10. Kapitel

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Ein warmer Körper lastete auf meinem – der ganzen Länge nach. Raue Hände rieben kräftig über meine bloßen Schenkel, die Hüften, meine Arme und wieder zurück. Para nada, vergeblich. Mir würde nie wieder warm werden.

Meine Finger und Zehen brannten, während mich ein frostiger Schauer nach dem anderen schüttelte. Zwischen Kayemo und mir befand sich kein Fitzelchen Stoff und ich spürte jeden Zentimeter seines glatten Körpers, jede Rippe, jeden Knochen.

Kein Zweifel: Er hatte mir die nassen Klamotten ausgezogen. Hatte er sonst noch was gemacht? Nein, dachte ich, niemals, nicht Kayemo.

Ich hatte ihm nah sein wollen, nun war ich es. Seine feuchten Haare lagen an meiner Wange und sein warmer Atem streifte meine linke Brust.

»Wach auf, kleiner Fuchs.«

Aufwachen? Kleiner Fuchs? Meinte er mich?

Nein, ich wollte nicht aufwachen. Ich wollte weiterträumen – für immer. Von seiner Wärme, seinen Händen.

»Komm schon, Mara, sprich mit mir!«

Sprechen? Zu viel verlangt. Kayemos Haut brannte auf meiner, doch meine Zähne klapperten, sodass ich kein Wort herausbrachte. Und außerdem: Mir war ausnahmsweise mal nicht nach Reden.

Oh mein Gott – das war keiner meiner Wunschträume. Kayemo lag wirklich auf mir, und ich konnte die ganze Hitze spüren, die er in sich hatte. Noch völlig benommen rekapitulierte mein Hirn, was passiert war: der Bär, der Baum, der plötzliche Wind und der eisige Regen. Dann der Berglöwe und das Kampfgetümmel. Mein misslungener Abstieg von der Pinie. Meine Knochen taten nicht mehr weh als zuvor, also schien der Sturz keinen ernsthaften Schaden angerichtet zu haben. Und zu gefrostetem Bärenfutter war ich auch nicht geworden.

Ein gnädiger Schutzgeist hatte sich meiner angenommen und den Bären in die Flucht geschlagen. Dann hatte er Kayemo zu mir geführt und der hatte mich in Sicherheit gebracht. So und nicht anders musste es gewesen sein.

In einem meiner Abenteuerbücher hatte ich mal gelesen, dass man halb Erfrorene, in Ermangelung alternativer Wärmequellen, am effektivsten mit seiner eigenen Körperwärme auftauen konnte – und zwar nackt, damit die Wärme nicht erst noch Kleidung durchdringen musste. Und genau das tat mein Retter gerade hingebungsvoll: mich auftauen.

Kayemo trug keine Unterhose. Dass er sie ausgezogen hatte, traute ich ihm nicht zu, viel wahrscheinlicher war, dass er gar keine besaß. So oder so – das Ganze war unendlich peinlich, deshalb mimte ich weiterhin Ohnmacht und überließ mich Kayemos Händen, die eher grob als zärtlich waren. Außerdem war es eng. Keine Ahnung, wie es ihm gelungen war, uns beide in seinen Schlafsack zu zwängen und auch noch den Reißverschluss zuzuziehen.

Kurz fragte ich mich, wie wir aus dieser Nummer wieder herauskommen sollten, aber dann schalteten sich die aufkommenden Gedanken ab und mich überkam die reine, unbändige Freude, am Leben und in Sicherheit zu sein.

Nach einer Weile hatten Kayemos unbeirrte Bemühungen Erfolg. Das Zittern in meinem Körper hörte auf, genauso wie das Brennen in meinen Fingerspitzen und Zehen, als mein Blut auftaute und wieder in Bewegung kam. Wohlige Wärme kroch unter meine Haut und ich spürte ein weißes Pulsieren in meinem Schoß, als Kayemos Körper auf meinen reagierte.

Was ich dann tat, ließ sich nicht vernünftig erklären – wie alles, was ich getan hatte, seit ich diesem Jungen begegnet war. Aber in mir war wieder Leben und jetzt wollte ich es mit allen Sinnen fühlen – durch ihn.

