135
Bishop
Tag 203, 10.08 Uhr
Bishop ging um den VW herum zur Fahrerseite. Als das Fenster aufging, beugte er sich hinein und gab der Fahrerin einen Kuss. »Hey, du!«
»Hey, du!«
Libby McInley strahlte ihn durch ihre Gucci-Sonnenbrille an, die für ihr Gesicht viel zu groß war. Sie hatte sich die Haare wachsen lassen, seit sie sich zuletzt gesehen hatten. Lockig fiel es ihr über den Rücken. Ihre Haut hatte einen gesunden Teint. Sie hatte weiße Shorts und ein rotes Tanktop an.
Sobald Kristina Niven Vincent Weidner entdeckt hatte, stieß sie die Beifahrertür auf und sprang vom Sitz. Sie hüpfte regelrecht in seine Arme, schlang die Beine um seine Hüften und gab ihm einen Kuss.
Mit angezogenen Beinen schlief Tegan auf der Rückbank.
»Wie war Florida?«, erkundigte sich Bishop.
»Warm«, antwortete Libby. »Ich soll Grüße von Barbara ausrichten.«
Barbara McInley war die erste Tote gewesen, die er und Klozowski gefaket hatten, sobald Anthony Warnick und die anderen ihnen ein bisschen zu nah gekommen waren. Es war eine Art Testlauf gewesen. Die Leiche, die die Ermittler für Barbara McInley gehalten hatten, war in Wahrheit eine Ausreißerin namens Loria Tutson gewesen. Als Bishop ihr begegnet war, hatte sie andere Straßenkinder mit der Aussicht auf Geld und eine gewisse Stabilität für BackPage rekrutiert, nur um drei Prozent des Verkaufspreises im Guyon als Provision zu kassieren. Bishop war es nicht schwergefallen, sie kaltzumachen.
Libby hatte seine Hand genommen und betrachtete seine Fingerkuppen. »Was hast du denn getrieben?«
Bishops Fingerspitzen waren rußschwarz.
»Ich müsste mir mal Hände waschen – aber dann sollten wir allmählich losfahren.«
Sie nickte in Richtung eines kleinen Häuschens an der Zufahrt zum Parkplatz. »Dahinten sind Toiletten.«
Er beugte sich erneut durchs Fenster und gab ihr noch einen Kuss. »Wartest du so lange auf mich?«
»Immer doch.«
Als er auf das Klohäuschen zulief, hörte er, wie die anderen in seinem Rücken miteinander scherzten und lachten. Es hatte eine Zeit gegeben, da er geglaubt hatte, er würde so etwas nie wieder hören. Schön, dass es anders gekommen war.
Er schob die Tür zur Herrentoilette auf, und das Licht ging an. Ein dezenter Zitrusduft hing in der Luft. Für eine öffentliche Toilette war es hier ausnehmend sauber. Er wusch sich die Hände mit warmem Wasser und hielt sie unter den Trockner, als hinter ihm eine Klotür aufging.
Als Bishop im Spiegel in das Gesicht blickte, setzte sein Herz für einen Schlag aus. »Wie haben Sie mich gefunden?«
Mit einem kleinen schwarzen Revolver in der behandschuhten Hand trat Detective Sam Porter aus der Kabine. »Der rauchende Hausmeister aus dem Cook County – er hat mich angerufen und mir Bescheid gesagt. Sämtliche Taxis in Chicago können per GPS geortet werden, und mein Metro-Passwort funktioniert immer noch, insofern war es nicht allzu schwierig. Ich hab dich von deinem Hotel zum Flughafen verfolgt. Herauszufinden, welchen Flieger du nehmen würdest, war nicht sonderlich schwer – da half auch kein Fake-Name. Schon komisch, mit wie wenig Geld man an jedwede Info kommen kann – aber das weißt du ja selbst. Ich hab einen anderen Flug zum Logan genommen – bin zwölf Minuten vor dir gelandet. Am Mietwagenschalter dachte ich schon, du hättest mich entdeckt, aber das war wohl nicht der Fall. Ich hab auf dem Parkplatz draußen gewartet, als du ins Mike’s gegangen bist, um zu frühstücken. Das war echt hart. Ich hab immer noch einen Bärenhunger. Dann bin ich dir bis hierher nachgefahren.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und nickte zur Tür. »Mir war klar, dass sie alle noch am Leben sind – ich hab’s nicht gleich begriffen, aber ich bin in der Zeit, die ich deinetwegen in U-Haft saß, alles im Kopf noch mal durchgegangen. Als wir vor dem Guyon telefoniert haben, hast du gesagt: ›Sie und ich, wir haben für Mr. Franklin Kirby einen speziellen Platz in unseren Herzen.‹ Gegenwart: nicht hatten , sondern haben. Im selben Moment dämmerte es mir. Mir dämmerte, dass all das nur Nebelkerzen gewesen waren – und mit Kloz’ Hilfe hättet ihr sicher auch keine Schwierigkeiten gehabt, eure Freunde von der Bildfläche verschwinden und sie irgendwo anders wiederauferstehen zu lassen.«
Bishop wollte sich umdrehen, doch Porter hob die Waffe. »Nicht.«
»Okay …«
»Hände auf den Waschtisch.«
»Natürlich, Sam.«
Porter trat einen Schritt näher. Bishops Blick blieb an den Plastiküberziehern über dessen Schuhen hängen. Er hatte sie um die Knöchel mit Paketband fixiert .
