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Porter
Tag 199, 10.21 Uhr
»Sie haben Oglesby aufgespürt?«
»Na ja, seinen Namen«, korrigierte sich Poole. »Er war fast elf Jahre lang im Camden angestellt und hat trotzdem kaum Spuren dort hinterlassen. Die meisten Camden-Akten sind vertraulich, weil sie Einzelheiten zu Therapien enthalten – trotzdem hab ich eine Reihe von Berichten eingesehen, die von ihm unterschrieben wurden, auch wenn ich an den restlichen Inhalt nicht rankomme. Wir glauben, dass er gegen Ende 1995 verschwunden sein dürfte – allerdings liegt keine Vermisstenmeldung vor. Im Camden steht in den Unterlagen als Austrittsgrund Aufgabe der Anstellung
, wobei die Personalakte selbst komplett leer ist.«
»Er dürfte im See in Simpsonville gelandet sein«, murmelte Porter.
»Haben Sie die Leiche dort entsorgt?«, hakte der Staatsanwalt sofort ungerührt nach.
»Dort hätte Bishop ihn hingebracht, nachdem er sich sein Messer zurückgeholt hätte.«
Poole und der Staatsanwalt wechselten einen Blick. Dann fragte Letzterer: »Haben Sie Tom Langlin in Simpsonville umgebracht?«
Porter musste sich an die Tischkante krallen, um seine Wut zu beherrschen. »Ich habe niemanden umgebracht.
«
Der Staatsanwalt schnaubte frustriert und nickte Poole zu. »Erzählen Sie ihm auch das.«
Poole rieb mit den Fingern über die Tischkante, ehe er sich wieder Porter zuwandte. »Die Frau, die wir in der Farm gefunden haben, war bereits mindestens zwei Wochen, wenn nicht länger tot. Auch sie war in Salz eingelagert worden, wie die anderen auch. Wir glauben tatsächlich nicht, dass Sie sie umgebracht haben – wir glauben auch nicht, dass Sie Langlin und all die anderen umgebracht haben. Das waren wohl Bishop und Klozowski – und womöglich noch andere.«
»Bishops Mutter ist immer noch irgendwo dort draußen«, sagte Porter mehr zu sich selbst.
»Sofern sie real war.« Der Staatsanwalt schnitt eine Grimasse.
Porter sah abrupt auf. »Sie haben ein Foto von ihr – aus New Orleans, aus dem Gefängnis, als wir die Besucherausweise gemacht haben! Das Foto müssen Sie sich besorgen!«
Doch Poole schüttelte bereits den Kopf. Dann zog er ein Foto aus seiner Brieftasche und legte es vor Porter ab. Es war das Porträt einer schwarzen Mittfünfzigerin.
»Wer soll das sein?«, fragte Porter.
»Das ist das Bild, das auf dem Gefängnisserver gespeichert war.«
Porter fegte das Foto beiseite. »Klozowski. Das war sein Werk.«
Jetzt ergriff Dalton das Wort. »Tom Langlin hatte dafür gesorgt, dass Ihr Name in den Unterlagen in Simpsonville auftauchen konnte. Sheriff Banister hat bestätigt, dass Langlin Zugang zu sämtlichen Archivunterlagen des County hatte und daran herumgepfuscht haben könnte. Wir gehen inzwischen davon aus, dass Klozowski dann den digitalen Eintrag für das Farmhaus manipuliert hat. Wahrscheinlich wurde Langlin nur deshalb umgebracht, weil …
«
»Loser Faden«, fiel Porter ihm leise ins Wort. Vater hat mich gelehrt, hinter mir aufzuräumen
.
»Gut möglich.« Dalton nickte. »Sieht aus, als hätte er auch die Spur von Ihnen zu Upchurch gelegt. Aber daran arbeiten wir noch.«
Der Staatsanwalt zog eine gelbe Postkarte aus der Tasche, tippte mit der Kante mehrmals auf den Tisch und warf sie dann zu Porter hinüber.
Die Karte war an Porter adressiert. »Was ist das?«
»Haben wir in Ihrem Briefkasten gefunden.«
»Sie haben meine Post durchwühlt?«
»Sie sind nach wie vor ein Verdächtiger in mehreren ungeklärten Fällen. Wir haben nicht nur Ihre Post durchwühlt, sondern sie mit richterlicher Erlaubnis katalogisiert.«
Porter starrte die Karte an und runzelte die Stirn. Es handelte sich um ein Mahnschreiben einer öffentlichen Bibliothek. »Ich gehe nicht in die Bibliothek.«
Poole legte vier Stücke eingeschweißten Gipskartons auf den Tisch. Porter hatte davon schon gehört; Nash hatte sie in Porters Wohnung in den Innereien seines Sessels gefunden. »Sind das die Gedichte aus dem Haus an der 41st? Wo Ihr Partner ermordet wurde?«
Poole nickte und wies auf die Büchereikarte. »Der Buchtitel lautet Schönheit des Todes, Tod der Schönheit.