Viel hatte nicht gefehlt und es wäre schiefgegangen. Dieser Gedanke versetzte Kayemo so sehr in Panik, dass es ihm unheimlich war. Er hatte Mara höchstens eine halbe Stunde aus den Augen gelassen, und in der kurzen Zeit hatte sie es geschafft, beinahe von einem Bären gefressen zu werden und zu erfrieren.

Mara war bis auf die Haut nass gewesen und schien nur halb lebendig zu sein, als er sie unter der Pinie fand. Viel Zeit für lange Überlegungen war deshalb nicht gewesen. Er hatte sie den Berg hinaufgetragen und getan, was getan werden musste.

Anfangs war es ihm so vorgekommen, als würde er einen Eiszapfen umarmen, doch jetzt kam endlich wieder Leben in Maras Körper. Noch nie war Kayemo einem fremden Menschen so nah gewesen. Haut, die sich an anderer Haut rieb, bis er nicht mehr wusste, was seine und was Maras Wärme war.

Doch nun – als wäre er nicht schon völlig verloren – kamen noch Maras Hände dazu, die fraglos überall dorthin wanderten, wo es ihnen gefiel. Noch nie hatte ihn jemand auf diese Art berührt. Ihm stockte der Atem, so hilflos fühlte er sich, so ahnungslos und so ausgeliefert.

Sein Herz schlug wild und ein Strom glühender Erregung schoss durch seinen Körper. Kayemo hörte sich stöhnen, er durchlitt ein Verlangen, auf das ihn nichts und niemand vorbereitet hatte. Was immer auch als Nächstes passieren mochte, sein Verstand sagte ihm, dass es falsch war. Doch sein Körper hatte seine eigenen Vorstellungen und wollte nicht gehorchen.

Als Mara sich in der warmen Enge des Schlafsackes gegen ihn drängte, konnte er kaum glauben, was sie da tat. Kayemo hatte das Gefühl, in einen Fluss zu stürzen und mit der Strömung auf einen Abgrund zuzutreiben. Das bringt mich um, dachte er, aber hoffentlich nicht gleich.

Sein Verstand wirbelte davon und er spürte sich selbst, wie es ihm noch nie ergangen war. Nichts hatte sich je so angefühlt. Nichts. Sein Gesicht in Maras Halsbeuge vergraben, bewegte er sich hastig in ihr. Ließ sich davontragen von Empfindungen, die ihn bis an den Rand seines Bewusstseins trieben, und ahnte, dass hier und jetzt ein Teil seines Lebens endete und ein neuer begann.

Plötzlich schien sich jede Faser seines Körpers zu verkrampfen. Alles in ihm und um ihn verdichtete sich zu einem einzigen, namenlosen Augenblick. Und jenseits davon existierte er nicht mehr.

Das Gefühl, Kayemo zu spüren, war überwältigend, doch viel zu schnell vorbei. Noch bevor ich wieder einen klaren Gedanken fassen und ein Wort herausbringen konnte, hörte ich das grausame Geräusch des Schlafsackreißverschlusses. Kayemo entzog mir seine Wärme und riss mich aus der Schwerelosigkeit. Jäh plumpste ich auf den Boden der Tatsachen.

Ich mummelte mich tiefer in den Schlafsack und sah ihm dabei zu, wie er trockene Sachen aus seinem Rucksack holte und in seine zerschlissene Jeans stieg. Kayemo wandte mir den Rücken zu und ich betrachtete seinen dunklen Körper, das Spiel der flachen Muskeln unter seiner von hellen Narben gezeichneten Haut. Den Bogen seines Rückgrats, die eckigen Schulterblätter, den schmuddeligen Verband an seinem Oberarm.

Bitte, sag was!

Kayemo schlüpfte in sein SUPERBIRD-Shirt und fuhr sich mit der Faust über die Augen. »Ich gehe Holz sammeln, ehe es dunkel wird«, verkündete er, ohne sich umzudrehen. »Rühr dich hier nicht weg!«

Als er verschwunden war, setzte ich mich auf und rieb mir das Gesicht. Meine Wange, mein Hals waren feucht, dort, wo Kayemos Gesicht an meinem gelegen hatte. Brennende Scham überflutete mich, als ich begriff, dass die Nässe Tränen waren. Es fühlte sich an, als würde sich die Erde unter mir auftun. Ich schloss die Augen und wollte mich in Luft auflösen, wusste bloß nicht, wie.