»Tun Sie nichts, was Sie später bereuen könnten, Sam.«
Porter gluckste leise in sich hinein. »Ich bereue gar nicht mehr. Ich fühle im Grunde nichts mehr. Du hast es geschafft, diesen Teil von mir abzutöten. Ich hätte dich vor dem Guyon erschossen, wäre das FBI mir nicht zuvorgekommen. Aber genau das hättest du gewollt, nicht wahr? Dass ich dich erschieße. Es hätte wunderbar in deinen Plan gepasst – der Cop, der dich in aller Öffentlichkeit zur Strecke bringt, quasi dein persönliches schwarzes Schleifchen auf deiner eigenen Schachtel, weil so auch noch die letzten Leute, die an deiner Unschuld gezweifelt haben, vom Gegenteil überzeugt worden wären. Porter, der ihn in aller Öffentlichkeit zum Schweigen bringt – da musste er letztlich ja doch die Wahrheit gesagt haben, und der Cop war der Böse. Der Cop ist immer schon der Böse gewesen.«
Bishop sagte zu alledem nichts.
Die Waffe zuckte in Porters Hand. »Hat Warnick eigentlich überhaupt jemanden umgebracht? Oder warst all das auch du? Diese Frau auf dem Friedhof, die auf den Bahngleisen, von denen wir dachten, es wären Tegan und Kristina? Ich wette, das warst du. Du hast sie dort abgelegt und deinen eigenen Modus Operandi imitiert. Du wolltest, dass die Welt glaubte, deine Freundinnen wären tot. Und das hast du dann Warnick untergejubelt, stimmt’s?«
»Warnick war genauso korrupt wie der Bürgermeister«, sagte Bishop leise. »Genau wie Talbot und alle anderen.«
»Mag schon sein«, sagte Porter, »aber er war kein Mörder.«
Auch diesmal sagte Bishop nichts.
Porter nickte zur Tür. »Ich hab deine Mutter auf den Parkplatz fahren sehen. Wer war die Frau, die du in der Farm zurückgelassen hast? Deine Mutter war’s nicht; also – wer dann?«
»Ich weiß nicht, was Sie … «
In einer einzigen behänden Bewegung war Porter hinter ihm und drückte die Mündung der Waffe in Bishops Nacken. »WER ZUR HÖLLE WAR DIE FRAU AUS DER FARM?«
»Schon gut, Sam.« Bishops Stimme klang immer noch vollkommen ruhig.
Dann hörte er ein vertrautes Geräusch. Porter hatte den Hahn seines Revolvers gespannt.
»Sind Sie verkabelt? Zeichnen Sie das hier auf?«
»Nein«, antwortete Porter.
»Sie war ein Niemand, Sam. Mädchen für alles bei BackPage.«
»Die zufällig deiner Mutter ähnlich sah.«
Bishop nickte.
Porter wich ein paar Schritte zurück in Richtung der Klokabinen. Fast eine Minute lang schwieg er. »Poole hat mir die übrigen Tagebücher zu lesen gegeben – die ihm jemand mitten in dem Durcheinander vor dem Guyon hingeworfen hat. Ich hab diesen Zettel nicht hinterlassen – den Zettel, den ihr an Stocks’ Hemd in Finickys Auto gefunden habt.«
Bishop reagierte nicht.
