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Porter
Tag 6, 2.02 Uhr
»Fünf, vier, drei …«
Porter stand immer noch am Sekretär, als die Frau, die für ihn Sarah Werner hieß, anfing, einen Countdown herunterzuzählen. Beide hatten in den Augenblicken zuvor nichts mehr gesagt, Porter hatte bloß den Satz – Vater, vergib mir – angestarrt, der in den Rolldeckel eingeritzt worden war. Sarah hatte hinter ihm gestanden. Es waren ein paar Minuten vergangen, vielleicht mehr – Porter nahm solche Sachen nicht mehr zur Kenntnis. Dann hatte sie losgezählt.
»Zwei, eins …«
Ein Telefon klingelte.
Porter warf einen Blick über die Schulter.
Sie lächelte ihn an. »Geh besser ran.«
Das Klingeln kam aus dem Sekretär. Er schob den Deckel wieder hoch und wühlte zwischen den Rechnungen und Papieren, von denen viele von dem jahrealten Blut zusammenklebten.
Das Handy war kein billiges Prepaidgerät. Auf dem Display stand Unbekannte Nummer . Es klingelte zum dritten Mal. Auf der Rückseite klebte eine seiner alten Visitenkarten vom Charleston PD – ausgebleicht und schmutzig, die Buchstaben kaum mehr lesbar. Seine Finger zitterten, als er die Anruftaste drückte. Dann hielt er sich das Handy ans Ohr. »Wer ist da, verdammt?«
»Sam, Sie wissen doch, was ich von Flüchen halte. Ich dachte, das hätten wir hinter uns gelassen.«
»Ich verstehe nicht … was ich hier vor mir sehe.«
»Sie sind zu Hause, Sam. Sie sehen Ihr Haus vor sich. Sie haben dieses Chaos hinterlassen.«
»Ich hab nie …«
»Sagen Sie nicht«, fiel Bishop ihm ins Wort, »dass Sie nie dort gewesen wären, Sam. Das ist eine Lüge – auch wenn Sie Probleme haben, sich daran zu erinnern. Sie müssen diese Lügen endlich hinter sich lassen, die Sie sich selbst eingeredet haben, und der Wahrheit ins Gesicht sehen. Es ist alles in Ihrem Kopf, irgendwo ganz weit hinten, unter dicken Staubschichten. Sie können eine Untat verdrängen, aber solche Sachen haben nun mal die Tendenz, sich durch den Dreck wieder nach oben zu wühlen. Ihre Untaten holen Sie ein. Und da ist eine Menge Wut. Sie haben uns alle verraten. Sie haben uns hängen lassen. Sie haben uns ausbluten lassen.«
»Ich war verletzt, ich …«
»Wir sind alle verletzt worden, Sam.«
Sam versuchte, das Blut zu ignorieren, das überall in diesem Zimmer zu sehen war. »Wer ist hier gestorben?«
»In vielfacher Hinsicht wir alle.«
»Woher hast du meine Visitenkarte?«
Darauf antwortete Bishop nicht. »Sie«, sagte er stattdessen, »Hillburn, Welderman, Stocks – und wer weiß, wer sonst noch. Sie steckten tief drin in Korruption und Widerlichkeiten. Zumindest Hillburn war so anständig, sich das Leben zu nehmen und Buße zu tun für die gequälten Kinder. Wie viele waren es? Haben Sie überhaupt eine Ahnung?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest!«, schrie Porter. Er hatte nicht schreien wollen, es war einfach passiert .
