Kapitel 19
Fahren. Keine Ahnung, wohin. Oder wie lange. Dell lag unter der Decke, hörte die Reifen auf dem Asphalt. Sie hatten die Stadt hinter sich gelassen. Keine blökenden Hupen mehr, keine schreienden Taxifahrer. Der Wagen war draußen auf offener Strecke und bewegte sich mit konstanter Geschwindigkeit.
Der Mann auf dem Rücksitz sprach nicht, aber es war sein Vater. Ganz sicher. Dell konnte ihn riechen. Derselbe Geruch, der von den Kleidern ausgegangen war, die im Schlafzimmerschrank des Hauses gehangen hatten, in dem er aufgewachsen war. Das schwere Bukett von Nikotin, Alkohol und etwas Undefinierbarem. Der Geruch seines Vaters. Dell und seine Mutter waren in Durban zurückgeblieben, während Goodbread fort war und Menschen tötete. Zuerst in Vietnam und dann in einem Buschkrieg, der die Supermächte an den Arsch Afrikas geführt hatte, angelockt von angolanischem Öl.
Goodbread war Teil der geheimen »verdeckten Operationen« der CIA in Angola gewesen, bis Jimmy Carter sie zurückgezogen hatte. Dann hatte er sich den Südafrikanern angeschlossen, die ihre eigenen Gründe hatten zu versuchen, das marxistische Angola zu erledigen.
Dell lag da und spürte das Holpern des Wagens, hörte jedoch das Zwitschern eines Hubschraubers, damals im Jahre 1988. Im Heck eines Puma der südafrikanischen Luftwaffe hatte er gegen die Übelkeit angekämpft und dabei den Schatten des Hubschraubers verfolgt, der über die gelben Sanddünen der Namib Wüste streifte. Die Sitze waren entfernt worden und Dell hatte auf dem Boden gesessen. Sein Schädel pochte von Alkohol und Flugbenzin.
Zwei südafrikanische Besatzungsmitglieder vorne und fünf Mann hinten bei Dell. Ein Angolaner mit einer leeren Augenhöhle. Ein animalisch aussehender Afrikaner. Ein kindsgroßer Buschmann runzlig wie eine Schildkröte. Ein kubanischer Kriegsgefangener. Und Earl Robert Goodbread.
Seit Mitternacht, als Dell – der oben in Südwestafrika war und über die letzten Tage des Buschkriegs berichtete – seinem Vater in einer Schänke in Windhoek über den Weg gelaufen war, hatte er Bobby Goodbread auf Portugiesisch, Deutsch und Afrikaans Reden schwingen hören.
»Sprachen sind wie gottverdammte Viren, Junge. Sie fliegen mir einfach zu«, hatte Goodbread ihm bei einer der seltenen Gelegenheiten in Dells Kindheit gesagt, als er mal zu Hause gewesen war.
Und jetzt sprach er Spanisch mit dem kubanischen Mig-Piloten, der abgeschossen und vor der internationalen Presse in Windhoek zur Schau gestellt worden war. Der Kubaner saß mit dem Rücken zur Seitentür des Hubschraubers und starrte auf seine gefesselten Hände. Goodbread kauerte in seinem ausgebleichten braunen Tarnanzug neben ihm. Mit fünfzig war er sonnengebräunt und durchtrainiert, auf markante Art gutaussehend wie Clint Eastwood. Weiße Zähne, sichtbar bei seinem Leck mich am Arsch-Grinsen.
Im Lärm der schlagenden Rotoren schnappte Dell das Wort niños auf. Das ließ den Kubaner aufblicken. Er nickte, murmelte etwas auf Spanisch. Dell meinte, dos zu hören. Der Gefangene hielt seine gefesselten Hände auf Kopfhöhe, dann noch ein wenig höher. Zeigte vielleicht, wie groß seine beiden Kinder waren. Versuchte ein unsicheres Lächeln. Er hatte dunkles Haar, beinahe ein hübsches Gesicht. Eine Prellung um das linke Auge.
Goodbread sagte etwas und zeigte auf Dell. Der Kubaner fragte auf Englisch: »Das ist Ihr Sohn?«
»Si«, antwortete Goodbread.
»Okay. Ich erkenne es.«
Goodbread lachte. Dell schloss die Augen. Am Abend zuvor war er mit einem Burschen von der New York Times auf Sauftour gewesen und wusste, dass es Zeit war zu gehen, als die Schänke sich zu drehen begann und der Korrespondent seine Zunge im Hals einer Nutte verlor, die aussah wie Grace Jones. Als Dell sich durch die Menge drängte, spürte er, wie jemand ihn am Arm packte. Drehte sich um und sah seinem Vater ins Gesicht.