»Ich war das nicht«, wiederholte Porter.
Bishop sah ihn im Spiegel an. »Sie sind genauso korrupt wie der ganze Rest. Ich hab Sie gesehen, dort vor der Farm. Und in der Gasse.«
Porter rieb sich über den Nacken und sah ein paar Sekunden lang ins Nichts. Dann zog er einen Umschlag aus seiner Innentasche und warf ihn auf den Waschtisch direkt neben Bishops Hand. »Lies das.«
Erst rührte Bishop sich nicht. Dann griff er nach dem Umschlag und zog die Seiten heraus. »Was ist das?«
»Hillburns Abschiedsbrief«, sagte Porter tonlos. »Der echte. «
Bishop ließ Porter im Spiegel nicht aus den Augen. Er hielt noch kurz Blickkontakt, dann schaute er auf die Seiten hinab.
»Lies ihn laut vor«, befahl Porter.
Bishop nickte, räusperte sich und fing an zu lesen: »Lieber Sam, ich hab im Leben einiges getan, was du ganz sicher nicht verstehen wirst; ich hab diesen Brief jetzt schon zigmal umgeschrieben, und jedes Mal, wenn ich es neu versuche, hoffe ich, eine Erklärung für meine Taten zu finden, hoffe auf irgendeinen Aha-Moment – irgendwas, was meine Taten rechtfertigen könnte, und zwar nicht nur dir gegenüber, meiner Frau und all denen gegenüber, die zweifellos Fragen stellen werden. Sondern auch mir selbst. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es keine Rechtfertigung gibt. Ich weiß nicht mehr, an welchem Punkt mein Leben diese Wendung zum Schlechten genommen hat. Ich stand nie an einer Art Scheideweg. Stattdessen war es wohl eher eine Aneinanderreihung von kleinen Schritten in die falsche Richtung; einer führte zum nächsten, und ehe ich michs versah, war ich so weit in die falsche Richtung gelaufen, dass es keinen Weg zurück mehr gab. Ein paar Pokerrunden, die ich verloren hatte. Ein paar Dollar, die ich mir von jemandem geliehen hab, den ich für einen Freund gehalten hatte. Ich hab versucht, meine Schulden per Pferdewetten zu begleichen, und musste mir dafür natürlich noch ein bisschen mehr leihen. Diese Leute – die sind freundlich, wenn sie dir Geld in die Hand drücken. Aber das ist vorbei, sobald sie ihr Geld zurückhaben wollen. Stocks und Welderman haben in der Abteilung für Gewaltverbrechen gearbeitet, also nicht mit den Leuten, mit denen du unterwegs warst. Ich habe sie beim Pokern kennengelernt, Welderman pokert jeden Donnerstagabend. Lustig, fast hätte ich dich mal dorthin mitgenommen, aber ich wusste, dass du nicht spielst. Ich frage mich, was passiert wäre, wenn ich dich trotzdem gefragt hätte. Wetten, du hättest mir geraten, mit zwei Assen und Königen auf der Hand auszusteigen? Wenn ich das getan hätte, wäre mein Leben wahrscheinlich anders verlaufen. Aber ich hab dich nun mal nicht dorthin mitgenommen, und ich bin auch nicht ausgestiegen, und einen Monat später steckte ich bis zum Hals in Schulden, also hab ich zugestimmt, dass sie meinen Transporter benutzen durften. Beim zweiten Mal sollte ich fahren. Solche kleinen Schrittchen waren es; immer tiefer in den Sumpf hinein. Du weißt nicht, dass du darin versinkst, bis du bereits knietief drinsteckst. Ich hab sie nie nach den Kindern gefragt. Ich wollte es nicht wissen, und sie haben von sich aus auch nicht darüber geredet. Sie haben ihr Ding gemacht, ich meins. Ich hab mit jeder Fahrt zum Motel einen Teil meiner Schulden abbezahlt. