87
Clai
r
Tag 6, 2.38 Uhr
Wieder Stöhnen.
Clair hatte im Halbschlaf dagelegen, als sie den Bürgermeister wieder gehört hatte: erst ganz leise, eher ein Wimmern, aber inzwischen wurde es lauter und dringlicher.
Kam er wieder zu sich?
Dann brüllte er. Ein grausamer, schmerzerfüllter Schrei, der Clair aus dem Dämmerzustand riss. Sie hatte in der Ecke ihrer Zelle gelegen, die Beine angewinkelt und die Arme um den Leib geschlungen, doch mit diesem neuerlichen Schrei war sie schlagartig auf den Beinen und zurück vor der Lüftungsklappe.
»Bürgermeister Milton? Was ist passiert? Ist alles in Ordnung?«
Schluchzen.
Wann immer sie einen erwachsenen Mann weinen hörte – selbst wenn es dieser Mann war –, kam ihr das nackte Grauen. »Barry?«
Sie kannte den Vornamen bloß aus der Zeitung, und es fühlte sich merkwürdig an, den Mann so anzusprechen.
»Sie hat mir …«
»Was?«
Wieder nur Schluchzer, fast zwei Minuten lang.
»Mein Auge«, brachte er schließlich hervor. »Ich glaube,
sie hat mir das Auge … Ich … kann es nicht sagen. Da ist ein Verband, aber es tut weh … Oh Gott, sie muss mir … Ich muss es wissen!«
»Wenn Sie bandagiert sind, dann rühren Sie den Verband nicht an! Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, was Sie durchmachen müssen, aber vielleicht hat sie die Wunde gereinigt oder Ihnen etwas Antiseptisches verabreicht. Wenn Sie den Verband jetzt abnehmen, riskieren Sie, dass es sich entzündet!«
»Ich muss es wissen …«
Clair erschauderte. Ihr war immer noch schrecklich kalt, allerdings nicht mehr so schlimm wie zuvor. Entweder war das Fieber vorübergehend gesunken, oder sie hatte es tatsächlich endlich überstanden. Sie hatte schrecklichen Durst. »Fassen Sie die Wunde nicht an! Ihre Hände sind nicht sauber!«
»Ich hab auf der einen Seite das Tape abgemacht, will nur kurz den Finger drunterschieben … Ich nehm den Verband nicht komplett ab.« So wie er gerade sprach – unter Tränen –, klang er nicht wie ein Erwachsener, sondern wie ein kleines Kind. Wie ein kleiner Junge, dem angst und bange war, weil er nicht wusste, was als Nächstes auf ihn zukam.
»Lassen Sie das besser bleiben!«
Was er ertastete, behielt er für sich. Das erneute Aufheulen war Aussage genug.