17. Kapitel

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Kayemo trieb Mara zur Eile, als sie den schmalen Saumpfad bis zum slot canyon liefen, denn Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben und verdunkelten den Himmel. In der Ferne murmelte Donner. Bei einem heftigen Sommergewitter würde das ausgetrocknete Bachbett im Canyon sich mit Wasser füllen und so weit anschwellen, dass das Wasser durch den engen Spalt schoss und die Felswände zur tödlichen Falle werden konnten. Doch sie erreichten den Wasserfall auf der anderen Seite und noch war kein einziger Tropfen gefallen.

Mara schlug vor, ein Bad in der heißen Quelle zu nehmen, um den Staub von ihren Körpern und aus den Haaren zu waschen, bevor sie zurück ins Haus gingen. Das ließ Kayemo sich nicht zweimal sagen.

Sie schrubbten ihre lehmigen Sachen sauber und dann wuschen sie sich gegenseitig mit den Händen, tauschten lächelnd Blicke. Ihre Hände waren zärtlich, doch ihre Körper noch vollkommen gefangen von dieser anderen Welt, aus der sie gerade erst gekommen waren, die Gedanken von unsterblichen Wahrheiten erfüllt.

Mara hatte verstanden, auch das, was uralt und jenseits der Worte war. Aber auch Kayemo hatte etwas begriffen. Am Tag zuvor hatte er hier an dieser Stelle eine ganz andere Wahrheit entdeckt, eine, die neu für ihn war: die Wahrheit über zwei Menschen und was sie füreinander sein konnten.

Kayemo zog Mara an sich, legte sein Kinn auf ihr nasses Haar und hielt sie mit seinen Armen umfangen. Da fielen die ersten Tropfen. Kein Gewitter, sondern sanfter, warmer Regen – weiblicher Regen.

»She rains«, sagte er lächelnd. »So nennen wir diesen Regen, der tief den Boden tränkt und ihn nicht fortreißt.«

»She rains«, wiederholte ich, »das klingt schön.«

Die Tropfen fielen und bildeten Blasen auf der Wasseroberfläche. Wir ließen uns nass regnen. Nie wieder würde ich mich so fühlen, wie ich mich in diesem Augenblick fühlte. Warm und geborgen im heißen Wasser dieser Berge und in Kayemos Armen. Am liebsten wäre ich für immer so geblieben, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft festgehalten in diesem einen Moment.

Kayemo verschenkte Liebe mit dem ganzen Herzen, bedingungslos. Er teilte alles mit mir, was er besaß: sein Zuhause, seinen Körper, die Gedanken und sein Wissen. Weil er sicher war, dass wir zusammengehörten.

Nach seiner Weltauffassung war unsere Begegnung absolut unvermeidbar gewesen, doch ich wusste, was ebenso unvermeidbar kommen würde: das Ende unserer Zweisamkeit. In knapp drei Wochen musste ich in meinen Flieger steigen und nach Deutschland zurückfliegen.

Ich hatte Kayemo zwar erzählt, woher ich kam und dass ich bei Gasteltern wohnte, doch zu dem Zeitpunkt war er noch in seinem Blackout gefangen gewesen, und wahrscheinlich war vieles von dem, was ich gesagt hatte, gar nicht richtig zu ihm durchgedrungen. Später musste ich gegen ein Mädchen auf einem Foto kämpfen und hätte vermutlich verloren, wenn Kayemo klar gewesen wäre, dass unsere Zeit bereits ablief. Ich musste es ihm sagen, doch die Wahrheit würde ihm das Herz brechen. Mir wurde übel, als ich begriff, wie weh ich ihm tun würde. Doch dann küsste er mich und sein Kuss vertrieb alle düsteren Gedanken.

Inzwischen goss es in Strömen und wir rannten lachend, unsere Sachen unter dem Arm, zurück zum Haus. Völlig außer Atem stolperten wir durch die Tür und blieben beide wie angewurzelt stehen: Mitten im Raum stand ein Mann und musterte uns mit funkelndem schwarzen Blick. Mein Herz setzte einen Schlag aus und mein Kopf dachte zu viel auf einmal.

»Águila«, stieß Kayemo hervor.

