Kapitel 9

Dell spürte, dass der braune Cop anfing, ihm zu glauben. Anfing, die Möglichkeit zuzulassen, dass er vielleicht nicht hinter dem Steuer gesessen hatte, als der Volvo den Felsvorsprung hinunterstürzte. Dass sie vielmehr von einem schwarzen Pick-up von der Straße gedrängt worden waren. Ein schwarzer Pick-up, der immer noch irgendwo da draußen war.

Sie befanden sich in einem Verhörraum im Polizeirevier von Franschhoek. Die Klimaanlage ratterte und sprotzte, trug aber kaum etwas dazu bei, die Luft in dem fensterlosen Raum zu bewegen. Er registrierte den Geruch von verbranntem Holz und gebratenem Fleisch an Lieutenant Palm, als wäre der Mann von seinem sonntäglichen Barbecue fortgerufen worden. Der Geruch versetzte Dell wieder in das Leichenschauhaus. Er umklammerte die Tischkante, um nicht durchzudrehen.

Palm sprach mit einem Akzent so zähflüssig wie ein Fass Teer. »Sie sagen also, Ihre Frau hätte das Steuer des Wagens übernommen, wann noch mal genau?«

Dell erzählte Palm, was er auch schon dieser spindeldürren Polizistin im Krankenhaus erzählt hatte. Als sie nach dem Mittagessen das Restaurant verlassen hatten, war er mit Mary und Tom nach draußen gegangen, während Rosie noch auf die Toilette ging. Er hielt die Zwillinge an den Händen, während sie um das Haus im Cape Dutch-Stil zum Volvo schlenderten, der Volvo unter einer Kastanie in voller rosafarbener Blütenpracht parkte.

Als Dell ihre Hände losließ, um den Wagen aufzuschließen, rannten die Zwillinge auf den Rasen, der zu einem Weinberg abfiel und jagten eine Nilgans, die sich darüber lautstark beschwerte. Mary kreischte und kam zu Dell zurückgespurtet. Sie versteckte sich hinter den Beinen ihres Vaters, während der schwere Vogel sich in die Luft erhob, nur so gerade eben über einen Zaun weg kam und dann Richtung Drakenstein Gebirge flog. Tommy lachte und imitierte den Schrei des Vogels, als er zurückgelaufen kam.

Dell sah ihre Kellnerin vom Mittagessen in der Nähe der Autos, wohin sie sich auf eine Zigarette geschlichen hatte. Eine Farbige mittleren Alters in einer Gingan-Schürze, die sich das störrische Haar zu einem Dutt zurückgekämmt hatte. Sie bemerkte Dells Blick und lächelte schüchtern, während sie die Zigarette in der hohlen Hand hielt, als stünde sie auf einem Gefängnishof.

Dell schnallte die Kinder auf ihren Plätzen im Auto an und drehte den Zündschlüssel des Volvo und fuhr gerade rechtzeitig seitlich um das Restaurant, als Rosie herauskam. Sie hatten die Plätze getauscht und waren dem Alptraum entgegen gefahren, der darauf wartete, im hellen Sonnenschein über sie herzufallen.

»Und niemand hat es gesehen, als sie die Plätze getauscht haben?«, fragte Palm.

Dell zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich habe niemanden bemerkt.«

»Dann war die Kellnerin also die letzte Person, die sie fahren gesehen hat?«

»Ja.«

»Sie wissen, dass Sie weit über der Promillegrenze lagen, als man im Krankenhaus Ihr Blut untersuchte?«

»Das weiß ich, ja. Ich hatte ja auch fast eine ganze Flasche Wein getrunken. Deshalb ist meine Frau doch gefahren. Sie hatte nur ein Glas gehabt.«

»Und dieser Pick-up … Schwarz, sagen Sie?«

»Ja. Schwarz. Könnte ein Toyota gewesen sein, aber ich bin nicht sicher.«

»Ein Nummernschild haben Sie nicht gesehen?«

»Nein. Es ging alles so schnell. Er tauchte aus dem Nichts auf, und dann hat er uns auch schon gerammt.« Dell unterbrach sich. Erlebte im Geiste noch einmal den Augenblick des Zusammenpralls.

Der Polizist sah Dell an, und dabei schlich sich etwas Nachgiebigeres, Mitfühlendes auf sein Gesicht. »Ich werde noch einmal zu dem Restaurant fahren. Werde mit den Leuten sprechen. Irgendjemand muss doch gesehen haben, dass Ihre Frau das Steuer übernommen hat.«

Dell nickte. Es klopfte an der Tür, und die junge Polizistin steckte den Kopf herein. Sie ignorierte Dell und gestikulierte auf den Korridor. Palm stand auf, schob seinen Stuhl zurück und folgte ihr hinaus. Schloss die Tür hinter sich.