Ich hatte es verbockt. Wenn Kayemo mir die Wahrheit erzählt hatte, und davon ging ich aus, war dies sein erstes Mal gewesen. Ich hatte angenommen, er mochte mich, doch offensichtlich hatte ich mir etwas vorgemacht. Mich vor dem Kältetod zu bewahren, war der einzige Grund, warum Kayemo sich mit mir nackt in diesen Schlafsack gezwängt hatte. Seine Absichten waren nichts anderes als lebensrettende Maßnahmen gewesen und seine Reaktion eine rein körperliche.

War das, was wir getan hatten, ein Verstoß gegen die Regeln seiner Welt? War es eine Art Eheversprechen für ihn, von dem er wusste, dass er es nicht einhalten konnte? Verachtete er mich jetzt deswegen?

Der Gedanke traf mich mit voller Wucht und schnürte mir die Kehle zu. Hier in den Bergen konnte ich Kayemo nicht aus dem Weg gehen. Es war nur eine Frage von Minuten und ich würde ihm ins Gesicht sehen müssen. Dabei wollte ich auf keinen Fall nackt sein.

Eilig schälte ich mich aus dem warmen Schlafsack, zog trockene Sachen an und breitete unsere nasse Kleidung über die Steine. Es war so kalt, dass ich meine Fleecejacke aus dem Rucksack holte und überzog. Mit klammen Fingern versuchte ich, mein feuchtes Haar zu entwirren, doch das war aussichtslos. Viel zu schnell kam Kayemo mit einem Arm voll Brennholz zurück.

Cool bleiben, Mara.

Nachdem er mit etwas trockenem Gras und verdorrten Salbeibüschen das Feuer entfacht hatte, holte Kayemo den Topf und die Dose mit den Chilibohnen aus seinem Rucksack. Er öffnete die Dose und füllte die Bohnen in den Topf. Die ganze Zeit vermied er es, mich anzusehen, und ich bekam in seiner Gegenwart auf einmal kein Wort mehr heraus. An seiner Miene war nicht abzulesen, ob er meiner überdrüssig war, wütend, verletzt oder einfach nur durcheinander.

Aber was es auch war: Zwischen uns hatte sich etwas verändert. Eine Grenze war überschritten, die Wir-sind-nur-Freunde-Grenze, und es gab kein Zurück mehr. Auch wenn das bestimmt nicht seine Absicht gewesen war: Kayemo hatte sich in jeder Zelle meines Körpers festgesetzt und irgendwie musste ich nun damit klarkommen.

Ich wollte ihm sagen, dass er sich keine Gedanken darum machen musste, ich könnte schwanger werden. Weil ich die Pille nicht vertrug, hatte mir meine Frauenärztin zu einer Kupferkette geraten. Hormonfreie Verhütung und keine vergessene Pille mehr – aber würde er das verstehen?

»Falls du …«, setzte ich zaghaft an und eine weiße Atemwolke stieg vor meinem Mund auf.

»Wieso bist du auf diesen Baum geklettert, Mara?« Endlich sah er mich an, und ich atmete erleichtert auf, denn in seinem Blick stand alles, nur keine Verachtung.

»Da war plötzlich dieser Bär und der Baum war der einzig erreichbare Zufluchtsort.«

Kayemo wandte das Gesicht zur Seite, um sein Lächeln vor mir zu verstecken – doch ich hatte es gesehen. Langsam fiel die Anspannung von mir ab. Vielleicht mochte er mich ja doch ein bisschen.

»Schwarzbären sind hervorragende Kletterer. Wusstest du das nicht?«

»Doch. Aber ich habe nicht nachgedacht und wusste auch nicht, was ich sonst hätte tun sollen.«

Als das Feuer ein Stück heruntergebrannt war, stellte Kayemo den Topf mit den Bohnen an den Rand der Glut und legte die Tortillas über die heißen Steine. Unsere nassen Schuhe, die auf der anderen Seite des Feuers standen, begannen zu qualmen.

Die Sonne kam hinter den Wolken hervor. Sie schien in die Halbhöhle und erhellte unsere Gesichter.

»Du warst völlig unterkühlt, Mara, das hätte auch böse enden können. Schau mal.« Kayemo nickte hinüber zur Hügelkette hinter dem gewundenen Tal. Der Capulin und die Kuppen der anderen Berge schimmerten weiß, darüber spannte sich, vollkommen und klar, ein breiter Regenbogen in leuchtenden Farben.