Ich hielt meine nassen Sachen vor die Brust und flitzte nach nebenan, um mir etwas überzuziehen. Es war nur Águila, niemand, von dem Gefahr ausging. Ich rubbelte mich trocken und lauschte.

»Wo warst du denn die ganze Zeit?« Kayemo klang aufgebracht, aber auch erleichtert.

»Dasselbe könnte ich dich fragen«, hörte ich Águila antworten. »Als ich vor zwei Wochen hier war, um eure Vorräte zu bringen, fand ich die Hütte verwaist vor und die Pferde waren weg. Ich habe überall nach euch gesucht, aber keine Spur von Merina und dir gefunden. Wo wart ihr und was ist hier eigentlich los? Wo ist deine Mutter, Kayemo? Und wer ist dieses weiße Mädchen?«

»Mom ist … sie ist tot.«

»Was redest du da für einen Unsinn?«

»Sie ist tot, Águila, sie ist … gegangen.«

Ich brauchte eine Weile, bis ich trockene Sachen angezogen hatte, und in dieser Zeit sprach keiner der beiden nebenan ein Wort. Als ich aus der Kammer trat, trug auch Kayemo wieder Klamotten am Leib. Águila stand mit dem Rücken zu mir und umarmte ihn. Über seine Schulter hinweg trafen sich unsere Blicke. Halt lieber den Mund, schien seiner zu sagen.

Kayemo löste sich aus der Umarmung und lehnte sich rücklings gegen die Arbeitsfläche. Der Indianer setzte sich auf einen der Stühle am Tisch. Águila mochte Mitte dreißig sein, hatte eine athletische Figur und auffallend dunkle Haut. Sein Haar trug er zu zwei langen Zöpfen geflochten und um seinen Hals hing ein Bolo Tie, ein in Silber gefasster Türkis an einem dünnen Lederband.

Naranjo war er ein verdammt gut aussehender Mann, allerdings gefiel mir sein Blick nicht, mit dem er mich anstarrte. Keine Ahnung, warum, aber ich konnte ihn jetzt schon nicht leiden.

»Das ist Mara«, sagte Kayemo. »Sie gehört zu mir.«

Wie selbstverständlich er das aussprach. Mein Herz fühlte sich an, als würde es zwischen einer eisernen Hand zusammengepresst, und ich konnte kaum atmen. Fühlte mich selbstsüchtig und mies. Wünschte, ich hätte ihn nicht so lange im Unklaren gelassen.

»Ach je.« Naranjo schnaubte spöttisch und schüttelte den Kopf. »Und wo hast du sie aufgelesen? Hat sie sich im Wald verirrt?« Unverhohlene Ablehnung sprach aus seinem Blick.

»Es war umgekehrt.« Ich trat näher. »Ich habe ihn aufgelesen.«

Kayemo legte einen Arm um meine Hüfte und aus Águilas schwarzen Augen schossen Blicke wie vergiftete Pfeile. Offensichtlich mochte er mich ebenso wenig wie ich ihn und mir wurde immer mulmiger zumute.

»Ich habe Hunger«, sagte ich. »Ich mache uns etwas zu essen.«

Ein paar Minuten später saßen wir zu dritt am Tisch und aßen Maisfladen mit kaltem Kaninchenfleisch und eingelegten Tomaten. Die Situation hatte sich entspannt, doch Naranjos Blicke wanderten unaufhörlich zwischen Kayemo und mir hin und her.

»Nun erzählt doch mal, wie seid ihr euch denn nun über den Weg gelaufen?«

»Jemand hat auf mich geschossen.« Kayemo schlüpfte mit seinem linken Arm aus dem langärmeligen T-Shirt und zeigte Naranjo die verheilte längliche Wunde. Ich hörte auf zu kauen und musterte Águila.

Er schluckte und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Wer hat das getan?«

»Ich weiß es nicht.«

»Du weißt es nicht?«, fragte er überrascht.

»Nein«, sagte Kayemo. »Mom … ich habe tagelang nach ihr gesucht, weil ich hoffte, sie auf ihre Reise in die Unterwelt vorbereiten zu können. Doch dann ist etwas passiert, woran ich mich bis heute nicht erinnern kann. Dabei wurde ich angeschossen, bin einen Abhang hinabgestürzt, und als ich aufwachte, wusste ich nicht mehr, wer ich war und woher ich kam.«

Ich hatte Águila nicht aus den Augen gelassen, doch als er mich jetzt fragend ansah, wandte ich den Blick ab.