Dell saß da und starrte das verschrammte Holz des Tisches an, in den die Zahlen 26 und 28 geschnitzt worden waren. Rivalisierende Gangs der Cape Flats. Rosies Cousin hatte einer dieser Banden angehört. Dell konnte sich nicht erinnern, welcher. Der Cousin war vergangenes Jahr gestorben, vor seinem eigenen Haus abgeknallt. Sie waren nicht zu seiner Beerdigung gegangen. Dell sah Särge. Einen großen. Zwei winzige. Sah rote Erde, die seine Familie schlucken würde. Spürte, wie sich ihm der Hals zusammenzog. Versuchte, trotzdem zu atmen.

Die Tür ging auf und zwei Männer, die er nie zuvor gesehen hatte, traten ein. Der Schwarze war dürr und sah aus wie ein Zuhälter, trug ein aufdringlich kariertes Sakko, blaues Hemd, beige Hose und graue Slipper mit Goldkettchen. Zuerst nahm Dell noch an, der Weiße wäre ein Rechtsanwalt oder ein Staatsanwalt. Er war um die fünfzig, aber gut in Form, sonnengebräunt, trug einen teuren Anzug, das dichte Haar war sorgfältig frisiert. Dann sah Dell etwas Derbes unter der Sonnenbräune und wusste, dass er einen Bullen vor sich hatte.

»Mr. Dell, ich bin Captain Theron.« Der Bulle hakte seinen Schuh hinter ein Bein des Plastikstuhls, zog ihn zum Tisch zurück und setzte sich. »Würde gern mal mit Ihnen plaudern.«

Den schwarzen Mann stellte er nicht vor, der sich nun gegen die Wand lehnte und Dell mit einem Blick so ausdruckslos wie eine Eidechse auf einem Felsen fixierte.

»Wo ist Lieutenant Palm?«, fragte Dell.

»Zu Mrs. Palm und ihren fünf Töchtern.« Theron formte mit der Rechten eine hohle Hand und bewegte sie in einer Wichs-Geste lachend auf und ab. In seinen blauen Augen lag jedoch nichts als Eiseskälte. »Ich leite die Ermittlungen im Mordfall Ben Baker, daher ist das hier jetzt mein Fall.«

»Warum? Was hat das hier mit Baker zu tun?«

»Vielleicht gibt es keinen unmittelbaren Zusammenhang. Aber Ihre Frau war, wie soll ich sagen, in den Fall verwickelt.«

»Was meinen Sie damit?«

Statt zu antworten, wandte Theron sich an den Zuhälter. »Hey, Chief, tu mir einen Gefallen. Geh mal nachsehen, ob die Ausdrucke schon fertig sind.«

Der Schwarze sah aus, als wollte er protestieren, zuckte dann aber die Achseln und verließ den Raum. Theron hob ein Päckchen Camels an seinen Mund und zog mit den Lippen eine Zigarette heraus. Bot Dell das Päckchen an. »Kippe?« Dell schüttelte den Kopf. Theron gab sich Feuer und beobachtete Dell durch den aufsteigenden Rauch. »Ich kannte Ihren Vater, wissen Sie?«

Dell sagte nichts. Die Dinge kamen momentan von zu vielen Seiten auf ihn zu.

»Sie sind Bobby Goodbreads Sohn, stimmt’s?«

Dell nickte. Sinnlos, es zu leugnen.

Theron lachte, während er paffte. »Der verfluchte, verrückte Yank. Ja, kannte ihn vor dreißig Jahren. Ich war damals noch ganz grün hinter den Ohren, hatte kaum Haare an den Eiern. Aus der Schule schnurstracks in die Armee, war bereit loszuziehen, um in Angola verschissene Kommies abzuknallen. Landete in einer Freiwilligeneinheit, die nicht mal einen Namen hatte. Ich und ein oder zwei andere Weiße und ein Haufen total irrer Buschmänner und einheimischer Stammesangehöriger. Ihr alter Herr war unser kommandierender Offizier. Als ich ihn das erste Mal reden hörte, da dachte ich, der will uns verarschen. Damals lief im Fernsehen Dallas. Erinnern Sie sich noch an Dallas? Mein Gott, ich stand total auf Victoria Principal.« Therons Hände beschrieben zwei schwere Brüste in der Luft vor seinem Brustkorb. Er versuchte es mit einem üblen texanischen Akzent. »Wer hat J. R. erschossen?« Lachte. Dann schaltete er das Lachen aus. »Aber er war echt, Ihr Dad. Einschließlich Cowboyakzent und allem. Das war kurz nachdem die Scheißyanks sich aus Angola zurückgezogen hatten, genau wie davor schon in Vietnam. Er kam und kämpfte für uns. Ich habe nie ein zäheres Arschloch getroffen, das muss ich Ihnen sagen.«

