75
Tagebuch
Libby und ich spähten dicht aneinandergedrängt aus meinem Fenster, als Welderman und Stocks draußen vorfuhren. Es war kurz nach neun Uhr, die Sonne war längst untergegangen, und der Mond war auch nicht wirklich zu sehen; der Himmel war schwarz wie Öl.
»Siehst du ihn?«
Ich reckte den Hals, und sie zog mich wieder nach unten.
»Nicht …«
In meinem Zimmer brannte kein Licht, deshalb konnte mich von draußen niemand erkennen, trotzdem ging ich wieder in Deckung. Dann hob ich den Kopf gerade so weit, dass ich Finickys Camry links hinter Weldermans Auto erspähen konnte. Erst sah ich ihn nicht – doch dann schob sich die lange schwarze Gestalt unter dem einen Wagen hervor und kauerte sich vor die Beifahrertür.
»Da ist er!« Ich zeigte in die entsprechende Richtung.
Libby hatte ihn ebenfalls gesehen, das war an ihrer verkrampften Haltung deutlich zu spüren. »Gott, ich hoffe, er kriegt das hin …«
»Wird er«, sagte ich mit aller Überzeugungskraft, die ich aufbringen konnte, auch wenn ich mir nicht annähernd sicher war. Libby hatte einen Spitzenplan ausgeheckt, allerdings bestand die Gleichung aus so vielen Unbekannten, dass der Ausgang vollkommen ungewiss war.
Finicky brüllte etwas herauf, und einen Augenblick
später hörte ich die Schritte von Wiesel und Kid auf der Treppe. Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, wohin sie gleich unterwegs wären und was ihnen bevorstehen könnte. Es gab einfach viel zu viele Bernies auf dieser Welt, und nicht annähernd genügend lagen draußen auf dem Feld begraben. Tegan hatte erwähnt, dass es diesmal wohl nur um Fotos gehen sollte, und auch wenn das allein schon übel war – es wäre noch sehr viel schlimmer gegangen.
Draußen robbte Vincent zwischen den beiden Wagen auf Weldermans Kofferraum zu: quälend langsam und so dicht am Boden, wie er nur konnte. Welderman selbst saß nach wie vor am Steuer. Stocks stand wie immer an der offenen Beifahrertür und rauchte eine Zigarette. Inzwischen hatte Vincent den hinteren linken Reifen erreicht, schraubte die Ventilkappe ab und ließ Luft raus.
»Das hat er doch bestimmt schon mal gemacht«, stellte ich tonlos fest.
»Vincent hat schon eine Menge Sachen gemacht«, pflichtete Libby mir bei. »Der soll sich beeilen!«
Ich hoffte inständig, dass er nicht zu viel Luft rausließe. Es sollte gerade so viel sein, dass sie immer noch fahren konnten, aber der Wagen nicht mehr stabil auf der Straße lag. In unserer Vorstellung würden sie vielleicht die halbe Strecke in die Stadt schaffen, bis der Asphalt den Reifen zerfressen hätte. Libby hatte gesagt, dass alles gut gehen würde – solange die nur aus der Auffahrt hinauskämen. Und da die Auffahrt geschottert und uneben war, würden sie den Platten wahrscheinlich nicht einmal bemerken, bis sie auf einer ordentlichen Straße wären – aber selbst da dürfte Welderman munter ein ganzes Stück fahren, ehe ihm dämmerte, dass etwas nicht stimmte, wenn überhaupt.
Ich hörte, wie Kristina im Erdgeschoss irgendetwas zu Finicky sagte. Die zwei Jungs keiften einander in einer inszenierten Streiterei an
.
»Kristina wird sie nicht ewig hinhalten können«, murmelte Libby. »Vincent soll sich beeilen!«
Nun war dies leider nichts, was man hätte beschleunigen können. Wenn sie nach draußen ginge, bevor Vincent fertig wäre, würde Finicky ihn zwischen den Fahrzeugen entdecken – mit der Ventilkappe in der Hand und einem dämlichen Ausdruck im Gesicht. Finickys Camry war vom Hauseingang her kein hinreichender Sichtschutz.
Libby und ich hörten beide, wie erst die Haustür aufging, dann die Fliegengittertür.
»Oh nein …«
Der Griff um meine Hand wurde fester.
Allerdings schien auch Vincent es gehört zu haben. Binnen einer Sekunde hatte er die Ventilkappe draufgedreht und schlüpfte wieder unter den Camry. Stocks hob den Kopf, und die Zigarette glühte gerade so hell, dass sein Gesicht kurz zu erkennen war. Vincent schob sich ein Stückchen tiefer unter den Wagen, während Stocks ein paar Schritte in seine Richtung machte, dann aber stehen blieb.
Vor der Haustür ging das Verandalicht an, und Wiesel und Kid liefen auf den Wagen zu. Tegans Kamera baumelte um Wiesels Hals. Welderman stieg gerade lange genug aus, um die hintere Tür für die beiden aufzuhalten und ein paar Worte mit Finicky zu wechseln. Dann setzte er sich auch schon wieder ans Steuer. Stocks ließ die Zigarette fallen, trat sie aus und stieg ebenfalls ein. Einen Augenblick später waren sie unterwegs die Auffahrt hinunter – mit leichter Schlagseite.
»Wer hat den Umschlag?«
»Kid«, flüsterte Libby.