»Ich lief und lief, bis ich an eine Straße kam«, fuhr Kayemo fort. »Mara hat mich dort gefunden und mir geholfen.«

»Und du weißt wirklich nicht, wer auf dich geschossen hat?«, fragte Águila mit einem Stirnrunzeln.

Kayemo schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass ich zuletzt mit Coja zusammen war.«

»Und du«, wandte Naranjo sich an mich, »du bist einfach mit ihm gegangen?«

»Er hatte sein Gedächtnis verloren und ich wollte ihn nicht allein lassen. Außerdem«, ich zuckte lässig mit den Schultern, »hatte ich ohnehin vor, in den Bergen wandern zu gehen.«

Ein Lächeln huschte über Kayemos Gesicht, doch Águila bemerkte es nicht. Sein Blick blieb schwarz und hart.

»Woher kommst du eigentlich?«, wollte er wissen.

»Aus Taos.«

»Nein, wo du wirklich herkommst.«

»Aus Deutschland.«

»Und was machst du in Taos? Wie alt bist du überhaupt?«

Zu spät merkte ich, dass Naranjo mit seinen Fragen eine Absicht verfolgte. Er wollte herausfinden, ob da etwas Ernstes war zwischen Kayemo und mir.

»Tut das was zur Sache?«, erwiderte ich schnippisch.

»Wenn du noch minderjährig bist, schon. Du bist weiß und das hier ist Pueblo-Land. Der Junge könnte mächtigen Ärger bekommen deinetwegen.«

Kayemo beugte sich vor. »Wo ich bin, kann sie auch sein.«

Águila warf mir einen finsteren Blick zu. »Wie es aussieht, hast du ihn bereits gehörig verhext.«

Kayemo sprang auf. »Mara ist keine Hexe!«

»Ach nein?«

Idiot, dachte ich.

»Wieso bist du nicht gekommen, Águila?«, fragte Kayemo aufgebracht. »Mom hatte wieder eine ihrer schlimmen Phasen, und ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte. Unsere Vorräte waren aufgebraucht, und ich musste Mom alleine lassen, um Fische zu fangen. Als ich wiederkam, war sie weg.«

»Das mit Merina tun mir furchtbar leid, Kayemo. Ich war krank, lag mit Fieber im Bett.« Naranjo starrte auf die Tischplatte. »Ich kam doch nur ein paar Tage später.«

»Aber du wusstest, wie sehr Mom immer auf dich gewartet hat.«

Águila hob den Kopf und sah Kayemo in die Augen. Seine Stimme klang weicher, als er sagte: »Und du weißt, dass ich nichts dafür kann, Kayemo. Merinas Straße war kürzer als die anderer Menschen.«

Kayemo sah weg, und ich fragte mich, was Naranjo wohl damit gemeint hatte.

»Morgen verlassen Mara und ich die Berge. Ich muss nach Quemado, Grandpa von Mom erzählen.«

»Aber du bist noch nicht bereit«, erwiderte Águila mit gefurchter Stirn. »Ich meine, für die Welt da draußen.«

»Ich werde schon klarkommen. Grandpa und Mara werden mir helfen.«

»Glaubst du, dein Grandpa wird sich freuen, dich mit einem weißen Mädchen zu sehen?«

Langsam wurde mir klar, warum ich Águila Naranjo nicht ausstehen konnte.

»Grandpa wird Mara mögen, weil sie mir geholfen hat und weil ich sie mag.«

Ich merkte, dass Naranjo etwas erwidern wollte, es jedoch nicht tat. Dumm war er jedenfalls nicht.

»Kann ich dich mal alleine sprechen?«, sagte er, an Kayemo gewandt.

Die beiden verließen die Hütte und ich kümmerte mich grimmig um den Abwasch.

Es hatte aufgehört zu regnen, die Luft war reingewaschen und es duftete würzig nach Wacholder. Aber all das nahm Kayemo kaum wahr, als sie den Pfad zu dem kleinen Gatter liefen, in dem Wónema stand, Águilas Pferd. Plötzlich drehte Águila sich um und packte ihn am Arm.

