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Tagebuch
»Wo ist Kid?«, fragte ich, weil sich sonst niemand traute oder fragen wollte.
Welderman verstärkte den Griff um Wiesels Schulter, und Wiesel jaulte auf, versuchte, ihn abzuschütteln, was Welderman nur umso mehr zu provozieren schien, weil er jetzt Wiesel den Daumen unters Schulterblatt schob, während er mich gleichzeitig böse anfunkelte. Mit der freien Hand griff er in seine Hosentasche und zog das Briefchen heraus, das wir Kid mitgegeben hatten.
»War das deine Idee? Macht ihr verdammt noch mal Witze?« Er ließ Wiesel los und machte einen langen Schritt auf mich zu. »Weißt du überhaupt, dass du mit deinem gebrochenen Arm für uns quasi nichts mehr wert bist? Ganz ehrlich? Ich hack dich lieber in Stücke und verscharr dich auf dem Acker, als mich mit so einem Scheißdreck zu beschäftigen!«
Ich spürte, wie sich Libbys Hand in meine schob, zog meine Hand aber weg. Ich wollte nicht riskieren, dass Welderman es sah. Er hatte es wirklich nicht gesehen – im Gegensatz zu Miss Finicky, die uns beobachtete, was mir aber entgangen war. Ich wollte, ich hätte sie gesehen. Wie sehr wünschte ich mir, dass ich auf sie geachtet hätte.
»Ja«, antwortete ich. »Das war meine Idee.«
Weldermans Augen sahen aus, als würden sie jeden Moment aus den Höhlen platzen. »Erst diese Szene im Motel, und jetzt das? Nenn mir einen Grund, warum ich dir nicht eine Kugel in den Kopf jagen sollte.«
Ich gab keine Antwort, weil ich keine hatte. Ich hätte mich erschossen. Vater hätte mich erschossen. Mutter hätte mich ganz sicher erschossen. Ich stellte ein Problem dar, und Welderman wusste das. Keine Ahnung, was ihn noch daran hinderte.
»Bring den kleinen Scheißer rein«, brüllte er über die Schulter.
Ich hatte Stocks erwartet. Aber es war der Mann aus dem Transporter vor dem Motel. Halb trug, halb schleifte er Kid am Hemdkragen herein. Der Stoff war zerrissen und mit Blutflecken übersät. Kids Gesicht wies ein Dutzend Schattierungen von Rot, Lila und Schwarz auf, dicke Blutkrusten waren auf der Haut erstarrt. Sein linkes Auge war zugeschwollen, und seine Nase saß nicht mehr mittig über dem Mund, sondern wies zur Seite.
Wir alle schnappten nach Luft – am lautesten Tegan.
Wiesel stürzte auf seinen Freund zu, während Transportermann Kid zu Boden fallen ließ wie einen Müllsack.
Kid sackte regelrecht in sich zusammen. Seine Beine hatten ihn nicht mehr halten können. Er versuchte noch, den Sturz mit der rechten Hand abzufedern, aber es war eher ein schlaffes Wischen: Der Arm, die Hand, die Finger – sie fielen wie totes Fleisch nach unten, und für einen Moment glaubte ich wirklich, Kid wäre tot. Aber er röchelte, immerhin. Ein unfokussierter Blick in die Runde aus seinem unverletzten Auge; dann schlossen sich die Lider.
Dann kam Stocks, schleifte eine grüne Tasche hinter sich her, sah sich kurz um und wandte sich an Welderman und Transportermann. »Der Pick-up steht in der Scheune. Sieht ganz so aus, als hätten die schon eine Weile daran gearbeitet. Er läuft nicht, aber es fehlt nicht viel. Daraus wird jetzt nichts mehr – aber verdammt, das war knapp!« Er hielt die Tasche hoch. »Das Geld haben sie auch gefunden. Das hier lag auf dem Vordersitz.«
Welderman blickte zu Finicky. »Wie konnte das passieren, verdammt? Sie sollten sie im Blick behalten! Nicht mehr und nicht weniger. Ein einziger, simpler Job – und diese Scheißer haben Zeit genug, unter Ihrer Aufsicht eine alte Rostlaube wieder fitzumachen? Verdammte Junkie-Braut!«
Finicky wollte schon etwas erwidern, doch Welderman hob die Hand. »Die Schlüssel. Niemand verlässt dieses Haus bis zum Guyon, kapiert? Nicht Sie, nicht die Kinder, niemand.«
Sie lief dunkelrot an. »Muss ich Sie daran erinnern, dass Sie schleunigst zurück und die Kunden entschädigen müssen? Die sind immer noch da.«
»Scheiße!« Er stampfte quer durch den Raum und fluchte in sich hinein. »Das kann ich gerade alles nicht brauchen.«
»Was bedeutet Guyon?«
Die Frage war von Wiesel gekommen. Eins der wenigen Male, die ich ihn hatte sprechen hören. Seine Stimme klang, verglichen mit der von Welderman, unendlich dünn.
»Geht dich einen Dreck an, was Guyon bedeutet!«, blaffte Welderman, der inzwischen hochrot im Gesicht war und Spucke in den Mundwinkeln hatte. Er sah aus, als würde er Wiesel gleich einen Tritt verpassen oder Schlimmeres. Stattdessen griff er sich Tegans Kamera vom Beistelltisch und stopfte sie in die grüne Tasche. Dann drückte er sie Transportermann in die Arme und nickte in Wiesels Richtung. »Bring den zurück. Erzähl ihnen, der ist die Gratiszugabe. Drück ihnen Geld in die Hand und beschwichtige sie – und dann kommst du zurück hierher. Ohne Umwege. Kapiert?«
Transportermann nickte, packte Wiesel am Kragen und zerrte ihn ins Freie.
