Kapitel 6
Der Gestank des Todes ließ Dell um ein Haar die Nerven verlieren und das Leichenschauhaus der Polizei fluchtartig verlassen. Er saß im Foyer, hatte von Schmerzmitteln und Schock einen benebelten Kopf und versuchte, nicht zu atmen. Wartete darauf, von einer jungen Polizeibeamtin – die Rosies jüngerer Schwester bis aufs Haar glich – zu den Leichen seiner Frau und Kinder geführt zu werden.
Es war ein heißer Tag, und dieser Teil des Kaps war die letzte Woche wiederholt von Stromausfällen heimgesucht worden. Daher konnten sie noch so viel Desinfektionsmittel auf den Fliesenboden schütten, der Geruch des Todes wäre doch immer stärker. Dell öffnete die Tür nach draußen und atmete gierig die frische Luft ein. Stand in der Sonne mit Blick auf die Kleinstadt-Einkaufsmeile und den Taxistand, schaute auf zu den Bergen, wo es vor nicht mal drei Stunden passiert war.
Im Krankenhaus hatte man ihm Flip-Flops und ein gestreiftes Schlafanzugoberteil gegeben. Seine Jeans hatte er noch an. Sie erzählte die Geschichte seines Geburtstags in Blutflecken und Rissen. Fast schon wieder stylish. Er berührte mit einer Hand seinen bandagierten Kopf. Ein weiterer Verband war um seinen Brustkorb gewickelt worden. Er hatte Fleischwunden und Prellungen der Rippen davongetragen. Das Glas der zerberstenden Windschutzscheibe hatte ein filigranes Netz oberflächlicher Schnittwunden auf der Haut seines Rückens hinterlassen. Davon abgesehen war er unverletzt. Schock und Trauer, nicht körperliche Verletzungen, hatten ihn niedergestreckt, als er versuchte, sich von der Unfallstelle zu entfernen.
Sagenhaftes Glück, sagten die Sanitäter, als sie ihn vom Asphalt kratzten und nach Franschhoek zurückbrachten, hinunter in die Klinik, wo alle so gottverdammt nett zu ihm gewesen waren, dass er beinahe geheult hätte. Keine Tränen, hatte er sich geschworen. Noch nicht. Nicht, bis er wusste, wer seine Familie ermordet hatte.
»Mr. Dell.«
Er hatte sich auf den Bürgersteig sinken lassen wie ein Obdachloser und schaute nun auf, sah die Polizistin vor sich aufragen. Ihr Name war Constable Goliath, was ausgesprochen ulkig war, weil sie doch so winzig war. Dünne braune Arme ragten aus den kurzen Ärmeln ihrer blauen Uniform. Die schweren schwarzen Stiefel und die Waffe in der Pistolentasche an ihrer Hüfte ließen sie aussehen wie eine Figur aus den Mangas, die die Zwillinge so geliebt hatten.
»Mr. Dell, mit Ihnen alles in Ordnung?«
Er umklammerte die nackte Ziegelwand und wuchtete sich auf die Beine hoch. »Mir geht’s gut, vielen Dank, Constable.«
Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Sie müssen das wirklich nicht tun, wissen Sie.« Wirrrrrk-lich.
Ihr Akzent erinnerte ihn an Rosies Eltern. Er würde ihnen die Nachricht überbringen müssen. Es würde ihren Vater vernichten, den Mann, der viele Jahre lang einen Müllwagen gefahren hatte, um genug Geld zu sparen, damit seine außergewöhnliche Tochter eine gute Ausbildung erhielt. Bis zum heutigen Tag kämpfte er damit, Dell nicht Mr. Rob zu nennen.
»Wir könnten uns bis morgen zahnärztliche Unterlagen aus Kapstadt kommen lassen, um sie zu identifizieren«, sagte der Constable. »Sie sollten sich das nicht antun.«
Dell schüttelte den Kopf. Er musste es tun. Andernfalls wäre nichts von alledem real. Er würde sie beerdigen und trotzdem nicht glauben, dass es wirklich passiert war. »Ich will es so. Bringen Sie mich zu ihnen. Bitte.«
Sie nickte. Ging durch das Foyer voraus zu einer verschrammten, hellgelb gestrichenen Pendeltür. Zwei kleine Milchglasfenster starrten ihn wie blinde Augen an. Sie blieb stehen, eine der Türhälften ein Stück weit offen, und der Geruch von verwesendem Fleisch strömte heraus und schlug Dell entgegen. Er gab sich die größte Mühe, sich nicht zu übergeben. Die Polizistin schien wieder etwas sagen zu wollen, schüttelte dann aber den Kopf und ließ ihn eintreten.
Ein Mann in einem fleckigen weißen Kittel lungerte im hinteren Teil des Raums vor einer Wand metallener Kühlschubladen. Seine Haut hatte die Farbe von abgestandenem Bier, vier schwarze Haarsträhnen lagen wie Ranken quer über seinem kahlen Schädel. Er trat vor, als er Dell sah und kam an einem Ventilator vorbei, der einen aussichtslosen Kampf gegen die Hitze und den Gestank führte. Der Wind des Ventilators hob die Haare auf seinem Kopf an, und für einen Moment standen sie wie Antennen ab, bis er außer Reichweite war, wodurch die Haare wieder schlaff herunter fielen.
