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Porter
Tag 5, 17.21 Uhr
Genau wie Emory versprochen hatte, stand, als der Talbot-Enterprises-Jet auf dem Charleston Executive Airport aufsetzte, ein SUV für Porter auf der Piste bereit. Sie rollten bis auf fünfzehn Meter an das Fahrzeug heran, und ein Mann in einem Overall mit Aufschrift »Talbot Enterprises Air Service« begrüßte Porter am Fuß der Gangway und drückte ihm die Autoschlüssel in die Hand. »Der Tank ist voll, und in der Mittelkonsole liegt ein Prepaidhandy, sollten Sie telefonieren müssen. Werfen Sie es einfach weg, wenn Sie es nicht mehr brauchen.« Dann überreichte er Porter auch noch eine Visitenkarte. »Meine Nummer steht auf der Rückseite. Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas brauchen. Wir haben die Order, den Jet hier auf Abruf zu halten, damit Sie ihn jederzeit exklusiv benutzen können. Ihr Pilot bleibt vor Ort. Wir brauchen im Schnitt gut dreißig Minuten, um den Vogel für den Abflug fertig zu machen. Wenn Sie also in Eile sein sollten, versuchen Sie, mir vorab Bescheid zu geben, dann müssen Sie hier nicht warten.«
»Danke.« Porter nahm die Schlüssel entgegen, schob sich die Visitenkarte in die Tasche und ging mit seinem Rucksack zu dem SUV.
Zwischen all den übrigen Vorzügen an Bord hatte der Jet auch mit mehreren Laptops und Highspeed-Internet aufgewartet. Sowie er online gewesen war, hatte er fast im Handumdrehen gefunden, wonach er gesucht hatte. Als er sich nun auf den Fahrersitz schob, warf er noch einen Blick auf die Wegbeschreibung, die er sich notiert hatte, ließ dann den Motor an und folgte der Beschilderung in Richtung I-26. Keine dreißig Minuten später stellte er den Wagen auf dem Parkplatz des Camden Treatment Center ab.
Ein einstöckiger Flachbau mit weißer Fassade. Das Gelände machte einen überaus gepflegten Eindruck – akkurat beschnittene Bäume und Sträucher, die selbst im Winter für Farbkleckse sorgten. Nicht dass South Carolina einen ernst zu nehmenden Winter hätte wie Chicago. Er war sich ziemlich sicher, dass Schnee hier nur in Märchen vorkam. Nachdem es bereits nach fünf war und somit nach Feierabend, standen nur mehr ein paar wenige Fahrzeuge auf dem Parkplatz.
Kurz dachte er darüber nach, den Rucksack mitzunehmen, schob ihn dann aber unter den Beifahrersitz. Wenn er die Tagebücher bräuchte, würde er immer noch herkommen und sie sich holen können. Genau wie in New Orleans musste er zumindest einigermaßen aussehen wie ein Cop, und Cops hatten nun mal keinen Rucksack geschultert. Allerdings trugen sie Waffen und hatten entsprechende Ausweise. Der Revolver im Holster konnte also bleiben. Dass er keine Dienstmarke mehr besaß, war nicht zu ändern. Emory hatte sich alle Mühe gegeben, die richtige Kleidung für ihn auszuwählen, trotzdem musste er sich eingestehen, dass wirklich alles, was er am Leib trug, die finanziellen Möglichkeiten eines Staatsbediensteten seines Ranges bei Weitem überstieg. Er warf sich im Rückspiegel einen letzten Blick zu, vergewisserte sich, dass er keine Speisereste im Gesicht hatte, stieg aus und marschierte auf den Eingang zu.
Als er die Tür aufstieß, fand er sich in einer Art Lobby mit Teppichboden wieder. An den cremeweißen Wänden hingen geschmackvolle Landschaftsgemälde. Eine Frau Anfang zwanzig blickte vom Empfangscomputer auf und lächelte ihn an. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Porter schob eine seiner Metro-Visitenkarten zu ihr rüber. »Ich müsste bitte mit jemandem über einen ehemaligen Patienten von Ihnen sprechen … ist rund zwanzig Jahre her.«
»Zwanzig Jahre?«
Er nickte.
»Und der ehemalige Patient hieß …?«
»Anson Bishop.«
Der Blick der Frau verharrte kurz auf seinem Gesicht, dann griff sie zum Hörer und sprach leise hinein. Porter konnte kein Wort verstehen. Als sie auflegte, nickte sie in Richtung der Stühle im Wartebereich gegenüber. »Setzen Sie sich bitte noch ganz kurz hin, der Direktor ist in ein paar Minuten da.«
Das Letzte, was Porter wollte, war, sich irgendwohin zu setzen und zu warten. Aber er hatte keine andere Wahl. Er durchquerte den Eingangsbereich, ließ sich auf einem der schwarz-silbernen Lederstühle nieder und starrte den Stapel uralter Zeitschriften auf dem Beistelltischchen an. Was kümmerte es ihn, was die Royal Family trieb oder mit wem Jennifer Aniston liiert war. Johnny Depps Geldsorgen waren da schon ein bisschen verlockender. Aber noch ehe er sich dem Thema zuwenden konnte, hörte er eine Männerstimme durch eine Tür hinter dem Empfang. Dann ging die Tür mit einem elektronischen Surren auf, und ein Mann Ende fünfzig, Anfang sechzig schaute sich um. Sein Blick blieb an Porter hängen.