Es war ein unwirkliches Bild – voller Magie. Als hätten wir alles richtig gemacht und das war die Belohnung. »Woah! Schnee im Juni und ein Regenbogen.« Ich hätte nie gedacht, dass es um diese Jahreszeit in New Mexico derart kalt sein konnte.

»Wir sind hier fast neuntausend Fuß über dem Meeresspiegel«, erklärte Kayemo. »Da kommt es schon mal vor, dass es im Juni schneit. Es war mein Fehler. Ich hätte dich nicht alleine losschicken dürfen.«

Ich griff nach seinem Arm. »Wir müssen reden, wir zwei. Über das, was zwischen uns …«

Kayemo schüttelte den Kopf, und ich verstummte, als ich seinen kummervollen Blick sah.

»Ich wollte das nicht, Mara!«, stieß er hervor. »Aber ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Du hast mit den Zähnen geklappert wie eine Kürbisrassel und warst kalt wie ein Frosch.«

Na super! »Du hast mir das Leben gerettet«, murmelte ich, einen dicken Kloß im Hals. Ich wollte das nicht, Mara. »Und ich dachte, du … du … ach du Scheiße!«

Hinter Kayemo war ein großer Katzenkopf aufgetaucht. Schwarze Nasenlöcher, mattgelbe Augen. Ein blutiger Kratzer zierte das weiße Fell um Cojas Schnauze.

»Bedank dich bei ihr«, sagte er.

Die Berglöwin hatte sich völlig lautlos bewegt und Kayemo konnte sie nicht gesehen haben, es sei denn, er hatte auch hinten Augen im Kopf. Coja ließ sich an seiner Seite nieder und leckte ihre Wunden.

»Woher wusstest du, dass sie da war?«

»Ich sehe nicht nur mit den Augen, Mara.«

Ja, klar! Cojas Raubtiergeruch stieg mir in die Nase. Kayemos Sinne waren schlichtweg ausgeprägter als meine, deshalb hatte er es gewusst.

Er holte den Topf aus dem Feuer und kippte einen Teil der Bohnen in die Dose zurück, die er mir zusammen mit einer warmen Tortilla reichte.

»Hier, du brauchst dringend was Warmes im Bauch.«

Ich beobachtete Kayemo dabei, wie er einen Tortillafladen zusammenrollte und damit die Bohnen aus dem Topf löffelte – und machte es ihm nach. Er hatte recht, es tat wirklich gut, etwas Warmes im Bauch zu haben.

Nachdem Kayemo aufgegessen hatte, begann er, Coja hinter den Ohren zu kraulen und in Tiwa mit ihr zu sprechen, als wären sie gleichwertige Wesen und er hätte ihr etwas Wichtiges zu erzählen. Was er sagte, klang wie eine Liebeserklärung und ich wurde eifersüchtig. Eifersüchtig auf die Worte, die ich nicht verstand, auf die Zärtlichkeiten, die Kayemo der Berglöwin zukommen ließ und mir verweigerte. Meine Gefühle waren absurd, aber ich war ihnen hilflos ausgeliefert.

Nachdem die Sonne untergegangen war, wurde es schnell dunkel und ungemütlich kalt. Wir krochen in unsere Schlafsäcke – jeder in seinen.

»Was glaubst du«, fragte ich, »werden deine Mutter und dein Großvater mich mögen?« Bisher hatte ich mir darum kaum Gedanken gemacht, aber nun, da wir am nächsten Tag Kayemos Zuhause erreichen würden, tat ich es.

»Ich mag dich, das muss dir genügen.«

Ich kämpfte mit den Tränen. »Meinst du das ehrlich?«

»Ja, wieso nicht?« Er schwieg eine Weile, dann fragte er: »Warum bist du mir in die Berge gefolgt, Mara? Ich muss es wissen.«

»Kannst du dir das nicht denken?«

Schweigen. Doch sein Gesichtsausdruck genügte mir als Antwort. Nein, konnte er nicht.

»Was … was willst du von mir?«

»Was ich von dir will?« Verflixt noch mal! »Ich … du konntest dich an nichts erinnern und ich wollte dir helfen«, antwortete ich, was bestenfalls die halbe Wahrheit war.

