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Tagebuch
Paul gab mir eine Ohrfeige.
Als ich die Augen aufschlug, sah ich, wie seine Hand ein zweites Mal auf mich zuraste, und drehte mich gerade noch rechtzeitig weg, um dem Schlag auszuweichen.
»Er ist wieder wach!«, schrie Paul über die Schulter. Er saß auf meiner Brust und drückte mich zu Boden. »Nicht bewegen – das Arschloch hat auf dich geschossen!«
Ich spürte ein Brennen, irgendwas Grässliches, in meinem Oberschenkel, und als ich den Kopf hob, sah ich, wie Libby Peroxid über den Riss in meiner Hose kippte.
»Die Kugel hat dich nur gestreift. Das hätte echt übel ausgehen können.« Sie tupfte die Wunde mit einem Geschirrtuch ab.
Vom Sofa aus durchwühlte Vincent Weldermans Taschen und warf den Inhalt auf den Couchtisch. Weldermans toter Blick ging ins Leere. Seine Klamotten trieften von Blut, die Couch ebenfalls, die Möbel drum herum. Anscheinend hatte ich die Halsschlagader erwischt – nur das konnte die Blutmenge erklären. Das Fleischermesser lag neben seinem Bein auf dem Boden.
»Finicky in der Küche«, stieß ich hervor und versuchte, den Kopf in die Richtung zu drehen.
»Wir haben sie. Tegan und Kristina fesseln sie«, erklärte Paul. »Sie lebt. Du hättest härter zuschlagen sollen.«
»Kannst du … von mir runter…? Ich krieg keine Luft.
«
»Tut mir leid.« Paul rutschte von mir herunter und kam auf die Beine.
Als Libby mit meinem Bein fertig war, wischte sie mir Blut aus dem Gesicht. In ihrem Blick wechselten sich Sorge, Angst, Kummer, Panik ab; trotzdem schaffte sie es, mich anzulächeln, und dieses Lächeln war das Schönste, was ich je gesehen hatte. Sie beugte sich kurz über mich, dann kam sie näher und küsste mich. Ihre Lippen waren weich, warm, perfekt.
»Ich glaube, ich liebe dich, Anson Bishop.«
Sie hatte so leise gesprochen, dass nur ich es gehört hatte. Für einen winzigen Augenblick waren die Schmerzen in meinem Bein und in meinem gebrochenen Arm vergessen. Es gab nur noch sie und mich, und dann sagte ich ihr, dass ich sie ebenfalls liebte.
Wie sich herausstellte, hatte Paul uns gehört. Er lief rot an und drehte sich weg.
»Hab seine Schlüssel gefunden«, verkündete Vincent von der Couch. Er hatte auch Weldermans Waffe und ein zusätzliches Magazin gesichert. »Und jetzt fahr ich Wiesel holen.«
Ich versuchte, mich hochzustemmen. »Ich komme mit.«
»Du fährst nicht mit.« Libby sah mich finster an.
Ich kam auf die Beine und spürte wieder die Schmerzen in Oberschenkel und Arm. »Ich muss.«
»Lass Vincent und Paul gehen.«
»Wir müssen alle hier weg«, sagte Paul. »Wir wissen nicht, wer wann hierher zurückkommt.« Er streifte Welderman und all das Blut mit einem flüchtigen Blick. »Er und Stocks waren Cops. Da war vorhin dieser andere, draußen … Die dürfen uns hier nicht finden.«
»Verlass mich nicht«, wimmerte Libby und strich mir über die Brust.
Ich ging auf den Sekretär in der Ecke zu und kritzelte
meine Adresse in Simpsonville auf einen Zettel, den ich ihr in die Hand drückte. Dann strich ich ihr das Haar aus der Stirn. »Geh Tegan und Kristina helfen. Wenn sie mit Finicky fertig sind, holt das Geld aus der Scheune und packt Finickys Auto – so viel, wie reinpasst. Wenn wir in zwei Stunden nicht zurück sind oder ihr früher aufbrechen müsst, dann treffen wir uns an dieser Adresse – in dem Trailer, der hinter den Überresten des Hauses steht.« Ich beugte mich näher zu ihr heran und senkte die Stimme. »Und dann hauen wir ab, ganz weit weg, genau wie wir es geplant haben. Versprochen.«
Vincent schob sich Weldermans Waffe in den Hosenbund. Den Revolver gab er an Libby weiter. »Der ist leer, aber vielleicht hat Stocks Ersatzmunition in der Tasche.«
Libby wollte nicht recht zugreifen.
»Kristina weiß, wie man so was benutzt, falls du dich damit nicht wohlfühlst«, sagte er noch. »Vielleicht müsst ihr Kid ins Krankenhaus bringen. Wenn das der Fall sein sollte, benutzt nicht eure echten Namen.«
Paul war bereits an der Eingangstür. »Sie haben inzwischen fast zehn Minuten Vorsprung. Wenn wir fahren wollen, dann sollten wir jetzt los.«
Ich gab Libby noch einen Kuss. »Bis später.«
In ihren Augen glitzerten Tränen. Sie nickte bloß.
Ich nahm das Messer vom Boden hoch und wischte die Klinge an einem der Kissen ab. Ich spürte Libbys Blick in meinem Rücken, konnte mich aber nicht umdrehen. Wenn ich mich umgedreht hätte, hätte ich nicht mehr die nötige Entschlossenheit aufgebracht – und ich musste das hier tun.
Vincent, Paul und ich rannten auf Weldermans Chevy zu.
Mit Vincent am Steuer schossen wir über die Auffahrt, und die Farm verschwand hinter uns in der Nacht
.
Wir wussten genau, wohin sie unterwegs waren.
Ich nahm den Messergriff fest in die Hand und wartete, bis die ersten Lichter von Charleston vor uns auftauchten.