Er schien ihn kurz anzustarren. Hatte einen leicht verwirrten Ausdruck im Gesicht. Kniff die Augen hinter der Brille zusammen. Porter hatte sich vorgenommen, wann immer ihn jemand aus dem Fernsehen wiedererkannte, auf der Stelle zu verschwinden. Bevor irgendwer irgendwen alarmiert hätte, wäre er längst über alle Berge – und bis jemand vor Ort einträfe, erst recht. Er musste jetzt in Bewegung bleiben. Der Vernehmungsraum bei der Metro hatte ihn wertvolle Zeit gekostet.
Der Mann sah zurück zu der Frau am Empfang. »Wenn jemand anruft – ich bin in einer Besprechung, okay?«
Sie nickte.
Er drehte sich wieder zu Porter um. »Folgen Sie mir, Detective?«
Eine Aufforderung, verkleidet als Frage. Porter hatte über die Jahre mit einigen Seelenklempnern zu tun gehabt – wie jeder Cop im aktiven Dienst –, und dieses Talent schienen sie alle zu haben. Diese Pseudofragerei verärgerte ihn – wie sie ihn immer schon verärgert hatte. Trotzdem bedachte er den Mediziner mit einem Lächeln und folgte ihm durch eine Tür. Als er über die Schwelle auf den Flur trat, hatte er kurz nur einen einzigen Gedanken. Déjà-vu.
Das Schwesternzimmer auf der einen, das Kabuff des Sicherheitsmanns auf der anderen Seite. Dieser Flur, vielleicht fünfzehn Meter lang – Bishop hatte ihn in sämtlichen Einzelheiten beschrieben. Das Schwesternzimmer war verwaist, trotzdem sah Porter regelrecht vor sich, wie Schwester Gilman ihnen von dort aus hinterherblickte. Der Wachmann sah nur halb hoch, als sie an ihm vorbeiliefen, und wandte sich wieder den Monitoren auf seinem Schreibtisch zu – Dutzende Kameras, die von der Lobby über die Gemeinschaftsräume bis hin zu den Zimmern, die nur Patienten- oder Sprechzimmer sein konnten, jede Bewegung überwachten.
An beiden Enden des Flurs hingen Kameras – dunkle, schwarze Augen, die aus kleinen Halbkugeln unter der Decke herabstarrten. In Dr. Oglesbys Sprechzimmer hatte ich keine Kamera entdecken können, trotzdem war ich mir sicher, dass dort ebenfalls eine lauerte. Die Kamera in meinem Zimmer befand sich hinter dem Lüftungsgitter neben den Neonröhren und blickte auf mich herab. Sie gab keinerlei Geräusche von sich, aber ich konnte ihr Blinzeln spüren.
Porters Blick blieb an den Kugeln unter der Decke hängen, und er versuchte, nicht hinzustarren.
Der Arzt winkte ihn in das zweite Sprechzimmer zur Linken, bat ihn, Platz zu nehmen, und schloss die Tür, ehe er selbst sich in einem ausladenden Ledersessel Porter gegenüber niederließ. Er nahm die Brille ab, ließ sie sich auf die Brust fallen – sie baumelte an einem Silberkettchen von seinem Hals. Er trug einen Burlington-Pullover in gruseligen Rot- und Grüntönen. Missglücktes Weihnachtsmuster. Sein Haar war früher vermutlich mal kohlrabenschwarz gewesen; inzwischen war es grau meliert. »Lange nicht gesehen, Detective.«
Porter war wie vor den Kopf gestoßen. Er hatte sich Namen und Gesichter immer gut merken können, doch an diesen Mann konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. Auf dem Namensschild auf dem Schreibtisch stand Victor Whittenberg, Ph. D. Auch das sagte ihm nichts.
»Kennen wir uns?«
Was immer dem Arzt durch den Kopf schoss – er ließ sich nichts anmerken. Er lehnte sich bloß in seinem Sessel zurück und musterte Porters Gesicht. Womöglich überlegte er, ob er sich getäuscht hatte.