In dem Raum befanden sich fünf Chromtische, zwei davon leer. Drei waren mit schwarzer, wasserdichter Plastikfolie abgedeckt. Dell erkannte Formen unter der Folie. Der Mann sah den weiblichen Constable an, die nickte. Dann nahm er die Ecke der ersten Folie und schlug sie in einer routinierten Bewegung zurück. Dell musste sich am Tisch festhalten, um nicht zu stürzen.
Später erinnerte er sich nur noch an kurze Momente. Wie Sprungschnitte in einem Kinofilm. Erinnerte sich an die summenden Neonröhren unter der Decke, an das Surren und Klappern des Ventilators. Erinnerte sich an die Geräusche, die der Mann von sich gab, ein permanentes Schniefen und Schlucken, wobei sein Adamsapfel unter der faltigen Haut wie ein Jo-Jo auf und ab hüpfte. Erinnerte sich, dass die junge Polizeibeamtin von den Tischen fortgeschaut hatte. Benutzte all diese Bilder in dem Versuch auszulöschen, was er sah, als die Planen angehoben wurden.
Tommys Gesicht völlig weggebrannt. Sein rechter Arm oberhalb des Ellbogens abgetrennt, nur noch an einem Stück verkohlten Fleischs hängend. Ein Chuck Taylor All Stars-Kinderschuh fast unversehrt an einem abgetrennten Fuß.
Marys Gehirn sichtbar unter einer Schädeldecke, die wie ein Ei aufgeschlagen war. Ein Büschel dunkler Haare stand immer noch seitlich von ihrem Kopf ab. Ihre Beine endeten an den Knien.
Rosie, ein aufgerissener Torso mit verkohlten Innereien. Die wunderschönen Hände fort, an ihrer Stelle nur noch geschwärzte Stümpfe. Die Beine verdreht und gebrochen. Die Augen leere Höhlen in versengtem Knochen.
Dell drehte sich zum Ausgang, stürzte durch die Pendeltüren dem Sonnenlicht entgegen. Stand auf dem Bürgersteig und schnappte gierig nach Luft. Draußen drehte sich die Welt weiter. Autos fuhren vorbei. Er hörte plärrenden Hip Hop aus einer Anlage schmettern. Sah einen Mann und zwei Kinder aus einem KFC kommen, in den Händen Kartons mit gebratenen Hähnchenteilen.
Der Geruch des verbrannten Fleischs seiner Familie steckte Dell noch überdeutlich in der Nase. Er übergab sich. Erbrochenes warm auf seinen nackten Zehen. Er krümmte sich, stand mit den Händen auf die Knie gestützt da, schnappte weiter nach Luft, Speichelfäden zogen sich aus seinem Mund. Eine Frau mit leuchtend grünen Lockenwicklern starrte ihn aus einem verbeulten Auto heraus an, ihr Gesicht wie eine geballte Faust. Er richtete sich auf. Sah die junge Polizeibeamtin, die ihn von der Tür des Leichenschauhauses aus beobachtete. Sie schien selbst den Tränen nahe zu sein.
Ein weißer Volkswagen mit dem blau-goldenen Symbol des South Africa Police Service auf der Tür hielt an. Ein Farbiger in Zivil stieg aus, betrachtete einen Moment lang Dell, ging dann zu dem Constable hinüber. Sie unterhielten sich. Die Polizistin warf Dell einen Blick zu, sah dann wieder den Mann an. Als sie erneut zu Dell hinüber blickte, hatte sich etwas an ihrem Gesichtsausdruck verändert.
Der Zivilpolizist kam zu Dell herüber und klappte seinen Ausweis auf. »Ich bin Lieutenant Palm.«
Dell nickte und wartete, dass der Cop ihm Informationen über den Irren gab, der sein Leben zerstört hatte. Dieser Bastard in dem schwarzen Truck. Dann begriff er, wie stark die Schmerzmittel und der Schock waren, denn er hätte schwören können zu hören, wie der Polizist ihm seine Rechte vorlas.
»Was?«, sagte Dell. »Was ist los?«
Der Cop legte Dell Handschellen an. Er spürte kaum den Schmerz, als das Metall sich in sein geschundenes Fleisch grub. Der Mann packte ihn am Arm und führte ihn zum Wagen. Legte eine Hand auf Dells bandagierten Kopf und drückte ihn in den Fond des Volkswagens hinunter.
Der Bulle sprach. »Sie befinden sich wegen des Mordes an Ihrer Frau und Ihren Kindern in Haft. Verstehen Sie mich?«
Nein. Er verstand nicht.
Der Wagen sackte ein Stück ab, als der Cop sich hinter das Steuer wuchtete. Er ließ den Motor an, und der Volkswagen fuhr los. Dell schaute zu der jungen Constable auf, als sie vorbeifuhren. Auf ihrem Gesicht ein angewiderter Ausdruck.