»Bist du vollkommen verrückt geworden, Kayemo? Wieso hast du dieses Mädchen mit hierhergebracht? Sie ist eine Fremde und hat auf Pueblo-Land nichts verloren.«

»Mara ist nicht irgendein fremdes Mädchen, Águila, sie gehört zu mir, das habe ich dir doch gesagt.«

»Ich weiß verdammt noch mal, was du gesagt hast. Aber du bist verwirrt und ihr seid beide noch Kinder.« Águila starrte ihn sekundenlang schweigend an. »Diese kleine rothaarige Hexe … Du hast mit ihr geschlafen, nicht wahr?«

Kayemo sah Enttäuschung und Zorn in Águilas Blick. Er machte sich los. »Ich bin kein Kind mehr. Und was zwischen mir und Mara ist, geht dich nichts an.«

»Du bist noch in der Kiva-Ausbildung, Kayemo.« Águila schüttelte den Kopf. »Du missachtest ein Tabu, wenn du in dieser Zeit Sex hast.«

»Vielleicht tue ich das ja«, entgegnete er. »Aber glaubst du nicht, dass es Schlimmeres gibt als das?«

»Dein Körper und deine Gedanken sollen rein bleiben, Kayemo, das ist der Sinn hinter diesem Tabu. Du bist hier, damit du dich mit allen Sinnen auf deine Aufgabe konzentrieren kannst. Das Mädchen wird dir die Kraft nehmen und sich deiner Bestimmung in die Quere stellen.«

»Das ist Schwachsinn.«

»Schwachsinn, sagst du? Schau dich doch an. Dieses Mädchen hat dich so sehr verhext, dass du nicht mehr klar denken kannst. Mit ihrem bleichen Körper verdreht sie dir den Kopf und bringt dich dazu, Dinge zu tun, die du bei klarem Verstand nicht getan hättest.«

Kayemo dachte an Pueblo Ánima und Lightning Man und prüfte sein Herz. Nein, er hatte alles richtig gemacht.

»Die Götter werden wütend auf dich sein, Kayemo. Auf dich, auf mich – und auch auf das Mädchen.«

Kayemo schluckte und schüttelte den Kopf. Er vertraute seinen Göttern. Sie verlangten Opfer, das stimmte, aber diese Opfer bestanden aus blauem Maismehl, Tänzen und Gebeten. Sie würden nicht von ihm verlangen, das Schönste zu opfern, was ihm bisher in seinem Leben widerfahren war.

Águila legte ihm versöhnlich eine Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Gedanken, mein Junge, jeder macht einmal Fehler. Ich nehme die Kleine mit zurück in die Stadt. Du wirst sie vergessen und dich wieder auf deine Aufgabe konzentrieren.«

Mara vergessen? Sollte das ein Witz sein?

Kayemo schüttelte die Hand ab. »Was redest du denn da? Als Mom fort war, bin ich bald verrückt geworden vor Einsamkeit. Irgendjemand hat auf mich geschossen, Águila. Und du willst, dass ich hier bleibe? Ganz allein?«

»Doch nur für eine Weile, Kayemo«, versuchte Águila, ihn zu beschwichtigen. »Vermutlich war es ein Wilderer, der dich versehentlich getroffen hat. Ein Irrtum, so etwas kommt vor. Hätte es jemand auf dich abgesehen, wärst du längst tot und die Kleine mit. Ich bringe das Mädchen in die Stadt und komme so schnell wie möglich zu dir zurück. Die Katchinas, sie versammeln sich in den Bergen, spürst du das nicht? Schon bald wird Lightning Man sich dir zeigen, aber dazu musst du hier sein. Und wenn du die Maske gefunden hast, gehst du nach Quemado. Dort wartet Natani auf dich, mein Junge. Du weißt, dass wir den Pueblo nur am Leben halten können, wenn wir unser Blut nicht mit dem der Weißen vermischen. Natani ist eine von uns und traditionell erzogen. Sie weiß, was ein Katchina-Priester für Aufgaben hat, was er braucht. Und hübsch ist sie auch, viel hübscher als la Zorra.«

»Aber ich kenne Natani überhaupt nicht.«

»Und die rothaarige Hexe, die kennst du? Bloß weil du deinen wána in ihre kéna gesteckt hast?«

Kayemo versetzte Águila einen kräftigen Stoß vor die Brust. »Halt den Mund, sonst …« Der Drang, Águila eine reinzuhauen, fuhr wie ein Blitzschlag durch seinen Körper.

