Kapitel 29

Sunday marschierte den Berg hinauf zu der Hütte und balancierte dabei einen Wasserbehälter aus Plastik auf dem Kopf. Der Behälter war schwer, enthielt zwölf Liter, dennoch bewegte sie sich mit trittsicherer Anmut und musste nur von Zeit zu Zeit die Hand heben, um ihre Last zu stabilisieren. Sie war unten bei der Gemeinschaftszapfstelle gewesen. Hatte sich hinten anstellen müssen, während Frauen ihre Eimer und Kalebassen füllten. Lauschte mit einem Ohr ihren Klagen über Taxikriege, Krankheiten und Armut. War erleichtert, als sie das Wasser in ihren Behälter prasseln hörte.

Mit jedem ihrer Schritte heiterte sich ihre Laune auf. Heute war der Tag, an dem sie frei sein würde. Frei von ihrer Tante, die sie die letzten zehn Jahre als Dienstmagd benutzt hatte. Frei von dem alten Hund, der sie für sein Bett gekauft hatte.

Sie kam an drei mageren Ziegen vorbei, deren Beine ungleichmäßig gewachsen waren, weil sie sich bei ihrer Suche nach Futter an die Abhänge klammern mussten. Ließ sie an ihre Tante denken, die unter einer Rache leiden musste, nachdem sie sich in die Angelegenheiten eines Nachbarn eingemischt hatte. Die Frau hatte einen Medizinmann bezahlt, damit er Ma Beauty verfluchte, und ihr Bein war beinahe über Nacht verkümmert. Oder das sagte sie zumindest so.

Heute war der Tag, an dem Ma Beauty hinunter nach Bhambatha’s Rock ging, um ihre Invalidenrente abzuholen. Sunday hatte gehofft, die Frau wäre bereits fort. Doch als sie Rauch aus dem Kamin der Hütte aufsteigen sah, wusste sie, dass ihre Tante immer noch zu Hause war und sich den starken Tee aufbrühte, den sie jeden Morgen trank. Warf stinkende Kräuter und Pulver ihres eigenen Medizinmanns hinein, um sich vor bösem Zauber zu schützen.

Sunday würde Ma Beauty also ein letztes Mal sehen müssen. Ein letztes Mal. Diese drei Worte zauberten ein Lächeln auf ihr Gesicht, als sie über das trockene und zerklüftete Tal blickte. Morgen würde sie schon in Durban aufwachen. Am Meer. Sie hatte das Meer noch nie gesehen. War noch nie weiter als Dundee von hier fort gewesen, gerade mal eine Autostunde entfernt.

Sunday empfand eine Mischung aus großer Angst und Aufregung. Besonders, wenn sie an Sipho dachte. Sie sah sein Lächeln, sah die schlanken Finger seiner Hände auf dem Lenkrad seines Autos. Er sah so gesund aus. Er hatte ihr gesagt, er nähme Medikamente, die Pillen, denen die Menschen aus ihrer Gegend so abergläubisch gegenübertraten, und esse sauberes Essen. Sagte, wenn man achtsam sei, dann könne man sehr alt werden.

Und er praktiziere etwas, das er Safer Sex nannte. Er hatte ihr das sehr ernst erklärt, als er eine seiner Broschüren aus dem Englischen übersetzte, zeigte die Bilder von diesen Plastikdingern, die wie Luftballons aussahen. Sie hatte gespürt, wie ihre Wangen ganz heiß geworden waren, und sie hatte ihren Blick abwenden müssen.

Sunday empfand ein Durcheinander an Gefühlen, wenn sie an ihn dachte. So als würde sie am liebsten gleichzeitig lachen und weglaufen und sich verstecken. Sie fragte sich, ob er für sie wohl das Gleiche empfand. Er spürte sie immer auf, oder nicht? Jedes Mal, wenn er aus Durban hier war.