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wann du angefangen hast, uns zu beschatten. Ich hab erst sehr viel später erfahren, dass eins der Kinder deine Visitenkarte gefunden und dich angerufen und erzählt hatte, was da vor sich ging, aber das wusste ich damals noch nicht. Als ich dich das erste Mal drüben auf dem Parkplatz entdeckt hab, wie du das Motel im Visier hattest, wie du meinen Transporter im Visier hattest, war ich mir nicht mal zu hundert Prozent sicher, dass du das warst. Stocks hat mir dann erzählt, dass du es warst. Und er war auch derjenige, der mir gesagt hat, ich soll mich darum kümmern. Ich musste an meine Schulden denken – damit wären sie hoffentlich ein für alle Mal beglichen. Ich wollte das nicht, Sam, das musst du mir glauben! Aber ich war verheiratet, und meine Frau und ich, wir wollten eine Familie gründen. Ich brauchte das Geld. Erst wollten sie, dass ich dich in die Sache mit reinziehe. Ich wusste, dass du niemals mitmachen würdest, nicht du, nicht der geradlinige, ehrliche Sam Porter. Niemals. Nur hab ich ihnen das nicht gesagt. Ich glaube, ich hab dir damals das Leben gerettet, indem ich dich angelogen habe. Bin mir nicht sicher, wie viel Zeit ich mir damit verschafft hatte, aber dir zumindest ein kleines bisschen. Aber warum bist du da nicht einfach abgehauen? Das halbe Revier hat Schweigegeld kassiert – du hättest es einfach nehmen und gehen können. Aber das hast du nicht getan. Ich hab gesehen, wie du mich observiert hast. Ich hab gesehen, wie du mir hinterhergefahren bist. Als du damals in dieser Nacht raus zu der Farm gefahren kamst, als du mich bis dort draußen verfolgt hast … Ab dem Zeitpunkt gab es für dich – und für mich – keinen Weg mehr zurück. Es fällt mir nicht leicht, aber ich sag es einfach so, wie es ist: Wir hatten die Farm verwanzt, wir wussten, dass dieser Junge, dieser Wiesel, dich angerufen und sich mit dir verabredet hatte. Und wir wussten, dass wir mächtig ins Schleudern geraten waren, als du mich bis zu der Farm verfolgt hattest. Deshalb hab ich ihn mit in die Stadt genommen. Ich wusste genau, er würde rausspringen, er würde aus dem Transporter fliehen, und wir wollten es so. Ich wusste, dass er versuchen würde, dir etwas zu übergeben – Beweise, die diese Kinder zusammengetragen hatten. Wir wussten nur nicht, wo sie die Beweise versteckt hatten. Also musste er uns zu den Beweisen führen. Dich natürlich auch. Er hat die Tasche mit dem Geld genommen, die Kamera und uns dann direkt zu dem Notizbuch geführt, das sie dort versteckt hatten – und in dem sämtliche Aktivitäten im Carriage House Inn dokumentiert waren. Als ich dieses Notizbuch sah, als ich es in der Hand hatte … und als dann du dort aufgetaucht bist … Da ist bei mir eine Sicherung durchgebrannt. Das letzte gute Fünkchen in mir verlosch, weil das nun mal die zwangsläufige Folge war. Ich wusste, wenn ich auch nur einen Moment nachdenken würde, wäre ich niemals imstande, auf dich zu schießen. Ich nahm die Waffe, die Stocks mir gegeben hatte, und hab, ganz ohne nachzudenken, den Abzug durchgedrückt.«
Den nächsten Satz las Bishop zunächst nur im Kopf und hielt kurz inne. Als er ihn dann doch laut vortrug, drohte seine Stimme zu versagen.