»Sonst was?« Águila wischte sich über die Lippen und schüttelte den Kopf. »Wie lange kennst du sie? Zwei Wochen? Hast du sie mal gefragt, wie lange sie noch in Taos ist?«

Kayemo schwieg. Zornig. Verwirrt. Er spürte, wie sich sein Magen mit etwas Kaltem füllte.

»Nicht alles, was sich toll anfühlt, ist auch richtig, mein Junge. Deine Mara hat dir, ohne mit der Wimper zu zucken, das Herz gestohlen. Und wenn sie erst alles von dir hat, was sie will, wird sie ihre Sachen packen und nach Deutschland zurückgehen.«

Was erzählte Águila denn da für einen Blödsinn? Kayemo wollte etwas erwidern, doch Angst schien ihm die Sprache verschlagen zu haben. Die Angst, etwas Schlimmes könnte passieren, das durch nichts aufzuhalten war.

»Was glaubst du denn, was sie von dir will? Dich heiraten, Kinder mit dir bekommen und in einem kleinen Lehmhaus im Pueblo leben?« Águila lachte, doch sein Lachen klang verzweifelt.

»Wieso nicht?«, brachte er mühsam hervor.

»Hat sie dir das gesagt? Glaubst du an Worte?«

Ich glaube an ihr Herz, dachte Kayemo.

»Deine Mara ist nur ein Mädchen, das sich in einen gut aussehenden Jungen verguckt hat, der anders ist als die Jungen, mit denen sie bisher zu tun hatte. Es hat ihr gefallen, dich zu verwirren, sie hat mit dir gespielt und dir Versprechungen gemacht. Doch wenn sie erst wieder weit weg in ihrem Deutschland ist, wird sie allen von dem Indianerjungen erzählen, mit dem sie ein paar romantische Tage in der Wildnis verbracht hat. Sie wird allen erzählen, was du ihr zugeflüstert hast.«

Kayemo schwieg. Die Worte trafen ihn mit voller Wucht und brannten ein Loch in sein Herz, doch sein Magen fühlte sich wie ein eisiger Klumpen an. Ihm war so elend zumute, dass er sich auf dem Zaun abstützen musste, weil er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Mara? Weg?

Plötzlich verlor alles um ihn herum seine Farbe. Der Gedanke tat so weh, dass Kayemo die Augen schloss und den Kopf schüttelte. Nein.

Águila öffnete das Gatter und sattelte Wónema. Mit einem geschmeidigen Satz stieg er auf und blickte auf Kayemo herab.

»Sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« Kurz darauf war er auf dem Pfad, der am Garten vorbei zum Fluss führte, verschwunden.

Kayemo stand wie versteinert. Er blickte den Hügel hinauf und fragte sich, ob er jemals die Kraft und den Mut haben würde, zu Mara ins Haus zurückzukehren.

Kayemo kam ohne Águila zurück, und ich merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Er schloss die Tür hinter sich und sah mich an, tiefe Enttäuschung und wilde Panik im Blick.

»Was ist denn los?«, stammelte ich und machte einen Schritt auf ihn zu. Doch Kayemo wich vor mir zurück, als könne er meine Nähe plötzlich nicht mehr ertragen.

»Hast du meinetwegen Ärger bekommen?«, fragte ich. »Was hat Águila zu dir gesagt? Was … was hat er mit dir gemacht, Kayemo?«

Mein Herz schlug hart, weil ich an die Verachtung in Naranjos Blick dachte und dass er jemand war, der die Macht hatte, zu zerstören.

»Was hast du mit mir gemacht, Mara?«

Sein verwundeter Blick traf mich bis ins Mark. Ich schluckte. »Wie … wie meinst du das?«

»Stimmt das? Du gehst zurück nach Deutschland?«

Oh verflucht, ich hätte es wissen müssen. Ich hätte längst mit Kayemo darüber reden müssen, doch nun hatte es ein anderer getan. Einer, der mich hasste, weil ich weiß war. In Kayemos Augen sah ich, dass der Schaden bereits angerichtet war, doch ich versuchte zu retten, was zu retten war.