»Warum?«

»Warum ich dir helfen wollte?«

»Ja.«

»Weil … weil … Hast du denn nicht gemerkt, dass ich dich gernhabe?«

Meine halbherzige Liebeserklärung verhallte in der Nacht, eine Antwort auf meine Frage bekam ich nicht.

»Woher wusstest du, dass ich komme?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Dein Rucksack, der stand fertig gepackt in deinem Zimmer, als ich in dein Haus kam.«

Verdammt! »Ich wollte mit einem Freund in den Bergen wandern. Aber er hat sich am Fuß verletzt, deshalb wurde nichts daraus.«

»Zum Glück«, sagte er. »Ohne mich bist du hier draußen nämlich verloren.«

Ich lächelte in mich hinein. »Vielleicht wusste ich ja doch, dass du kommst.«

Daraufhin herrschte Schweigen, nur das Knacken der Äste im Feuer war zu hören.

»Ist dir auch warm genug?«, fragte Kayemo nach einer Weile.

»Ja«, flüsterte ich, obwohl es gelogen war. Er hatte Coja an seiner Seite, und ich hätte gewettet, dass ihm warm war.

»Dann lass uns jetzt schlafen.«

Coja hatte eine Weile in seinem Rücken gelegen und ihn gewärmt, aber sie war eine Jägerin der Nacht und jetzt verließ sie ihn, um wieder auf Beutezug zu gehen. Kayemo war ihr dankbar, dass sie den Bären verjagt und Mara dadurch vor dem Schlimmsten bewahrt hatte.

Mara. Einen halben Meter von ihm entfernt lag sie eingerollt in ihrem Schlafsack, doch Kayemo war sich jeder Einzelheit ihres Körpers bewusst, hörte ihre gleichmäßigen Atemzüge.

Wie konnte sie schlafen?

In ihm war immer noch alles in hellem Aufruhr, sein Körper war verwirrt. Kayemo hatte nicht damit gerechnet, dass es so sein würde. Dass es sein Inneres nach außen krempeln und eine unstillbare Sehnsucht hinterlassen würde, ein stetes Glühen. Ein Teil seiner Seele gehörte jetzt Mara. Und ein Teil von Mara erfüllte ihn.

Kayemo fühlte viel zu viel. Das war verstörend und verhinderte, dass er zur Ruhe kam. Um ihn herum bewegten sich unsichtbare Dinge durch die Nacht: flüsternde Schatten, Schuldgefühle, Hoffnung und Angst. Verantwortung. Etwas streifte über das halb erloschene Feuer hinweg und ließ eine Flamme hell aufleuchten. Kayemo hätte schwören können, dass er wispernde Stimmen hörte. Stimmen aus der Dunkelheit waren Zeichen aus der Geisterwelt.

War das gut oder schlecht? Wollten die Schattengestalten ihn warnen? Wovor? Ihm war unheimlich und sein Magen zog sich zusammen. Tief in seinem Inneren wusste er etwas und dieses Wissen ängstigte ihn. Je mehr sie sich seinem Zuhause näherten, umso mehr fürchtete er sich vor dem, was er dort vorfinden würde – vor der Wahrheit, wenn die letzte Erinnerungslücke sich schloss.

Doch mehr als alles andere ängstigten ihn seine Gefühle für Mara, die so wild waren, dass er sie kaum noch bändigen konnte. Wie sollte er zur Ruhe kommen, wenn das Einzige, was er wollte, nur eine Armlänge entfernt war? Es schien Kayemo unmöglich, mit dieser quälenden Sehnsucht im Körper einzuschlafen, und er brauchte lange, bis ihm endlich die Augen zufielen.

Die Kühle der Nacht lag noch unter dem Felsvorsprung, als Kayemo aufstand, um wie jeden Morgen die Sonne zu begrüßen. Mich fröstelte, als ich aus dem Schlafsack kroch. Ich hatte ein Kratzen im Hals und furchtbaren Durst. Mein Kopf war heiß und schwer. Mist, dachte ich unglücklich. Das waren deutliche Anzeichen dafür, dass ich krank wurde. Ich gehörte ins Bett, aber Bett war im Augenblick keine Option.