Seit Porter vor fünf Jahren die Jagd auf 4MK eröffnet hatte, hatte er mit Dutzenden Experten gesprochen. Schon möglich, dass Whittenberg einer davon gewesen war, vielleicht waren sie sich einmal bei einer Pressekonferenz begegnet. Bei derlei Ereignissen wurde er so vielen Leuten vorgestellt, dass er sie im Nachhinein kaum noch zuordnen konnte. Nachdem er selbst in der Regel auf dem Podium saß, hatten es die anderen da viel leichter. So war das nun mal. Oder aber es war das Gleiche wie schon so oft zuvor – der Arzt hatte Porter im Fernsehen gesehen und nur deshalb das Gefühl, ihn wiederzuerkennen.
Whittenberg ergriff als Erster das Wort. Er klang reserviert. »Vielleicht habe ich Sie auch verwechselt.«
»Gar nicht selten, bei meinem Gesicht.«
»Mag sein.« Auf seinem Schreibtisch stand ein silberfarbenes Micro-Aufnahmegerät. Er legte den Daumen auf einen roten Knopf an der Seite. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?«
Doch, Porter hatte etwas dagegen. »Wozu sollte das gut sein?«
Whittenberg nahm seine Brille zur Hand und setzte sie wieder auf. »Sie sind Polizeiermittler, und ich nehme stark an, dass Sie von mir vertrauliche Informationen zu einem oder mehreren Patienten benötigen. Womöglich hätte ich dieser Unterhaltung gar nicht zustimmen dürfen. Aber nun habe ich es getan oder habe es zumindest vor – und in diesem Fall fühle ich mich schlichtweg sicherer, wenn wir das hier dokumentieren könnten.«
Porter wusste genau, dass er an diesem Punkt nicht auf irgendein Recht würde pochen können, wenn er nicht augenblicklich rausfliegen wollte. Er hatte im Grunde keine Wahl. »Bedenken Sie nur bitte, dass dies Teil einer laufenden Ermittlung ist und Sie unsere Unterhaltung niemandem gegenüber erwähnen dürfen, weil das möglicherweise als Behinderung polizeilicher Maßnahmen ausgelegt und geahndet werden könnte. Behalten Sie das bitte im Hinterkopf.«
»Verstanden.« Whittenberg drückte den roten Knopf und rückte das Gerät zwischen sie beide.
Porter versuchte, darüber hinwegzusehen. »Ist Dr. Oglesby immer noch Teil des Teams? «
»Oglesby?«
»Ja.«
Er nahm die Brille wieder ab, ließ sie sich vom Hals baumeln. »Den Namen habe ich noch nie gehört.«
»Wie lange arbeiten Sie schon hier?«
Whittenberg musste kurz nachdenken. »Bald dreiundzwanzig Jahre.«
Porter ertappte sich dabei, wie er den Pullover des Mannes regelrecht studierte – das Burlington-Muster, das sich vor seinen Augen in ein völlig chaotisches Durcheinander aufzulösen schien. »Er müsste in den späten Neunzigern hier gearbeitet haben, also vor gerade mal zehn, fünfzehn Jahren.«
»Ich … Ich bin mir sicher, da wären wir uns begegnet. Diese Einrichtung ist nicht sehr groß. Trotzdem sagt mir der Name rein gar nichts. Sicher, dass er hier im Camden gearbeitet hat?«
»Zu einhundert Prozent. Er war der behandelnde Arzt von Anson Bishop.«
»Verstehe.«
Porter war frustriert. Diese formelhaften, nichtssagenden Antworten. »Hätten Sie Bishops Akte noch hier? Vielleicht fangen wir damit an.«
»Detective, ich finde Ihr Verhalten irritierend.«
Porter fragte sich, wie der gute Mann es wohl finden würde, wenn er jetzt über den Schreibtisch griffe, ihn bei diesem abscheulichen Pulli packte und beiseitestieße, um sich dann durch die Aktenschränke zu wühlen. Er atmete tief durch, um wieder zur Ruhe zu kommen. »Tut mir leid. Ich bin übernächtigt. Solche Ermittlungen zehren einem an den Nerven. Wollen wir vielleicht mal schauen, was in Bishops Akte steht, und sehen dann weiter?«
Eine Aussage in Form einer Frage.
Nimm das, du Lump .
Der Mediziner warf einen Blick auf sein Diktiergerät, vergewisserte sich, dass es noch lief, und stand auf. »Eine Sekunde bitte.«
Dann ließ er Porter mehrere Minuten lang im Sprechzimmer allein. Als er wiederkam, hielt er zwei Akten in der Hand – eine dicke und eine dünne. Er setzte sich auf seinen Schreibtischsessel und schob beide Mappen auf Porter zu.
Porter zog sie zu sich heran und starrte auf die Namen hinab, die ordentlich getippt auf dem Reiter standen. Die dünnere Mappe war mit Bishop, Anson beschriftet. Die Beschriftung der zweiten, der dickeren Akte, sorgte dafür, dass sich sein Herz so heftig zusammenkrampfte, dass man es ihm ansehen musste. Er blickte sein Gegenüber an. »Was soll das?«
»Erklären Sie es mir.«
Auf der dicken Akte stand Porter, Samuel.