»Ja, das stimmt. Aber ich habe es dir erzählt, erinnerst du dich? Ich habe dir erzählt, dass die Elliots meine Gasteltern sind. Bald muss ich zurück nach Deutschland zu meinen richtigen Eltern, zurück in die Schule.«

Kayemo hob die Hände in einer verzweifelten Geste und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß, was du gesagt hast. Aber wie es aussieht, habe ich es nicht kapiert.« Er schüttelte den Kopf. »Wann?«, fragte er mit tonloser Stimme. »Wann musst du zurück?«

»Mein Flieger geht am 1. Juni.«

Kayemo starrte ins Leere. Dabei sah er aus, als ob er am Rand einer Schlucht stehen würde und in den bodenlosen Abgrund schaute. Zeit war für ihn nichts Zählbares, das alles ergab für ihn keinen Sinn.

»Noch drei Wochen«, sagte ich leise.

Sein Blick verlor alles Leben. »Und was wird dann aus uns?«

Ich fühlte mich jämmerlich, wusste nicht, was ich erwidern sollte, doch ich machte erneut einen Schritt auf Kayemo zu. Wieder wich er zurück und stand nun mit dem Rücken an der Tür.

»Warum?«, fragte er. Seine Hände zitterten, als wäre er ein Drogensüchtiger auf Entzug.

»Warum ich zurück nach Deutschland muss? Weil ich erst siebzehn bin und deshalb nicht einfach so bei dir bleiben kann. Meine Eltern würden durchdrehen, und abgesehen davon läuft mein Visum ab, meine Aufenthaltsgenehmigung für Amerika. Auch ich muss mich an ein paar Regeln halten. Ich …«

»Ich meine, warum das alles hier, obwohl du doch wusstest, dass du wieder fortgehen würdest?«, fragte Kayemo und sah dabei total verloren aus.

»Du denkst, ich habe dich getäuscht?«

Er hob die Schultern und ließ sie wieder sinken.

Ich holte tief Luft. »Ich habe mich in dich verliebt, Kayemo, obwohl ich es wusste. Manchmal passieren Dinge und man kann nichts dagegen tun. Ich habe nicht nachgedacht, nur gefühlt.«

Kayemos Augen füllten sich mit Dunkelheit und ich verstummte. Als ich die Arme nach ihm ausstreckte, drehte er sich um und schlüpfte aus dem Haus.

»Kayemo!«, rief ich ihm hinterher, doch er war schon verschwunden. »Ich liebe dich«, flüsterte ich.

Kayemos Schrei voll Schmerz und Wut und Hilflosigkeit hallte an den Felswänden wider und schreckte Vögel auf, die mit wilden Flügelschlägen aus dem Geäst der Pinien flatterten. Als er das Felsplateau vor dem Wasserfall erreicht hatte, lief er bis zur Kante und blickte hinunter auf die Felsbrocken und das Geröll neben der weiß sprühenden Gischt des Wasserfalls. Er schloss die Augen. Wie betäubt stand er da und wusste nicht, wie ihm geschah.

Drei Wochen. Nur noch drei Wochen und Mara würde in ein Flugzeug steigen, würde ihn verlassen. Deutschland … sternenfern. Er hatte das Gefühl, als würde ihm alles Leben aus dem Körper gesaugt.

Das Rauschen des Wassers dröhnte in Kayemos Ohren, und es dauerte einen Augenblick, bis er feststellte, dass es sein eigenes Blut war, das er hörte. Sein Herz schlug wütend und der Fels unter seinen Füßen schien zu wanken. Alles war wund, verwirrend, falsch und dunkel.

Wenn Mara es die ganze Zeit gewusst hatte, warum war sie ihm dann überhaupt in die Berge gefolgt? Warum hatte sie ihm die Liebe gezeigt, wenn sie sie ihm nun wieder wegnahm? Sie hatte das Gefühl in ihm geweckt, nie mehr allein sein zu müssen, und nun verstand er überhaupt nichts mehr. Hatte Águila recht und sie hatte nur mit ihm gespielt? War es ein Fehler gewesen, sie in sein Leben zu lassen? Ihr das Herz der Dinge und sein eigenes anzuvertrauen?