Der Umschlag enthielt eine Liste der Ersatzteile, die wir noch brauchten, fünfhundert Dollar sowie ein Briefchen, das Kid jemandem in dem Ersatzteileladen zustecken sollte und in dem stand, dass diese und jene Teile bitte geliefert
werden sollten – und dass für die Extramühe weitere fünfhundert Dollar in Aussicht stünden. Darunter stand Finickys Adresse und die Anweisung, die Sachen direkt in der Scheune abzuladen. Außerdem steckte ein halbwegs provokantes Bild von Tegan in dem Umschlag. Das war Pauls Idee gewesen: »Jeder Mann, der noch einen Puls hat, wird glauben, dass Tegan dort in der einsamen Scheune sitzt und nur auf ihn wartet – da kann keiner mehr widerstehen.«
Libby seufzte. »Wenn sie die Tankstelle ansteuern statt den Ersatzteileladen, sind wir geliefert.«
»Die Werkstatt hat um diese Uhrzeit geschlossen, und ich hab Wiesel erklärt, wie er die Luft aus dem Vorderreifen rauslassen kann. Sie werden zum Ersatzteileladen fahren müssen, sie haben gar keine andere Wahl.«
»Vielleicht haben sie ja einen Ersatzreifen dabei, oder der Typ im Transporter hilft ihnen … Eine Million Sachen können schiefgehen …«
Sie hatte recht. Es konnten wirklich eine Million Sachen schiefgehen. »Der Typ im Transporter hat eine andere Aufgabe, der wird nicht helfen können. Und ich glaube auch nicht, dass Welderman jemand ist, der freiwillig um Hilfe bittet. Aber selbst wenn – wen sollte er anrufen? Da müsste er erklären, warum zwei Kinder auf seinem Rücksitz sitzen. Vincent meint, das Ersatzrad in einem Malibu ist wahrscheinlich so ein kleiner Gummireifen, und ich bezweifle, dass er damit lange herumfahren will. Die werden das noch heute Abend reparieren wollen.«
»Und was, wenn sie Wiesel und Kid erst ins Motel fahren und dann erst zum Laden?«
»Wenn es nicht funktioniert, probieren wir eben was anderes aus.«
»Wir sollten einfach Miss Finickys Auto klauen, wie Tegan es vorgeschlagen hat.
«
Darüber hatten wir diskutiert. Eine ganze Weile, zugegebenermaßen. Aber es hätte nicht funktioniert. »Das ist zu klein, da passen wir nicht alle rein. Außerdem würden sie es als gestohlen melden und uns wieder einfangen. Wir müssen alle auf einmal verschwinden – oder wir kommen hier niemals weg. So lautet der Plan. Den Pick-up kennen sie nicht. Wir haben genau diese eine Möglichkeit, weil sie da nicht wissen, wonach sie suchen müssen.«
»Vielleicht sollten wir einfach abhauen, nur wir beide. Mich würde nicht wundern, wenn Vincent und Kristina das Gleiche vorhätten.«
Wie gern ich genau das getan hätte. Und rückschauend wünschte ich mir umso mehr, ich hätte in diesem Augenblick Ja gesagt. Wie sehr wünschte ich mir, ich hätte sie einfach an der Hand genommen – genau in diesem Moment – und einen Fluchtweg aus dem Haus gefunden. Wir wären mit einer Tasche voller Geld aus der Scheune in die Nacht verschwunden, nur sie und ich. Ich weiß auch nicht, warum ich gezögert habe. Vielleicht aus den gleichen Gründen, warum auch sie zögerte. Wir hatten uns geschworen, dass wir alle zusammen abhauen würden. Kid und Wiesel waren noch zu klein, um es allein zu schaffen. Das waren wir alle. Wir brauchten einander. »Weißt du noch, als ich dir erzählt habe, wo ich aufgewachsen bin?«
Libby nickte. »In dem Haus am See in Simpsonville.«
»Wenn wir uns verlieren sollten, will ich, dass wir uns dort treffen.« Ich bläute ihr die Adresse ein und ließ sie sie mehrmals wiederholen. »Irgendwie komme ich dorthin, und dann warte ich auf dich.«
Statt zu antworten, lächelte sie.
Dieses Lächeln mochte ich von Tag zu Tag mehr.
Mein Bein drohte einzuschlafen, und als ich mein Gewicht verlagerte, schossen mir Schmerzen den Arm hinauf. Dafür war allerdings nicht wirklich viel nötig, obwohl ich
Schmerztabletten gefuttert hatte wie Bonbons. Finicky weigerte sich, mir etwas Stärkeres zu geben. Libby musste es bemerkt haben, weil sie mir übers Haar strich.
»Geht’s wieder?«
»So halbwegs«, flunkerte ich. Mein Herz pochte wie wild, wann immer sie mich berührte. Auch das musste sie bemerkt haben. Mädchen haben dafür einen angeborenen Instinkt – oder bringt ihnen das irgendein älteres, erfahreneres Mädchen bei? Jedenfalls hatte sie ein Baumwollkleid an, das wohl ein, zwei Nummern zu klein für sie war; der Saum lag ein Stück zu weit oben auf ihrem Oberschenkel auf. Trotzdem machte sie keine Anstalten, ihn runterzuziehen, auch nicht, als sie mich dabei ertappte, wie ich darauf hinabstarrte. Ich bin mir nicht einmal sicher, wessen Gesicht röter anlief: ihres oder meines.
»Wenn ich dir etwas zeige, versprichst du mir, dass du niemandem davon erzählst?«
Ich nickte.
Sie zog mich den Flur entlang zu ihrem Zimmer und schob behutsam die Tür hinter uns zu.