Zunächst sah er die Leiche gar nicht. Wenn sich jemand nicht die Mühe gemacht hätte, sie erst in Plastik einzuwickeln, ehe er sie in die Wanne gelegt hatte, hätte er sie wahrscheinlich schon aus den anderen Zimmern riechen können. Das Salz verhinderte womöglich zusätzlich, dass sich Fäulnisgeruch ausbreitete – oder vielleicht war es auch nur Nashs verstopfte Nase.