»Ich hab Sie gesehen, Sam. Wir haben Sie alle gesehen. Spüren Sie unsere Blicke, jetzt in diesem Moment? Sie sind bei Ihnen. Können Sie sie hören? Ich kann sie nämlich hören. Nicht eine Nacht vergeht, ohne dass ich ihre Stimmen um Hilfe winseln höre. Mit den Jahren bin ich immer wieder zu Finickys alter Farm zurückgekehrt und hab in den Zimmern gesessen – häufiger, als ich zählen könnte. Ich hab mit ihnen geweint. Ich hab zu ihnen aufgeschaut. Ich hätte mir gewünscht, nur noch ein einziges Mal Libby in meinen Armen zu halten. Dabei wusste ich, dass das nie wieder passieren würde. Und als dann das Wunder geschah, als ich sie endlich aufgespürt hatte, haben Sie sie mir weggenommen, ein für alle Mal. Sie und Ihre Freunde haben sie gefoltert, haben ihren Körper in aller Unwürdigkeit und in ihren eigenen Ausscheidungen in diesem Haus an der Mckeen Road liegen lassen.« Er legte eine Pause ein, dann fuhr er fort: »Nichts Böses tun, Sam. Jetzt ist der Moment der Vergeltung gekommen. Es ist an der Zeit, dass Sie für Ihre Sünden bezahlen.«
Vom anderen Ende des Zimmers sah Sarah ihn ausdruckslos an. Auch wenn das Handy nicht auf Lautsprecher geschaltet war, hatte sie in dem ansonsten totenstillen Raum höchstwahrscheinlich das meiste von dem verstehen können, was Bishop gesagt hatte, wenn nicht sogar alles. Porters Blick blieb an den drei weißen Schachteln hängen, an der schwarzen Kordel, dem Messer. Im selben Moment fing sie an zu lächeln.
Als hätte er all das beobachtet, ergriff Bishop wieder das Wort: »Die Schachteln sind nicht für Sie, Sam. Der Tod wäre eine Gnade. Eine Gnade, derer Sie nicht würdig sind. Die Kinder bezahlen für die Missetaten ihrer Väter; einzig und allein ihr Tod beschert dem Vater ein vergleichbares oder umso größeres Leid. Genau wie bei all diesen Leuten zuvor sollte auch bei Ihnen ein Kind für Sie sterben. Aber Sie haben keine Kinder, nicht wahr, Sam? Die einzigen Kinder in Ihrem Leben waren Kinder wie ich – die Sie und Finicky und all die anderen durch Ihre kleine Hölle geschickt haben. Diese Kinder haben genug gelitten. Aber es gibt andere, die Sie über alles lieben, stimmt’s? Oder vielmehr gab es andere.«
Porters Brust krampfte sich zusammen. »Hast du Heather erschossen?«
»Eine Ehefrau ist kein Kind, aber man liebt sie trotzdem.«
Das Blut rauschte in Porters Ohren, pulsierte laut in seinen Schläfen. »Hast du Heather erschossen?«
Bishop seufzte. »Harnell Campbell hatte ohnehin vor, den Supermarkt zu überfallen. Ich hab ihn nur hingefahren. Um ganz ehrlich zu sein, könnte es sein, dass ich die .38er auf dem Beifahrersitz liegen gelassen hatte, die Harnell so gut gefallen hat … Die Waffe hatte zuvor Ihrem Kumpel Stocks gehört, allerdings hatte der schon seit einer Weile keine Verwendung mehr dafür. Und der gute alte Harnell meinte, er würde ihr ein neues Zuhause geben, insofern wäre es doch albern gewesen, Nein zu sagen.«
»Wenn das wahr ist, warum hast du ihn dann umgebracht?«
»Ich mag keine losen Fäden. Vater hat mich gelehrt, hinter mir aufzuräumen. Er war Abschaum, außerdem hatte er sein Soll erfüllt.«
Porter schüttelte den Kopf. Er war völlig durch den Wind, hätte fast das Handy fallen lassen. »Heather hat niemandem etwas zuleide getan«, stieß er hervor, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Heather war eine Anzahlung auf Ihre Schuld. In ein paar Stunden werden Sie auch den Rest gutgemacht haben. Wenn wir endlich quitt sind, wenn der Opfergabentisch endlich gedeckt ist, können wir vielleicht ja sogar als Freunde auseinandergehen. Aber ich könnte verstehen, wenn Sie das nicht wollen. Ich habe Libby verloren, Wiesel, Vincent, Paul, Tegan, Kristina … Wen werden Sie heute noch verlieren?«
Porter versuchte, etwas zu sagen, doch es kam nichts über seine Lippen.