Als sie weg waren, kickte Welderman Kid mit der Stiefelspitze in die Rippen und drehte sich wieder zu Stocks um. » Schau dir sein Gesicht an. Was zur Hölle ist eigentlich los mit dir? Die Einbußen zieh ich von deinem Anteil ab.«
Stocks wollte schon protestieren, sagte aber nichts.
»Können wir Kid nach oben bringen?«, fragte ich Welderman. »Wir haben verstanden – wir tun wirklich nichts mehr. Wir hätten es gleich wissen müssen. Wir haben es alle kapiert.«
Welderman kehrte Stocks den Rücken und sah uns der Reihe nach wütend an. »Ja, bringt ihn weg. Ich will heute keinen von euch mehr sehen.«
Ich ging in die Hocke und versuchte, Kid hochzuhelfen, aber mit meinem gebrochenen Arm konnte ich ihn nicht richtig packen. Vincent kauerte sich neben mich und schob beide Arme unter Kid. Der gab keinen Mucks von sich, als Vincent ihn aus dem Zimmer in Richtung Treppe trug. Tegan und Kristina sprangen aus ihrem Sessel und eilten ihm nach, wir anderen folgten.
Oben legte Vincent Kid aufs Bett und ließ den Kopf vorsichtig auf das Kissen gleiten. Libby kam mit Waschlappen und einer Wasserschüssel, wischte ihm sacht das Blut aus dem Gesicht und versuchte dabei, die gebrochene Nase nicht zu berühren. Ich zog Kid die Sachen aus und legte sie in der Zimmerecke zusammen. Paul sah uns von der Tür aus zu; hinter ihm standen Tegan und Kristina.
»Die bringen uns alle um«, sagte Tegan leise.
»Die bringen uns nicht um. Die verkaufen uns«, entgegnete Vincent. »Genau das bedeutet Guyon.«
Transportermann musste Wiesel in den Transporter gesperrt haben, weil er allein wieder im Erdgeschoss aufgetaucht war und lautstark mit den anderen diskutierte. Zwei Kinder weniger; das war anscheinend alles, was ihnen Kopfzerbrechen bereitete.
Was als Nächstes passierte, hörten wir alle. Motorenlärm auf der Auffahrt. Reifen, unter denen der Schotter knirschte .
Paul war als Erstes am Fenster. »Das ist ein Cop!«
Er hatte es kaum ausgesprochen, als Stocks auch schon die Treppe hochgerannt kam und ins Zimmer platzte. Er fuchtelte mit seiner Knarre herum. »Weg vom Fester! Sofort!«
Paul wich zurück.
Trotzdem hatte ich etwas gesehen. Einen schwarz-weißen Streifenwagen, der hinter dem weißen Transporter gehalten hatte. Ausgestiegen war allerdings niemand. Noch nicht.
Die Fliegengittertür ging quietschend auf und wurde zugeschmettert. Transportermann tauchte vor der Tür auf. Er marschierte quer über die Auffahrt auf die Streife zu. Als an der Fahrertür das Fenster aufging, beugte er sich vor und sprach mit dem Fahrer.
»Niemand macht auch nur einen Mucks«, sagte Stocks. Er hatte die Waffe auf Libby gerichtet, die wiederum mich nicht aus den Augen ließ.
»Wer ist das?«, fragte ich Stocks.
»Halt’s Maul!«
»Sie kennen ihn, oder?«
»Halt’s Maul, hab ich gesagt!«
»Stecken Sie von der Polizei da alle mit drin?«
Stocks nahm die Waffe hoch, wollte sie mir wohl über den Schädel schmettern, tat es aber nicht. Zwei Kinder weniger. Ich glaube nicht, dass er gern herausgefunden hätte, was passiert wäre, wenn er mich schwerer verletzt hätte, als ich es ohnehin schon war.
Draußen sprach Transportermann immer noch mit dem Fahrer der Streife. Ich konnte die vage Kontur seines Kopfs hinter dem Lenkrad sehen, allerdings war er zu weit weg, und es war zu dunkel, als dass ich sein Gesicht hätte erkennen können. Transportermann gestikulierte mehrmals in Richtung Haus. Sie unterhielten sich fast volle fünf Minuten lang, ehe Transportermann sich wieder aufrichtete, zweimal kurz auf das Dach der Streife klopfte und zu seinem Transporter zurückschlenderte. Als die Streife anfuhr und rückwärts aus der Auffahrt rollte, fuhr der weiße Transporter hinterher.
»Ist Wiesel immer noch da drin?«, wollte Tegan wissen.
Niemand antwortete. Wir wussten alle, dass er noch drin war.
Stocks wartete, bis die Rückleuchten nicht mehr zu sehen waren, ehe er wieder das Wort ergriff: »Die Mädchen gehen ins Zimmer gegenüber, die Jungs bleiben hier. Ihr bleibt unter meiner Aufsicht.«
Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass Vincent den Schraubenschlüssel aus dem Hosenbund gezogen, und auch nicht, wie er ihn nach oben gerissen hatte. Erst als der harte Stahl mit einem widerwärtigen Knirschen in Stocks’ Hinterkopf krachte, dämmerte mir, was gerade passierte. Stocks verdrehte die Augen und ging mit einem eindeutig zu lauten dumpfen Schlag zu Boden.
»Stocks? Alles in Ordnung da oben?«
Welderman von unten.
Wir starrten alle den Mann am Boden an, der unverkennbar tot war.