»Den Jungen hab ich auch erschossen. Das hatten Stocks und Welderman so gewollt. Allerdings brachte ich es nicht fertig, noch einmal auf dich zu schießen. Ich dachte nicht, dass du es lebend auch nur bis ins Krankenhaus schaffen würdest, aber du hast es geschafft, du Betonschädel – du hast es geschafft. Damit war das Spiel für mich aus. Der Junge liegt in meinem Transporter. Ihr kleines Bündel Beweismittel ebenfalls. Sie haben mir gesagt, ich soll es verschwinden lassen, selbst das hab ich vermasselt. Ich hab es behalten. Dachte mir, eine Art Versicherung bräuchte ich, und da wäre es besser, alles sicher zu verwahren. Als du ohne Erinnerung aus dem Koma aufgewacht bist, hab ich mir eingeredet, ich wäre wieder auf der sicheren Seite. Niemand wusste etwas – doch es war nun mal so: Ich wusste es. Egal wie sehr ich versuchte, es zu vergessen – irgendwas hat mich immer wieder daran erinnert, und mit den Jahren sind die Erinnerungen immer lauter geworden. Schuld ist laut. Ich konnte dieses tote Kind draußen in meinem Transporter schreien hören – jede Nacht ein bisschen lauter. Ich wollte nie ein korrupter Cop sein. Eine Aneinanderreihung klitzekleiner Fehltritte hat mich dazu gemacht. Und jetzt sitze ich hier in meinem Keller, neben mir liegt ein Seil, und ich schreibe dir diesen Abschiedsbrief – dazu hat die Schuld mich getrieben. Ich muss diese lauten Schreie zum Schweigen bringen. Die Kinder dürften dir vorwerfen, dass du nicht rechtzeitig eingeschritten wärst; dass du nicht sofort bei der Farm vorgefahren wärst und alle verhaftet hättest. Aber Kinder verstehen nicht, wie man einen Fall wasserdicht macht, sie wissen nicht, was für eine gute Ermittlung erforderlich ist. Ich wahrscheinlich auch nicht. Du schon, Sam. Du hast es immer gewusst. Du bist ein guter Cop. Die Art von Cop, die ich gern gewesen wäre. Tu du das Richtige, für uns beide. Pass für mich auf Robin auf. Sag ihr, dass ich auch mal einer von den Guten war.«
Als Bishop fertig war, las er den Brief ein zweites Mal, diesmal leise für sich. Dann faltete er die Blätter zusammen, schob sie zurück in den Umschlag und legte ihn neben sich auf den Waschtisch.
Porter ergriff als Erster wieder das Wort. »Tegan hatte mich einige Wochen vor meinem Besuch auf der Farm angerufen. Daran erinnere ich mich jetzt. Sie … Sie hat am Telefon wahnsinnig schnell gesprochen. Das Einzige, was ich verstehen konnte, war irgendwas mit Fotos, die sie im Motel von ihr machten. Von der Prostitution hatte ich keine Ahnung. Ich wusste nicht mal, dass sie noch nicht volljährig war. Ich wusste nicht, welche Ausmaße das Ganze hatte. Aber ich hab angefangen, eins und eins zusammenzuzählen – und dann kam dieser Anruf, von diesem Jungen … Wiesel. Er meinte, wir müssten uns treffen, er hätte Beweise für mich …«
»Hillburn hat auf Sie geschossen, als Sie versuchten, die Beweise entgegenzunehmen«, sagte Bishop. »Und anschließend hat er Wiesel erschossen.«
Porter nickte.
»Ich wusste nicht, dass er Sie angerufen hatte«, gab Bishop zu. »Tegan hat mir das nie erzählt, keiner von ihnen hat … ich … Wir hatten keine Ahnung …« Er schien darüber nachdenken zu müssen. Wie anders es hätte kommen können.