Dell hatte das alles schon mal gehört. Die Legende von Big Bobby Goodbread. Hatte auch die andere Seite gehört. Die Vergewaltigungen. Die als Trophäe genommenen Körperteile. Die toten Babys.

Theron schüttelte den Kopf. »Gottverdammt unfair, was ihm widerfahren ist. Und alles nur, weil er keine Namen nennen wollte. Seine Kumpel verpfeifen, wie es so viele dieser anderen nichtsnutzigen Dreckskerle getan haben. Es laufen Leute frei herum, die haben erheblich Schlimmeres getan als er. Hat nie auch nur einen einzigen Tag im Gefängnis gesessen. Fragen Sie mich, ich muss es wissen.« Strich sich mit einer Hand durch sein stufiges Haar. »Er war ein Mann, Ihr Dad. Er hatte Ehre. Freut mich zu hören, dass er draußen ist.«

Die Tür wurde geöffnet, und der Zuhälter kehrte mit einem Stapel Blätter zurück. Theron nahm sie ihm ab, und der schwarze Mann lehnte sich wieder gegen die Wand.

»Sie haben kürzlich Ihren Job verloren, stimmt’s?«, fragte Theron, jetzt wieder ohne Kameraderie.

»Ja. Die Zeitung, für die ich geschrieben habe, wurde eingestellt.«

»Und was tun Sie dann jetzt so?«

»Arbeite freiberuflich.«

Theron schnaubte. »Soll heißen, Sie sind arbeitslos, richtig?« Dell antwortete nicht. »Dann gab es vielleicht gewisse finanzielle Spannungen?«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Worauf ich gottverdammt hinaus will, kann ich Ihnen verraten. Sie haben sich mit Wein volllaufen lassen und haben den Wagen dann durch die Leitplanke gefahren. Wollten die Familie umbringen und sich selbst gleich mit. Familienmord-Selbstmord. Völlig normale Geschichte für Sie und eine ganze Menge anderer Versager. Zu blöd, dass es in die Grütze gegangen ist und Sie jetzt hier sitzen, und Ihre Frau und die Kinder sind …« Er zog einen Finger quer über seinen Hals.

Dell suchte verzweifelt nach Worten. »Sie sind verrückt. Warum in Gottes Namen sollte ich so etwas tun wollen?«

Theron richtete seine blauen Augen auf ihn. »Wussten Sie, dass Ben Baker Ihre Frau gevögelt hat?«

»Was?«

»Ja, und wie’s aussieht, auch schon eine ganze Weile.«

Dell schüttelte den Kopf. »Das ist obszön. Meine Frau und Kinder sind tot, und Sie kommen mir mit diesem …«

Theron schmiss die Ausdrucke auf den Tisch. »Hier. Lesen Sie mal. Von Bakers BlackBerry.«

Dell nahm eines der Blätter in die Hand. Erkannte Rosies E-Mail-Adresse. Sah, dass die Mail von Baker kam. Las die Worte: Ich will deinen braunen Arsch ficken, bis du nicht mehr sitzen kannst. Las Rosies Antwort: Nichts versprechen, was du nicht auch halten kannst. Überflog die Seiten. Worte sprangen ihm entgegen. Rosie: Hab R gesagt, ich gehe zum Fitnesstraining. Kann dich um fünf sehen. Baker: Ich muss übers Wochenende zu einer Konferenz nach Jo’burg, kannst du mitkommen?

Dell schob die Seiten von sich weg, als wären sie so heiß wie die Flammen, die den Volvo verzehrt hatten. »Ich will meinen Anwalt sprechen.«

Theron nickte. »Ja, ich schätze, den brauchen Sie wohl.«

Der Bulle stand auf und schob die Ausdrucke wieder zu Dell. »Behalten Sie die. Zeigen Sie sie Ihrem Anwalt.« Dann öffnete er die Tür. »Komm, Shaka. Besorgen wir uns was zu trinken.«