»Gehen Sie zur Treppe, Sam. Da ist etwas, was Sie sich ansehen sollten.«
Porter wollte nicht, wusste aber, dass ihm nichts anderes übrigblieb.
Wortlos ging Sarah hinter ihm her, als er auf wackligen Beinen den Eingangsbereich durchquerte und über den Flur auf den unteren Treppenabsatz zuging. Genau wie es im Tagebuch gestanden hatte, hingen über der Treppe, die nach oben führte, unzählige gerahmte Fotos von Kindern – von Jungen, von Mädchen jeden Alters. Einige lächelten, andere nicht. Porters Blick blieb an einem Rahmen hängen.
»Sie haben es entdeckt, nicht wahr?«
Er hatte es entdeckt. Porter stieg ein paar Stufen hinauf. Es hing etwa auf halber Treppe, das Foto zur Wand gekehrt. Auf der Rückseite standen in schwarzen Blockbuchstaben zwei Initialen und WM10. 5k . Sam ahnte, wer auf dem Foto zu sehen wäre, noch ehe er den Rahmen von der Wand nahm und ihn umdrehte.
Ein viel, viel jüngeres Gesicht, das er nichtsdestoweniger wiedererkannte.
Oh Gott. Nicht er.
»Ihre Freunde haben Kid in jener Nacht schlimm zugerichtet. Aber er hat sich davon erholt«, sagte Bishop. »Mit den Jahren ist mir dann klar geworden, dass er derjenige von uns war, der das größte Potenzial hatte. Er hat die Gräuel unserer Kindheit hinter sich gelassen und einen Weg gefunden, die Waagschalen wieder ins Gleichgewicht zu bringen – sich zurückzuholen, was ihm und was uns allen weggenommen worden war.«
Porters Blick klebte an dem Foto. »Es muss niemand mehr sterben. Das muss aufhören.«
»Ich habe noch etwas von Ihnen, Sam. Etwas Wertvolles«, sagte Bishop. »Ich habe einmal versucht, von der Farm zum Guyon zu kommen, um jemanden zu retten, war jedoch nicht schnell genug. Schauen wir doch mal, ob Sie schnell genug sind. Es ist so schrecklich weit bis dorthin – und ich drücke Ihnen die Daumen. Heather hat immer an Sie geglaubt. Bis zu ihrem letzten Atemzug hat sie gehofft, Sie würden kommen und sie retten.«
Dann war die Leitung tot, und Porter sah sich nach Sarah um, die ihn vom Fuß der Treppe beobachtete. »Hm, wenn du jetzt bloß einen Privatjet zur Verfügung hättest«, sagte sie. »Für Linienflüge ist es inzwischen zu spät.«
»Ich habe Poole in den Jet gesetzt.«
»Talbots Leute haben einen zweiten Jet für dich zum Atlantic Aviation gebracht, das weißt du genau. Lüg mich nicht an, Sam. Nicht nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben. Das ist unter deiner Würde.«
Porter schüttelte den Kopf und wählte eine Nummer. »Ich rufe jetzt das FBI an.«
»Anson hat geahnt, dass du das tun würdest.« Sarah kam einen Schritt näher und hielt ihm das Display ihres Handys hin. »Und wenn du das vorhättest, sollte ich dir das hier zeigen.«
Das Video, das sie abspielte, war von überraschend guter Qualität. Auch wenn es von hinten aufgenommen war, konnte Porter Clair deutlich erkennen. Selbst ohne Ton konnte er sie förmlich schreien hören, als sie mit beiden Fäusten auf eine Tür eindrosch.
»Schalt das Handy auf Flugmodus, und zwar bis du in Chicago landest. Dort darfst du anrufen, wen immer du willst. Wenn du versuchst, vorher jemanden zu kontaktieren, ist sie tot. Verstanden?«
Porter nickte.
»Flugmodus, hopp, hopp!«
Er tat wie geheißen.