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Nas h
Tag 6, 6.00 Uhr
Nash drehte sich nach rechts zu dem Geräusch um. Ein weißes Tuch hing über einem großen, hohen Gegenstand zwischen zwei verbarrikadierten Fenstern.
Kloz seufzte. »Er will einfach nicht sterben.« Er ging auf die Fenster zu und zog das Tuch beiseite. »Diese Statue heißt Schutzbefohlene. Ich dachte mir, das hätte eine gewisse Ironie.«
Eine hoch aufragende Frau, die sich ein kleines Kind an die Brust hielt. Sie stand in einer Art Brunnenbecken – nur dass das Becken kein Wasser enthielt. Stattdessen wehte Benzingeruch durch die Cafeteria.
Zu den Füßen der Statue kauerte der Bürgermeister. Seine Arme lagen rückwärts um den Leib der Frau und waren hinter ihrem Rücken mit Handschellen fixiert. Er war unbekleidet, kaum mehr bei Bewusstsein, und selbst aus einiger Entfernung konnte Nash sehen, dass in jeden Zentimeter nackter Haut Worte eingeritzt worden waren: Nichts Böses hören, nichts Böses sagen, nichts Böses sehen, nichts Böses tun … Auf seiner Stirn stand – in größeren Buchstaben als überall sonst – Ich bin böse . Sein linkes Ohr fehlte; aus einer Augenhöhle sickerte schwarzes Blut. Drei kleine weiße Schachteln standen am Beckenrand – zwei mit schwarzer Kordel verschnürt, die dritte leer .
»Die Zunge hatte ich ihm noch gelassen, dachte, vielleicht würde er die Beichte ablegen wollen. Ich hätte es besser wissen müssen«, sagte Kloz. »Nash, es wird Zeit für dich abzuhauen.«
Als Nash zu Klozowski sah, hielt der den Zünder auf Brusthöhe.
»Das willst du nicht tun.«
Kloz nickte in Richtung des Notizbuchs, das immer noch auf einem der Tische lag. »Wenn du die Infos aus diesem Buch mit all den Sachen zusammenfügst, die Anson euch schon zugespielt hat, dann habt ihr mehr als genug in der Hand gegen diese Leute und könnt dem Trafficking ein Ende setzen.« Er starrte die Videokassette zu Nashs Füßen an. »Das da auch – lass es nicht liegen. Außerdem steht noch eine Menge in meinem Bürocomputer – gib einfach alles dem FBI. Die sollen direkt unter ›Guyon‹ suchen.«
»Ich kann nicht zulassen, dass du das machst.«
Kloz ignorierte ihn und sah in Richtung des Korridors zu seiner Rechten. »Clair ist in Zimmer B18, gleich dort den Gang runter. Von außen brauchst du keinen Schlüssel. Wenn du sie rausgeholt hast, nimm die Treppe am rückwärtigen Ende zurück in den großen Kellerraum. Dort an der Westseite siehst du den Tunneleingang – du kannst ihn gar nicht verfehlen.« Er hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Ich zähle von hundert runter, bevor ich das Ding zünde. Damit hast du gerade genug Zeit, wenn du jetzt sofort losrennst.«
»Mach das nicht, Kloz, nicht …«
»Es war mir ein Vergnügen, mit dir zu arbeiten, Brian. Mit Clair auch. Sag ihr bitte, dass es mir leidtut.«
»Sag ihr das selbst – deaktivier jetzt endlich die Bombe.« Nash hörte selbst, wie weinerlich er klang, aber das war egal. »Komm mit, mach deine Aussage. Erklär ihnen alles.«
»Hundert. Neunundneunzig. Achtundneunzig … «
Nash starrte Kloz noch einen Augenblick lang an, überlegte, wie er ihn zu Boden ringen könnte, ihn erschießen könnte, ihm den Zünder aus der Hand reißen … Aber er wusste, dass nichts davon klappen würde. Kloz war für alle Eventualitäten gewappnet. Kurz entschlossen klaubte Nash das Videoband vom Boden auf und rannte auf den Tisch mit dem Notizbuch zu.
Am Fuß der Statue zwang der Bürgermeister das gesunde Auge auf und sah Nash an. »Machen Sie mich los«, stieß er mit belegter, brüchiger Stimme hervor.
Nash musterte ihn kurz. Er hielt die Videokassette in die Höhe. »Ist das wahr?«
Der Bürgermeister leckte sich die blutverkrusteten Lippen. »Spielt keine Rolle … Sie müssen mir helfen …«
Nash wusste genau, dass er nicht Zeit genug hätte, sowohl den Bürgermeister als auch Clair zu befreien und rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Eines schönen Tages würde er seine Entscheidung genau damit rechtfertigen, nicht nur anderen, sondern auch sich selbst gegenüber. Für den Bürgermeister hatte er lediglich ein »Widerling!« übrig.
Es entlockte Kloz ein Lächeln. »Wir sind alle 4MK, Brian. Behalt das immer im Hinterkopf.«
Ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte Nash aus der Cafeteria und über den Flur, während hinter ihm Kloz weiter herunterzählte.
»Vierundneunzig. Dreiundneunzig. Zweiundneunzig …«