93
Poole
Tag 6, 2.29 Uhr
Die Adresse aus Porters Akte gehörte zu einer Farm etwa dreißig Minuten außerhalb von Charleston. Poole saß immer noch im FBI-Übertragungswagen, mittlerweile aber waren sie unterwegs zurück ins Chicagoer Büro, und gemeinsam mit Hurless rief er ein Satellitenbild auf. Nicht dass darauf viel zu sehen gewesen wäre. Aus einiger Höhe wirkte der Ort verwaist. Den Unterlagen des County zufolge war der Besitz gut acht Hektar groß und bestand aus einem Haupthaus und einer Scheune, die ein Stück in ein angrenzendes Feld zurückversetzt war.
Trotzdem war Pooles Handy dort geortet worden.
Hurless las Poole die Infos laut vor, sowie sie auf seinem Bildschirm erschienen: »Das letzte Mal, dass dort draußen jemand Strom verbraucht hat, ist fast zehn Jahre her. Anscheinend gibt es einen Brunnen. Zuletzt haben die da Weizen angebaut, aber das ist annähernd zwanzig Jahre her. Seither nichts Aktuelles.«
Als Grundbesitzer war Sam Porter eingetragen.
»Er hat die Farm vor siebzehn Jahren gekauft und anscheinend leer stehen lassen – es sei denn, er hat dort draußen einen eigenen Stromgenerator.«
»Da war er schon in Chicago«, murmelte Poole. »Das ergibt keinen Sinn.
«
»Ich hab ein Häuschen an einem See in Wisconsin, wo ich den Sommer verbringe«, wandte Hurless ein.
»Niemand kauft sich eine Farm als Sommerhaus.«
»Vielleicht wollte er sich dort zur Ruhe setzen.«
»Vielleicht.« Poole seufzte. »Oder vielleicht ist es das Gleiche wie Simpsonville: Porter behauptet, die dortigen Unterlagen seien von Bishop gefälscht worden.«
Eine FBI-Spurentechnikerin, die auf einem am Boden verschraubten Stuhl ihnen gegenübersaß, nahm die Kopfhörer ab und wandte sich an Hurless: »Sir? Ich glaube, das hier wollen Sie sich ansehen.« Sie tippte auf das Standbild einer Videoaufnahme auf ihrem Bildschirm. »Channel Seven, Livesendung.« Sie drehte die Lautstärke hoch, und aus den Lautsprechern unter der Decke kam eine Stimme, die Poole nur zu gut kannte: Lizeth Loudon, die Reporterin und feste Größe in der Chicagoer Medienszene.
»… Informant innerhalb der Behörde, der lieber anonym bleiben möchte, berichtet, dass Bishop auf seiner Unschuld beharrt. Er sei das Bauernopfer bei einem Undercovereinsatz gewesen, den Detective Nashs Partner, Detective Sam Porter, eigenmächtig vorangetrieben habe. Bevor seine Aussage verifiziert werden konnte, hat eine Sicherheitspanne dafür gesorgt, dass sowohl Anson Bishop als auch Detective Porter abtauchen konnten. Während nach Detective Porter immer noch gefahndet wird, haben wir soeben folgende Nachricht von Anson Bishop erhalten.«
Loudon verstummte und hielt den Blick in die Kamera gerichtet. Dann wurde Bishop eingeblendet und ein Filmchen abgespielt, das allem Anschein nach mit einem Handy aufgezeichnet worden war. »Ich weiß nicht, wo ich noch hinsoll. Ich bin mir nicht sicher, wem ich noch vertrauen kann. Als sie mich in die Metro gebracht haben, hab ich dem FBI alles erzählt – alles.
Ich dachte, die würden für meine Sicherheit sorgen, die würden mich beschützen.
Aber das hier ist größer als Porter allein. Er hat Komplizen. Irgendwie haben diese Leute dafür gesorgt, dass im ganzen Gebäude die Sprinkleranlagen angingen, sämtliche Türen entriegelt wurden – auf einen Schlag.« Bishop fuhr sich frustriert durchs Haar, dann sah er wieder in die Kamera. »Porter hat versucht, mich umzubringen. Ich glaube, dass er dieses Ablenkungsmanöver gefahren hat, er und die Leute, die mit ihm unter einer Decke stecken. Irgendwie hab ich es geschafft, das Gebäude unbeschadet zu verlassen, aber dann musste ich flüchten, ich muss mich verstecken – ich weiß nicht, was ich sonst tun soll, wem ich noch trauen kann. Ich war in Polizeigewahrsam, und trotzdem hat er es fast geschafft, mich umzubringen.