Als ich aufstand, wurde mir schwindlig. Ich nahm einen tiefen Zug aus meiner Wasserflasche und verzog das Gesicht. Das Wasser war so kalt, dass meine Zähne davon wehtaten und mein Magen sich krampfhaft zusammenzog wie um einen Eisklumpen. Mit zittrigen Fingern kramte ich in meinem Rucksack nach der Reiseapotheke. Ich nahm eine Paracetamol, die ich mit einem weiteren Schluck kaltem Wasser hinunterspülte. Irgendwie musste ich noch durchhalten, bis wir unser Ziel erreicht hatten. Weit konnte es ja nicht mehr sein.

Kayemo musterte mich besorgt, als wir die restlichen Tortillas mit Trockenfleisch und getrockneten Aprikosen aßen, sagte aber nichts.

Ich rollte meinen Schlafsack zusammen und meine Glieder schmerzten bei jeder Bewegung. Kayemo war schnell fertig mit seinen Sachen. Er half mir, Isomatte und Schlafsack an meinem Rucksack festzuschnallen und ihn auf meine Schultern zu heben.

Unter dem Gewicht des Rucksackes knickten meine Beine ein, als wären sie aus Gummi, und ich hatte Mühe, mich aufrecht zu halten.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Kayemo. »Du siehst ganz blass aus.«

»Ich fühle mich nicht so super«, antwortete ich, »aber es geht schon.«

Auf zittrigen Knien folgte ich ihm den kaum sichtbaren Pfad hinab ins Tal und war binnen weniger Minuten nass geschwitzt. Ich hoffte, dass wenigstens im Haus ein weiches Bett auf mich wartete. Ich hoffte, dass Kayemos Mutter und sein Großvater mich freundlich empfangen und sich um mich kümmern würden. Doch ich ahnte, dass es naive Hoffnungen waren.

Mit Sicherheit hatten sich beide schreckliche Sorgen um ihn gemacht. Und dass er – nachdem sie ihn jahrelang von allem ferngehalten hatten – nun mit einem weißen Mädchen im Gepäck wieder auftauchte, würde ihnen bestimmt nicht gefallen.

Aber darum konnte ich mir Gedanken machen, wenn es so weit war. Im Augenblick hatte ich genug damit zu tun, auf den Beinen zu bleiben und den Anschluss nicht zu verlieren.

Keuchend stolperte ich hinter Kayemo bergab und bekam ziemlich schnell Seitenstechen, doch ich hielt tatsächlich durch, bis wir die Talsohle und den Fluss erreicht hatten. Bis dahin waren wir höchstens anderthalb Stunden gelaufen, aber mir kam es so vor, als wäre ich bereits einen ganzen Tag ohne Pause gewandert.

Als ich mich mit schlotternden Knien auf einen Stein setzte und den Rucksack zu Boden gleiten ließ, wusste ich, dass ich nicht mehr genug Kraft hatte, um sein Gewicht weiter zu tragen. Inzwischen fühlte er sich an wie mit Geröll gefüllt.

Kayemo hockte sich neben mich und legte seine Hand auf meine heiße Stirn. »Du hast Fieber«, stellte er mit wachsender Besorgnis im Blick fest. »Aber wir haben es bald geschafft. Du musst noch ein bisschen durchhalten.«

Wir machten eine längere Pause im Schatten. Als wir aufbrachen, lud Kayemo meinen Rucksack auf seinen und trug sie beide.

Von nun an führte der Weg am Fluss entlang, meistens im Schatten von Pappeln und Tamariskensträuchern. Kayemo lief hinter mir, also bestimmte ich das Tempo. Ich musste mich darauf konzentrieren, ein Bein vor das andere zu setzen und durchzuhalten, was mich davon abhielt, zu viel über das nachzudenken, was mich am Ziel erwartete. Alles, an was ich denken konnte, war ein Bett und Schlaf.

Irgendwann erkannte ich vor uns die schroffe Felsnase, die Kayemo gezeichnet hatte – den heulenden Wolf –, und hoffte inständig, dass wir bald da waren.

»Ich glaub, ich muss mich mal hinsetzen«, sagte ich. Dann knickten meine Beine weg und ich hatte nicht mehr die Kraft aufzustehen. »Lass mich«, murmelte ich, als ich Kayemos Hände unter meinen Achseln spürte. »Lass mich einfach hier sitzen.«