Eine Anthologie aus Gedichten. Die letzte Person, die es sich ausgeliehen hatte, war Barbara McInley.« Er beugte sich über den Tisch und hielt die Hand über eins der Gipskartonstücke. »Die Handschrift stimmt mit Schriftproben überein, die wir von ihr in der Datenbank hatten.«
Porter verstand kein Wort mehr. »Barbara McInley, Libbys Schwester, Bishops fünftes Opfer – die soll diese Gedichte an die Wand in dem Haus geschrieben haben, wo Diener ermordet wurde?«
Poole nickte
.
»Wann?«
Darauf hatte Poole keine Antwort.
»Wollen Sie mir damit sagen, dass sie noch am Leben ist?«
Sie schienen alle darüber nachzudenken, doch keiner sagte etwas.
Aus seiner Tasche zog Poole das Buch – ein dünnes Bändchen, kaum mehr als einhundert Seiten. Er schob es auf Porter zu. »Das haben wir in Ihrer Wohnung gefunden – im Regal zwischen anderen gebundenen Büchern.«
Porter zog es näher heran. »Die Bücher haben Heather gehört. Sie war eine begeisterte Leserin. Aber das hier hab ich noch nie gesehen.« Er nickte in Richtung der Gipskartonstücke. »Stehen die Gedichte da drin?«
Poole nickte. »Ich hab die Seiten markiert. Schlagen Sie’s nach.«
Porter tat wie geheißen. Nicht dass er irgendetwas verstanden hätte. Er schlug die erste umgeknickte Seite auf, ein Emily-Dickinson-Gedicht mit dem Titel Der Tod
. Jemand hatte mit einem schwarzen Filzstift eine große Acht daneben gemalt. Porter blätterte weiter. Das gleiche Symbol auf jeder Seite. »Das Zeichen für Unendlichkeit«, stellte er leise fest. »Das Tattoo …« Er blickte zu Poole hoch. »Was hat das zu bedeuten?«
»Wir wissen es nicht«, gab Poole achselzuckend zurück.
Bishop hatte das Symbol auf Emory Connors’ linkes Handgelenk tätowiert. Jacob Kittner hatte das gleiche Tattoo gehabt, genau wie die Frau, die Porter Sarah Werner nannte. Andere auch.
Eine Weile schwiegen sie alle.
»Und da ist noch mehr«, sagte Poole schließlich. Er griff erneut in seine Tasche und holte das Handy heraus, auf dem Porters alte Visitenkarte klebte. Das Handy, das Bishop für ihn im Rollsekretär in der Farm hinterlegt hatte. Es
steckte in einem Asservatenbeutel. »Das ist mein
Handy. Bishop hat es mir abgenommen, als er mich niedergeschlagen hat.« Poole zögerte kurz, dann fuhr er fort: »Als ich es heute Morgen aufgeladen habe, war eine Nachricht drauf. An Sie.«
Porter beugte sich vor. »Darf ich sie lesen?«
Porter warf dem Staatsanwalt einen Blick zu und bekam ein Nicken zur Antwort.
Poole zog das Handy aus dem Beutel und drückte es Porter in die Hand. Porter raubte es den Atem.
Deine Anrufe fehlen mir, Sam.
Er hatte Schwierigkeiten zu sprechen. »Das … Das ist Heathers alte Handynummer.«
»Die Ihrer Frau?«, fragte Dalton.
Porter nickte. »Nachdem sie gestorben war, hab ich immer mal wieder auf ihrer Nummer angerufen, um ihre Mailbox-Ansage zu hören. Ich … Ich hab den Anschluss vor Monaten gekündigt. Ich konnte nicht mehr …« Ehe irgendwer ihm Einhalt gebieten konnte, hatte er auf die Nummer geklickt und den Lautsprecher eingeschaltet. Es klingelte nicht ein einziges Mal. Stattdessen landete der Anruf direkt auf der Mailbox. Doch es war nicht Heathers Stimme, die am anderen Ende zu hören war. Es war die von Bishop.