»Willst du deinen Dad denn nicht mal begrüßen?« Diese Stimme. Groß und laut wie Texas.
Dell schüttelte seine Hand ab. Er hatte seinen Vater seit zehn Jahren nicht mehr gesehen und wollte weiter gehen. Doch er wusste, wenn er sich nicht hinsetzte, würde er stürzen. Also ließ er sich auf einen Stuhl sacken. Bobby Goodbread schenkte ihm einen Jack und Coke ein und drückte ihm das Glas in die Hand.
Die Nacht verging in einem verschwommenen Alkoholnebel. Bei Tagesanbruch hatte Goodbread Dell erzählt, dass er und seine Männer den Kubaner zurück zur angolanischen Grenze eskortierten. Bot an, Dell auf dem Flug mitzunehmen, damit er einen Kriegshelden der Roten mal aus der Nähe zu sehen bekam. Dell war viel zu betrunken, um abzulehnen. Eine Stunde später, mit dröhnendem Kopf und sich drehendem Magen, bedauerte er seine Entscheidung.
Goodbread hockte neben dem Gefangenen, steckte eine Zigarette an und gab sie ihm. Der Mann sagte »Gracias.«
»Dann fliegst du also gern?«, fragte Goodbread auf Englisch.
»Si, ich liebe es«, antwortete der kubanische Flieger.
»Willst du wieder fliegen?«
»Si, ich hoffe, dass ich das werde.«
»Dann kann’s gut sein, dass du Glück hast, amigo.«
Goodbread nickte dem Buschmann zu, der daraufhin die Tür des Hubschraubers hinter dem Kubaner aufschob. Dell spürte den Zug des Windes, als ihm die Haare in die Augen flogen. Umklammerte das Schott hinter sich. Sah, wie der südafrikanische Pilot mit seiner Ray-Ban Aviator über die Schulter nach hinten blickte. Die Sonne funkelte auf einem Goldzahn, als er unter seinem Magnum P.I.-Oberlippenbart grinste.
Der Gefangene drehte sich um und starrte auf die endlose Weite der Wüste hinunter. Der Pilot zog den Hubschrauber in Schräglage, und der Kubaner begann, rückwärts aus der offenen Tür zu rutschen, während seine gefesselten Hände verzweifelt nach Halt suchten. Goodbread stand auf, als Surfer trittsicher, holte mit einem Stiefel aus und erwischte den Kubaner am Kopf. Trat ihn wieder. Der Mann hing einen Moment lang in der Tür, die Augen weit aufgerissen, die Kleidung im Wind flatternd, dann war er fort, schreiend, ein schwarzer, dem gelben Sand entgegen stürzender Fleck.
»Adios«, sagte Goodbread, und der Buschmann riss die Tür wieder zu. Sein Vater brüllte dem Piloten zu: »Was ist denn hier gerade passiert?«
»Der rote Wichser ist abgehauen, Major.«
Goodbread grinste Dell von oben an. Forderte ihn zum Widerspruch heraus. Dell schwieg, und sein Vater ignorierte ihn für den Rest des Fluges und ließ ihn dann auf einem Feldflugplatz unmittelbar südlich der angolanischen Grenze stehen. Dell schrieb nie auch nur ein Wort über das, was er in dem Hubschrauber erlebt hatte. Sprach auch nie darüber.
Nach dem Ende des Buschkriegs hatte die südafrikanische Sicherheitspolizei Verwendung für Goodbreads Talente gefunden. Das letzte Mal hatte Dell ihn 1994 im Fernsehen gesehen. Als er wegen des Massakers an einer schwarzen Familie in einem Township östlich von Johannesburg vor Gericht stand.
Dell hörte Türen schlagen. Der Motor des Wagens im Leerlauf, Männer unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Er rappelte sich hoch und wollte sich gerade die Decke vom Kopf ziehen, als er eine Hand auf seinem Rücken spürte.
»Mach das, Junge, und du wirst wahrscheinlich erschossen«, sagte sein Vater. »Da draußen sind Männer, die sind scheu wie Rehe.«
Dell ließ sich von dem Auto fortführen. Flip-Flops klatschten auf Beton. Wurde in ein anderes Fahrzeug geschoben. Höher über dem Boden. Ein Pick-up oder ein SUV. Der Geruch seines Vaters folgte ihm hinein. Er nahm neben dem Alkohol und den Zigaretten noch etwas wahr. Etwas Säuerliches, fast Medizinisches. Hörte das tiefe Grummeln eines großen Motors, und sie waren wieder in Bewegung.