Porter hört nicht auf, bis er mich umgelegt hat, das weiß ich jetzt.« Er schlug für einen Moment den Blick nieder, dann sah er wieder in die Kameralinse. »Ich will mich stellen – Ihnen, der Presse, den Bewohnern von Chicago. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich sonst tun soll. Ich werde im Guyon Hotel sein, um sechs Uhr morgens – ich glaube kaum, dass Porter mich in aller Öffentlichkeit umbringen wird, nicht vor den Augen einer Menschenmenge. Ich will, dass das FBI dort hinkommt. U.-S.-Marshalls. Wer immer mich beschützen und in Sicherheit bringen kann. Sie alle, jeder Einzelne von Ihnen. Sicher bin ich nur inmitten von Ihnen allen. Wenn Detective Sam Porter mich vorher erwischt, bin ich ein toter Mann. Ich wüsste niemanden von den Ermittlungsbehörden, dem ich noch vertrauen könnte. Ich werde alles geben, um am Leben zu bleiben, aber dafür brauche ich Hilfe, ich brauche Ihre
Hilfe. Wenn ich dort nicht auftauche, dann wissen Sie, dass er mich abgefangen hat – oder die Leute, mit denen er zusammenarbeitet. Sonst kann mich nichts mehr von dort fernhalten. Nichts.«
Das Bild hielt inne. Bishops Blick, der starr in die Kamera gerichtet war
.
Dann wurde zurück zu Lizeth Loudon geschaltet und live über einen Platz geschwenkt, einen Parkplatz, dann über ein großes Gebäude im Hintergrund. Schnee fiel durchs Bild, und das Scheinwerferlicht der Kameracrew fing sich in den Flocken. Lizeth Loudon drehte sich zur Seite und wies über die Schulter. »Das Guyon Hotel wurde 1927 erbaut und liegt an der West Washington in West Garfield, einem Stadtviertel, das in den vergangenen Jahren zusehends verfallen ist. Aus diesem Gebäude hat einst WFMT gesendet, hier hat Benny Goodman gewohnt, aber inzwischen wird es von Tag zu Tag baufälliger. Obwohl es über die Jahre mehrmals den Besitzer gewechselt hat, hat kein Versuch, das Hotel wiederzubeleben, jemals gefruchtet. In den Achtzigern hat das Guyon sogar Präsident Jimmy Carter beherbergt, als er in der Gegend für Habitat for Humanity
unterwegs gewesen ist. Ein paar Jahre später gab es Versuche, das Hotel in einen Sozialwohnungskomplex zu verwandeln, aber auch diese Pläne sind letztlich gescheitert. Allein seit 2005 hat dieses früher so spektakuläre Chicagoer Hotel ganze viermal den Besitzer gewechselt. Preservation Chicago, die Institution, die die Renovierung der Rosenwald Apartments vorangetrieben hat, glaubt noch immer daran, dass das Ruder herumgerissen werden könnte. Aber auch diese neuerlichen Bemühungen werden womöglich im Sande verlaufen.« Die Kamera zoomte wieder auf Loudons Gesicht. Sie schob sich eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. »Vor zwei Tagen ist der inzwischen suspendierte Detective der Metro, Sam Porter, in diesem Gebäude inhaftiert und in FBI-Gewahrsam genommen worden. Ihm gelang die Flucht, und er ist nach wie vor auf freiem Fuß. Ich persönlich habe vor, hier am Guyon zu bleiben und zu warten, bis Anson Bishop sich in rund dreieinhalb Stunden – um sechs Uhr morgens – den Behörden stellt, und ich lade Sie, unsere Zuschauer, ein, hier mit mir
auf ihn zu warten. Dann sehen wir mit eigenen Augen, wie diese Geschichte zu Ende geht. Sollten auch Sie hierherkommen wollen, rate ich Ihnen, sich warm anzuziehen. Bringen Sie vielleicht auch Proviant und Wasser mit – hier im Viertel gibt es nur noch eine Handvoll Läden, und die werden für den Besucheransturm gerade zu dieser frühen Stunde vermutlich nicht gerüstet sein.«
Hurless war blass geworden. »Um Himmels willen …«
»Da kommt ein Mob zusammen, der sich gegen die Einsatzkräfte richten wird. Der versucht doch, die Öffentlichkeit gegen uns aufzubringen!«
»Planänderung«, rief Hurless dem Fahrer zu. »Bringen Sie uns zum Guyon Hotel in West Garfield.« Dann wandte er sich wieder an Poole. »Ich lasse das Gelände weiträumig absperren und bringe unsere Leute in Stellung. Ich will, dass Sie sich mit Granger in Verbindung setzen – sein Team ist am nächsten an dem Farmhaus dran. Versuchen Sie, ihn zu erreichen. Die sollen sofort dorthin ausrücken.«
Poole nickte.
Während er bereits zum Telefon griff, sagte Hurless noch: »Sie haben einem klaren Befehl zuwidergehandelt, als Sie die Stadt verlassen haben. Wenn das hier vorbei ist, werden Sie sich dafür verantworten müssen. Glauben Sie ja nicht, dass ich das vergesse.« Er drehte Poole den Rücken zu und stützte sich seitlich mit der Hand ab, als der Wagen vorwärtsschoss.