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Tagebuch
Als ich gerade erst im Finicky-Heim eingezogen war, war mir eingebläut worden, dass hier strikte Regeln herrschten. Keine Jungs in Mädchenzimmern, keine Mädchen in Jungszimmern – und noch zig andere Regeln, die alle auf einmal runtergerattert worden waren. Trotzdem verbrachte Kristina immer wieder die Nacht in Vincents Zimmer, und Paul hätte wer weiß was geopfert, wenn er sich auch nur für fünf Minuten mit Tegan allein hinter verschlossenen Türen hätte aufhalten dürfen. (Ich hatte keinen Schimmer, wo Paul sich in diesem Augenblick aufhielt, war mir aber ziemlich sicher, dass er nicht in Tegans Zimmer war.) Nicht ein einziges Mal war Finicky hochgekommen und hatte nachgesehen, ob wir auch brav in unseren Zimmern waren. Allerdings hielt mich das nicht davon ab, nervös zu werden oder immer wieder einen Blick auf Libbys Zimmertür zu werfen. Wenn man den Gerüchten glauben wollte, war Finicky derzeit in ihrem Zimmer und hatte irgendeine Pille oder auch mehrere geschluckt, um wegzudämmern. Ich hoffte inständig, dass es so wäre.
Libby hängte eine Bluse über die Ecklampe, um das Licht zu dimmen, und bedeutete mir mit einer Geste, mich vor ihrem Bett auf den Boden zu setzen. Sie selbst trat an ihren Schrank und wühlte im obersten Schrankfach.
Niemand von uns war mit sehr viel Gepäck hier gelandet, die meisten mit nur einer Tasche. Trotzdem hatte ich mitbekommen, dass sie alle sich Zeit genommen hatten, um ihre Sachen auszupacken und damit einen winzigen Privatbereich zu beanspruchen. Alle außer mir. Ich hatte einfach aus der grünen Sporttasche gelebt, die sie im Camden für mich gepackt hatten, bis die Tasche leer gewesen war. Erst als die Wäsche aus der Waschküche zurückgekommen war, hatte ich sie, statt sie wieder in die grüne Tasche zu werfen, in die beiden Schubfächer und in das Schrankfach gelegt, die mir zugewiesen worden waren.
Libby fand, wonach sie gesucht hatte, und setzte sich neben mich. Ein Buch.
»Emily Dickinson: Sämtliche Gedichte «, las ich vor und fuhr mit dem Finger über die geprägten Buchstaben auf dem Buchdeckel.
»Magst du Gedichte?«
Gedichte hatte ich nie gelesen. Grundsätzlich war ich ein eifriger Leser (hauptsächlich von Comics), aber Gedichte hatten nie auf meiner Liste gestanden. »Klar«, sagte ich trotzdem, einfach weil sie so schön war, und wenn sie gefragt hätte, ob ich rohe Kröten möge, hätte ich auch da nachdrücklich genickt und gesagt, was sie von mir hätte hören wollen.
»Dickinson ist fantastisch. Ihre Wörter fließen nur so – wie Wasser. Es ist irgendwie, ich weiß auch nicht, als wüsste sie ganz genau, welche zwei Wörter zusammengehören. Als würdest du eine Handvoll Wörter nehmen und sie durcheinandermischen, und sie wüsste genau, wie man sie zusammenfügen muss.«
»Wie bei einem Puzzle?«
Sie nickte. »Ganz genau, wie bei einem großen Wörterpuzzle.«
»Darf ich mal?«
Sie überließ mir das Buch, und ich blätterte ein wenig hin und her. An vielen Seiten war eine Ecke umgeknickt, und jede markierte Seite enthielt einige markierte Verse. Ich schlug wahllos eine Seite in der Mitte auf und fing leise an zu lesen: »›Der Tod, da ich nicht halten konnt, hielt an, war gern bereit. Im Fuhrwerk saß nun er und ich und die Unendlichkeit.‹« Für einen Moment schwieg ich. »Wie kann der Tod anhalten
»Dickinson will damit zwei Sachen sagen: Zum einen ist bei ihr der Tod eine Person oder ein Wesen, das für sie stehen bleibt und auf sie wartet. Zum anderen hat sie, so wie sie es schreibt, selbst keinen Einfluss darauf, wann der Tod sie holt. Sie könnte versuchen, ihm zu entkommen, trotzdem holt er sie in seinem Fuhrwerk ein und nimmt sie mit – genau wie jeden anderen von uns auch. Der Tod kommt uns holen, ob wir nun wollen oder nicht. Wir können uns nicht vor ihm verstecken.«
»Ich glaube, wenn er mit seinem Fuhrwerk käme, dann würde ich zumindest versuchen zu entwischen«, erwiderte ich. Dann fuhr ich mit dem Finger über die Seite – und bei dem Schmerz, der mir durch den Arm schoss, winselte ich leicht.
Libby strich mir hauchzart über Handrücken und Gips. »Als ich mir den Arm gebrochen hatte, konnte ich ihn fast einen Monat lang kein bisschen benutzen. Ich musste alles mit der anderen Hand machen. Vielleicht versuchst du das auch – ich weiß, es ist schwer, aber der Bruch heilt schneller, wenn du den Arm nicht ständig belastest.«
»Was ist denn eine Stola?« Das Wort stand ein paar Zeilen weiter im selben Gedicht – Hauchzart mein Kleid, die Stola darüber aus Spitze … »Stola aus Spitze?«
Libby gluckste.