»Hallo, Sam. Ich hatte leider nicht die Gelegenheit, mich von Ihnen zu verabschieden, und dafür möchte ich mich hiermit entschuldigen. Das war unhöflich von mir, unfreundlich – und meine Eltern haben mich nicht zu einem unhöflichen, unfreundlichen Menschen erzogen. Sie haben mir auf dem Parkplatz des Guyon eine Frage gestellt, auf die ich jetzt, da wir endlich Zeit haben, gern zurückkommen möchte. Ich war an dem Morgen ein wenig in Eile, aber nachdem all das ja nun hinter uns liegt, auch dieses unerfreuliche Gerichtsverfahren, und wir endlich frei reden
können, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mich mit Ihnen zu unterhalten. Sie haben mich gefragt, wer Sie für mich seien. Ich nehme fast an, nach allem, was wir miteinander durchgemacht haben, erwarten Sie jetzt eine komplexe Antwort auf diese doch recht einfache Frage. Aber die Wahrheit ist: Auch die Antwort ist einfach. Wer sind Sie für mich?
Nichts sind Sie, Sam. Sie sind ein Niemand. Sie sind eine dreckige, ausgebleichte Visitenkarte, die Tegan auf dem Boden des Transporters Ihres Partners gefunden hat. Sie sind jemand, der hätte helfen können und es nicht getan hat. Sie sind jemand, der weggeschaut hat, als Sie hätten hinsehen müssen. Sie waren nur Mittel zum Zweck. Ihre Strafe ist, dass Sie den Rest Ihres Lebens mit dem Wissen zubringen dürfen, was Ihre Untätigkeit für andere zur Folge hatte. Jedes Mal, wenn Sie Heathers Grab besuchen, will ich, dass Sie sich eines bewusst machen: Sie liegt nur Ihretwegen dort.«
Porter sackte auf seinem Stuhl zusammen. Sämtliche Augen im Zimmer waren auf das Handy gerichtet, als Bishop fortfuhr.
»Es ist mir wichtig, dass Sie verstehen, was Verlust bedeutet, Sam. Es ist wichtig, dass Sie den Verlust zu begreifen lernen, so wie ich ihn empfinde. Ich habe meine Eltern verloren. Libby McInley – die einzige Person auf der Welt, für die ich je etwas empfunden habe. Wiesel, Vincent, Paul, Tegan, Kristina … Ich habe sie alle verloren. Kid – Klozowski – hat für ihr Andenken sein Leben geopfert. Ein größeres Opfer gibt es nicht. Auch ihn habe ich verloren. Sie glauben vielleicht, dass ich keinen Schmerz empfinden kann, Sam. Aber das kann ich. Wann immer ich die Augen zumache, höre ich Libby weinen. Ich kann immer noch das Salz ihrer Tränen an meinen Fingerspitzen schmecken. Ich wache mitten in der Nacht auf und spüre ihre Hand in meiner – für diesen einen kurzen Augenblick zwischen Schlaf un
d Wachsein. Dann ist sie wieder weg, und ich bin allein. Sie haben die Gnade erfahren zu vergessen, aber ich habe diese Fähigkeit nicht. Ich will, dass auch Sie sich erinnern, dass Sie sich erinnern müssen.
Das werden Sie für mich tun, Sam. Sie werden sich erinnern – an all diejenigen, die wir verloren haben. So können wir gemeinsam leiden. Ich habe Ihnen etwas hinterlassen, Sam. Ein fehlendes Puzzleteil. Ihre eigene weiße Schachtel mit schwarzer Kordel. Ich bin ehrlich gesagt überrascht, dass Sie sie noch nicht gefunden haben. Ich nehme an, es ist einfacher, über einen Gestank Scherze zu machen, als die Person zu sein, die ihn wegputzt. Anscheinend ignoriert man leichter den Unrat im Leben, als sich ihm zu stellen. Es ist nicht das erste Mal, dass Sie einer Sache einfach den Rücken gekehrt haben. Wird sicher auch nicht das letzte Mal sein. Aber vielleicht halten Sie beim nächsten Mal ganz kurz inne, bevor Sie sich abwenden.«
Ein Piepen war zu hören. Überrascht blickten sie auf. Sie hatten alle für einen Moment komplett ausgeblendet, dass sie bloß einer Mailbox-Ansage gelauscht hatten.
Porter schnappte sich das Handy und drückte auf Auflegen. »Bringen Sie mich in die Metro. Sofort.«