Immer noch mit der Waffe in der Hand fragte Porter: »Was ist mit den Mädchen passiert?«
Bishop hätte ihn belügen können, aber er sah keinen Grund. »Tegan und Kristina hatten Finicky im Farmhaus fesseln können, aber keine der beiden hatte einen Vater gehabt, der ihnen beigebracht hätte, wie man ordentliche Knoten macht. Finicky konnte sich befreien und hat Tegan den Revolver abgerungen. Dann hat sie ein paar Leute angerufen. Kirby war einer von denen, die geschickt wurden, um dort sämtliche Spuren zu beseitigen. Ich dachte … Ich dachte, Sie wären auch dabei gewesen. Sie haben Kid zu einem ihrer Pfuscherärzte gebracht, zu Stanford Pentz, aber die Verletzungen waren zu schwer – er war für sie wertlos, also haben sie ihn in Charlotte vor einem Krankenhaus rausgeworfen. Wahrscheinlich hat er noch Glück gehabt, dass sie ihn nicht direkt abgeknallt haben. Die Mädchen wurden in ein anderes Heim gebracht, nach Wisconsin. Dort wurden sie bis zum Verkaufstag im Guyon gefangen gehalten. Vincent, Paul und ich haben das erst bei unserem letzten Treffen mit Dr. Oglesby erfahren. Er war so nett, mir in dieser Nacht mein Messer und das Foto von Mutter und Mrs. Carter zurückzugeben. Zum Dank hab ich ihn bei seinen Kumpels im See versenkt.«
Bishop versuchte erneut, sich umzudrehen, und Porter richtete die Waffe auf ihn. »Gesicht zum Spiegel. Hände auf den Waschtisch.«
Bishop nickte und tat wie geheißen. »Wir haben vor dem Guyon gewartet und sie tatsächlich befreien können. Dann haben wir uns zusammen mit anderen Straßenkindern in einem leer stehenden Brownstone in der West Side versteckt. Sind dort fast zwei Jahre lang geblieben.« Wieder machte Bishop Anstalten, sich umzudrehen. »Sam, ich dachte …«
»Stopp«, blaffte Porter ihn an. »Bleib stehen. Mit dem Gesicht zum Spiegel.«
Durchs Fenster erhaschte Bishop einen flüchtigen Blick auf Kristina, die mit einem breiten Grinsen im Gesicht unten am Ufersaum an Vincents Seite zu kleben schien. Inzwischen war auch Tegan aufgewacht und lachte über etwas, was Libby ihr zurief. Bishops Eltern standen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt daneben und blickten übers Wasser. Alles war so, wie es sein sollte.
Porter sagte lange nichts. Als er wieder das Wort ergriff, hatte seine Stimme eine gewisse Schärfe. »Eine Sache muss ich noch wissen. Die einzige Sache, die mich ehrlich gesagt überhaupt noch interessiert. Die einzige. Hast du Harnell Campbell wirklich die .38er gegeben und ihn zu dem Supermarkt gefahren?«
Bishop antwortete nicht.
»Oder hast du das nur behauptet, damit ich mich auf dich stürze? Ich hab lange darüber nachgedacht. Du wolltest, dass ich wütend werde, du wolltest, dass ich aus der Fassung gerate, dass ich emotional statt rational reagiere. Ich verstehe schon, warum du so etwas hättest sagen wollen. Aber ich muss es von dir hören. War es wahr, oder hast du das einfach nur gesagt, um mich zu provozieren? Ich muss es wissen: Bist du für Heathers Tod verantwortlich? «
Im Spiegel warf Bishop einen Blick auf Porters Schuhe. »Wer weiß noch, dass Sie hier sind, Sam?«
»Keine Menschenseele. Du bist nicht der Einzige, der an falsche Ausweispapiere rankommt.«
Bishop zwang sich, ruhig zu atmen, insgesamt wieder zur Ruhe zu kommen, genau wie Vater es ihn gelehrt hatte. Dann nickte er in Richtung Fenster. »Wenn ich Ihnen die Wahrheit sage, lassen Sie die anderen gehen? Lassen Sie meine Libby gehen?«
Porter nickte. »Versprochen.«
»Alle?«
»Alle.«
Diesmal war Bishop an der Reihe zu nicken. »Es war so, Sam. Ich hätte Heather genauso gut selbst erschießen können. Harnell Campbell war dermaßen high auf Meth – den hätte ich in der Nacht zu allem überreden können.«
Porter erblasste. Er brauchte einen Augenblick, um Bishops Antwort zu verarbeiten. Dann nahm er den Zeigefinger vom Lauf der Waffe und schob ihn über den Abzug.
Er schluckte. Seine Stimme war dünn geworden. »Calli Tremell, Elle Borton, Missy Lumax, Susan Devoro, Allison Crammer, Jodi Blumington – hast du sie ermordet? Hast du Emory gekidnappt? Oder war das Kloz?«
Bishop blickte ins Handwaschbecken hinab. Ein paar Seifenbläschen waren am Rand der Ablaufgarnitur hängen geblieben. Am liebsten hätte er das Wasser aufgedreht und sie hinuntergespült. Er tat es nicht. Stattdessen schloss er die Augen. »Ich hab sie alle ermordet, Sam. Und es war wunderbar.«
Der Schuss aus dem kleinen gemauerten Häuschen war so laut, dass er durch den Park hallte. Auf einigen vorgelagerten Klippen flog eine Handvoll Seemöwen auf und verschwand in den Morgenhimmel, noch ehe das Echo verklungen war.