90
Porter
Tag 6, 1.27 Uhr
Porter hatte die Fenster runtergelassen. In Chicago wäre das in dieser Jahreszeit undenkbar gewesen, aber in South Carolina waren es immer noch gut fünfzehn Grad. Außerdem hielt ihn die frische Luft wach und half ihm, sich lebendig zu fühlen.
Und er musste sich lebendig fühlen. Denn irgendetwas an dieser ganzen Situation ließ ihn förmlich erstarren. Er hätte nicht sagen können, was genau es war, obwohl er seit zwanzig Minuten über nichts anderes nachdachte. Er fühlte sich präsent – und doch wieder nicht. Als hätte er seinen Körper verlassen und beobachtete sich selbst von außen. Er war der Außenstehende, der zusah, wie der Film seines Lebens unablässig weiterlief.
Sarah Werners silberfarbener Lexus war artig innerhalb des Tempolimits unterwegs – immer ein, zwei Meilen unter der aktuellen Geschwindigkeitsbegrenzung. Sie setzte, wann immer nötig, den Blinker, und die paar Momente, in denen sie sich einer gelben Ampel näherte, blieb sie stehen, statt Gas zu geben und in letzter Sekunde über die Kreuzung zu kommen. Rund zehn Minuten nachdem sie auf den Highway gefahren waren, hatte Porter jede Absicht aufgegeben, ihr heimlich zu folgen. Sarah wusste es offenbar ohnehin – sie ermutigte ihn regelrecht dazu, sie zu verfolgen. Wenn sie in der Stadt geblieben wären, hätte er vielleicht die Chance gehabt, ihr unentdeckt hinterherzufahren, aber inzwischen war er ihr erst auf die I-26, dann auf die 78 gefolgt, dann über eine Reihe von Nebenstraßen, bis er irgendwann aufgegeben hatte, sich den Weg zu merken. Mit jeder Abzweigung war der Verkehr um sie herum lichter geworden, und als sie jetzt an Feldern vorüberfuhren, waren sie komplett allein.
Genau wie auf dem Parkplatz vor dem Ersatzteileladen hatte Porter auch hier das Gefühl, dass ihm der Weg vage bekannt vorkam. Erneut redete er sich ein, es läge an Bishops detaillierter Beschreibung. Als zwei Silos vor ihm auftauchten – beide grün lackiert und rostfleckig –, versuchte Porter, sich weiszumachen, dass er die noch nie gesehen hatte; dabei wusste er tief im Innern, dass das nicht der Wahrheit entsprach, und die leise Stimme in seinem Kopf rief ihm in Erinnerung, dass in Bishops Tagebüchern von Silos nie die Rede gewesen war.
Sarah setzte den Blinker. Von der asphaltierten Straße ging es nach links auf einen Schotterweg, der von mannshohem Unkraut gesäumt war. Irgendwann hatte hier womöglich mal Tabak oder Weizen gestanden. Doch man hatte die Felder sich selbst überlassen, und das allem Anschein nach schon vor langer Zeit. Selbst die Sterne schienen diesen Ort aufgegeben zu haben. Der Himmel war eine einzige schwarze Decke, und Porter wusste, hätte er jetzt den Mut gehabt, die Scheinwerfer auszuschalten, hätte er dichte Schwärze vor sich gesehen.
Auch er bog ab, und als er den Asphalt verließ, knirschte der Schotter unter seinen Reifen. Sie war jetzt vielleicht eine Viertelmeile vor ihm, und immer wieder verschwand sie hinter Biegungen und Kurven außer Sicht, aber das spielte keine Rolle. Er wusste, wohin sie fuhren, auch wenn er der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen wollte .
Als nach und nach das große Farmhaus am Ende des Schotterwegs vor ihm auftauchte – wie eine Luftspiegelung, weiß verschindelt, Blechdach –, glich es einem Monster, das aus einem Loch in der Erde kroch. Erst ein Giebel, der Schornstein, das Obergeschoss, dann das Erdgeschoss und die Eingangstreppe. Die Haustür stand sperrangelweit offen wie ein aufgerissenes Maul. Dahinter schimmerte Licht, während die Fenster allesamt dunkel waren. Erst als Porter hinter Sarahs verlassenem Lexus hielt, erkannte er, dass es nicht dunkel war hinter den Fenstern, sondern dass sie zugeklebt worden waren. Sein Scheinwerferlicht fiel auf den Feldrand hinter dem Haus und auf die Scheune oder vielmehr auf das, was von der Scheune noch übrig war. Das Dach war eingestürzt, drei Außenwände standen noch, schienen aber nur mehr mit letzter Kraft aneinanderzulehnen. Ein Windstoß aus der falschen Richtung, und die gesamte Struktur würde einstürzen.
Porter stellte den Motor ab, und die Scheinwerfer erloschen. Blieb nur noch der Schimmer aus der Eingangstür. Im nächsten Moment ging er darauf zu, und die Bretter knarzten unter seinen Füßen, ohne dass er sich hätte erinnern können, wie er aus dem Wagen gestiegen war. Jeder Zentimeter seiner Haut kribbelte. Seine Halsschlagader hämmerte wie verrückt. Er trat ein, und um ihn herum war alles schlagartig still. Nicht einmal das Zirpen von draußen drang bis hier herein.
Der Schimmer stammte von Kerzen, von Dutzenden Kerzen, die auf allen erdenklichen Oberflächen standen und schon eine Weile zu brennen schienen; einige waren halb heruntergebrannt. Sarah selbst war noch nicht lange genug hier, als dass sie sie hätte anzünden können – es sei denn, sie hätte es früher am Abend gemacht. Sämtliches Mobiliar war mit weißen Laken verhüllt, die dick eingestaubt waren.
Porter entdeckte Sarah hinter einer Bogentür, die zum Wohnzimmer führte, wie er annahm, in dem lediglich eine einzelne Kerze auf dem gemauerten Kaminsims brannte.
Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt.
Kauerte auf den Knien. Der schwarze Trenchcoat war verschwunden. Jetzt trug sie nur mehr eine Art weißes Kleid. Sie hatte den Kopf geneigt, und als er sich ihr von hinten näherte, dämmerte ihm, dass sie die Hände gefaltet hatte. Die Augen hatte sie geschlossen.
Auf einem Silbertablett neben ihr am Boden lagen drei kleine weiße Schachteln … und mehrere Stücke schwarzer Kordel.
Und ein Messer.
Die Klinge schien dem Kerzenlicht besonders gut zu gefallen.