»Was ist denn so lustig?«
»Du. Das ist so ein tiefsinniges Gedicht, und du machst dir Gedanken, was aus welchem Stoff ist.«
»Sag schon. «
Libby dachte kurz darüber nach. »Wenn ich es dir vorführe, versprichst du mir, dass du dich benimmst?«
Ich nickte ernst.
Libby stand auf und tat etwas, was aus dem ohnehin schon aufgeregten Pochen meines Herzens Hammerschläge machte: Sie knöpfte ihr Kleid auf und ließ es zu Boden fallen, stieg aus dem Häuflein Stoff und machte einen Schritt auf mich zu. »Das hier an meinem BH und am Höschen … Das ist Spitze.«
Mir stockte der Atem, und bevor ich mich am Riemen reißen konnte, stieß ich ein ersticktes Keuchen aus.
Ihr BH und das Höschen bestanden aus hauchdünnem gerüschtem Gewebe, das beinahe durchsichtig war. Mir war klar, dass ich nicht so hätte glotzen dürfen, aber ich konnte einfach nicht anders. Mein Blick strich über die Rundung ihrer Schulter bis zu ihren Brüsten, zu den Brustwarzen, die sich unter dem BH abzeichneten und fast sichtbar waren – und irgendwie doch wieder nicht. Dann wanderte mein Blick weiter über ihren flachen Bauch. An der linken Hüfte hatte sie einen blassen blauen Fleck, und sie musste bemerkt haben, dass ich ihn bemerkt hatte, weil sie sofort beschämt die Hand an ihrer Taille hinabgleiten und über dem blauen Fleck ruhen ließ. Dabei krümmte sich der Zeigefinger über dem Saum ihres Höschens und hatte es kaum merklich ein Stückchen hinuntergeschoben – und das reichte, um mich vollends von dem blauen Fleck abzulenken.
Auch wenn Libby rot geworden war, hatte sie ein freches Grinsen im Gesicht. »Das hat Tegan für mich ausgesucht. Sie sagt, mein Hintern sieht darin gut aus. Das ist ein Tanga – so was hatte ich noch nie getragen. Am Anfang war es ein bisschen unbequem, aber man gewöhnt sich daran. Sie sagt, die sind am allerbesten, wenn sich der Slip nicht unter dem Kleid abzeichnen soll. «
Langsam drehte sie sich um die eigene Achse, und genau so drehte sich alles bei mir – und unwillkürlich sah ich Mrs. Carter am See vor mir, die nackt ins kalte Wasser gewatet war, um sich abzukühlen. Mrs. Carter, die mit Mutter im Bett gelegen hatte. Mutter, die sie vor dem Spiegel ausgezogen hatte. Das Foto der beiden, wie sie mit ineinander verschlungenen Gliedmaßen im zerwühlten Bett lagen. Das Foto, das ich mir immer noch von Dr. Oglesby zurückholen musste – oder wer immer es mittlerweile in seinem Besitz hatte. Ich musste an Tegan denken, die quasi nackt von der Toilette gekommen war – all diese Gedanken strömten auf einmal auf mich ein, und dann war ich wieder bei Libby, der süßen Libby, die mich anlächelte, während sie ihre langsame Pirouette beendete und spielerisch die Finger unter den Saum ihres Höschens schob. Dann kniete sie sich vor mich hin, rückte näher, streckte die Hände aus und griff nach den Fingern meiner linken Hand. Sie presste ihre Fingerkuppen auf meine und zog mich näher an sich heran. »Spitze fühlt sich ganz wunderbar an.« Sie legte sich meine Hand an die Brust und schob meine Finger auf dem Stoff leicht hin und her. Ihre Wärme raubte mir den Verstand. Ich hatte am ganzen Leib Gänsehaut. Ihre Brustwarze drückte sich mir in die Handfläche, und dann schloss sie die Augen. Wir atmeten beide schwer. Ich bekam nicht einmal mehr mit, wie sie mit der freien Hand nach hinten griff und den BH aufhakte. In einem Moment war er noch da gewesen, hatte mich von ihr getrennt, doch im nächsten Moment war er verschwunden, und es fühlte sich an, als würden wir miteinander verschmelzen. Das Bedürfnis, jeden Zentimeter ihrer Haut zu berühren, sie zu schmecken – Gefühle, die ich nie zuvor im Leben gehabt hatte, brandeten mit Wucht über mich hinweg. Sie legte mir für einen kurzen Moment die Hände an die Wangen, dann näherten sich ihre Lippen, und sie küsste mich. Ihr Haar streifte meine Wangen, den Hals, und ehe ich michs versah, erwiderte ich ihren Kuss. Fünf Minuten lang. Zehn. Keine Ahnung. Ich verlor jedes Gefühl für die Zeit.
»Ich sollte mich benehmen«, keuchte ich irgendwann, obwohl ich kaum noch Luft bekam.
»Ich hab’s mir anders überlegt. Das machen Mädchen manchmal.«
Libby griff nach unten und nestelte an meinem Gürtel, knöpfte meine Hose auf, und dann strich ihr Mund, ihr warmer Atem über mein Ohr. »Hast du schon mal …?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Okay.«