Während sie sich nun der Hütte näherte, sagte sie sich, nicht so dumm zu sein. Sie lief nicht mit Sipho davon. Er half ihr, vor dem alten Hund zu entkommen. Das war alles. Sie musste sich konzentrieren. So hatte sie keine Zeit für Tagträumereien.

Sunday bückte sich in die Hütte und stellte den Wasserbehälter auf den Boden. Ihre Tante kauerte neben dem Feuer, die eiserne Teekanne blubberte.

»Morgen, Ma«, sagte Sunday.

Die Frau grunzte und massierte ihr verkümmertes Körperglied. »Mein Bein tut weh. Du musst mit mir in die Stadt gehen.«

Sunday spürte, wie sich ein Hohlraum in ihrem Herz öffnete. »Aber, Ma, ich muss arbeiten.«

Ihre Tante schüttelte den Kopf. »Es sind die letzten Tage vor deiner Hochzeit. Man wird erwarten, dass du viel zu tun hast.«

»Ich muss mein Geld holen.« Das einzige Geld, das sie besaß. Das Geld, mit dem sie nach Durban kommen würde.

»Hol’s morgen.«

»Bitte, Ma …«

Die alte Frau packte das Fleisch von Sundays Bein. Ihre knochigen Finger kniffen wie ein Skorpion. »Du! Was bildest du dir eigentlich ein, wo du bist, Mädchen? In der Stadt? Dass du einem Älteren gegenüber so respektlos sein kannst?«

Sunday blieb gelassen. Weigerte sich, Schmerz zu zeigen.

Ihre Tante legte eine Hand an die Wand und zog sich auf die Füße hoch, keuchte dabei schwer. »Und jetzt beeile dich. Ich will früh in die Stadt, damit ich mir für deine Hochzeit noch Schuhe kaufen kann.« Sah Sunday von oben herab an. »Dass ein Mädchen wie du so viel Glück haben kann, werde ich wohl nie verstehen.«

Also ging Sunday mit ihrer Tante den Berg hinunter, musste ihr Gestöhne und ihre gebrummelten Flüche ertragen, musste sie abstützen, während sie den steinigen Weg überwanden. Als sie die Straße erreichten, hielt ein Taxi an, und zwei Frauen stiegen ein. Der Beifahrer stand mit einer Hand auf der Schiebetür da, drängte Sunday und ihre Tante zur Eile, knallte dann hinter ihnen sofort die Tür zu.

Ma Beauty zwängte sich auf einen Sitz, machte Platz für Sunday. Der Fahrer ließ bereits den Motor aufheulen, als Sunday aufsprang, die Tür wieder aufriss und hinaussprang. Schloss die Tür hinter sich. Sah dem Taxi hinterher, sah das Affengesicht ihrer Tante – deren Mund lautlos brüllte – in der Staubfahne verschwinden.

Sunday war der Frau gegenüber noch niemals ungehorsam gewesen, und sie fühlte sich beschwingt, als sie zurück den Berg hinauflief. Sie hatte eine Stunde, um ihre Sachen zu packen und runter ins Zulu Kingdom zu kommen. Zu ihrer letzten Vorstellung.

Sunday zog sich aus und wusch sich. Zog ihr bestes weißes Höschen an, Jeans, ein gebügeltes T-Shirt. Dann packte sie ihre gesamte Habe in eine Einkaufstüte. Eine weitere Jeans. Zwei T-Shirts. Zwei Höschen. Ihre Zulu-Bibel. Legte das verkohlte Fotoalbum oben auf ihre Kleidung. Ließ das Kurbelradio und ihren niedrigen Stapel eselsohriger Schulbücher zurück. Wo sie jetzt hinging, gab es keine Verwendung mehr dafür.

Sunday verließ die Hütte. Einen Moment lang blieb sie stehen und blickte über das Tal zu der Stelle hinüber, wo ihre Familie ermordet worden war. Verabschiedete sich. Dann ging sie den Berg hinunter.