Etwas Dunkles, Schweres legte sich auf seine Seele wie ein Stein, und Kayemo hatte nicht die leiseste Ahnung, was er jetzt tun sollte. Die Vorstellung, Mara zu verlieren, war undenkbar. In den vergangenen Tagen hatte sie Gefühle in ihm geweckt, die er niemals für möglich gehalten hatte, er war ihr so nah gewesen, wie zwei Menschen einander nur sein konnten.

Nun fühlte er sich nackt und hilflos wie eine Schildkröte ohne Panzer.

Kayemo öffnete die Augen, trat noch einen Schritt vor und starrte hinunter auf die Steine. Konnte das, was man am meisten liebt, einen umbringen? Vermutlich nicht, auch wenn es sich im Augenblick so anfühlte. Doch mit Sicherheit konnte es einem das Herz und sämtliche Knochen brechen.

Ein Schluchzer stieg ihm in den Hals. Kayemo wollte aus seiner Haut, wollte allen Schmerz loswerden mit einem Schlag. Weil seine Gefühle ihn ängstigten, wie ihm noch nie in seinem Leben etwas Angst eingejagt hatte. Und seine Mutter, die ihn kannte wie keiner sonst und die immer einen Rat gehabt hatte, war nicht mehr da.

Die Zeit wurde langsamer. Mom, ich brauche deine Hilfe, denn ich weiß nicht, was ich tun soll. Kayemos Sehnsucht nach seiner Mutter war so groß, dass er sich kaum wunderte, auf einmal ihre Stimme zu hören.

»Ich bin da, mein Sohn.«

»Kann ich nicht zu dir kommen?«

»Nein, Kayemo. Ich bin dort, wo ich sein will, doch für dich ist hier kein Platz. Deine Straße ist noch lang. Zweifle nicht. Die Liebe birgt immer das Risiko des Verlustes in sich, doch dieses Risiko einzugehen, bedeutet zu leben.«

»Aber wie kann ich Mara zeigen, was wir zusammen sein könnten?«

»Das hast du doch schon getan. Gib ihr Zeit, die richtige Entscheidung zu treffen.«

Kayemo rang nach Luft. Er wusste, dass er die Worte seiner Mutter nicht gehört, sondern gefühlt hatte, tief drinnen an einem Ort, wo sie immer bei ihm sein würde. Tränen rollten über seine Wangen, doch der Boden unter ihm hörte auf zu wanken. Mara würde sein Schmerz sein. Für immer. Er würde nichts spüren. Nie mehr. Aber er würde lernen, damit zu leben. Kayemo holte tief Luft und sein Herz fing wieder an zu atmen.

Als er in einem Schrei seinen Namen hörte, schrak er zusammen. Im selben Augenblick riss ihn jemand am Arm zurück.

»Was soll denn das werden?«, rief Mara panisch, pures Entsetzen in den Augen.

Sie zog ihn ein paar Meter vom Abgrund weg, mit einer Kraft, die er ihr nicht zugetraut hätte.

»Sprich mit mir, Kayemo!« Sie rüttelte an ihm, als könne sie die Worte aus ihm herausschütteln.

Doch er wollte nicht mehr reden. Mit ihr nicht, mit niemandem.

Da hieb Mara plötzlich mit Fäusten auf ihn ein. Sie trafen ihn an der Brust, den Armen. Mara war ein Wirbel aus roten Haaren, Worten, Fäusten, Tränen und Rotz. Kayemo ließ es geschehen, denn er spürte nichts.

»Du verdammter Idiot, wie konntest du auch nur daran denken? Sich umzubringen, ist dumm und widerspricht allem, was du mir über deine Welt erzählt hast.« Da war Wut in ihren Augen, aber auch eine furchtbare Angst. Angst um ihn.

Kayemo packte Mara an den Handgelenken und nahm sie so fest in seine Arme, dass sie sich kaum noch rühren konnte. Ihr ganzer Körper zitterte.

»Für einen winzigen Moment habe ich daran gedacht«, sagte er an ihrer Schläfe, »aber ich hätte es nicht getan. Auch wenn du nicht gekommen wärst: Ich hätte es nicht getan. Meine Straße ist noch lang.«

Mara stieß einen Seufzer aus, der direkt aus ihrem Herzen zu kommen schien. Er ließ sie los und sie sah ihm in die Augen.

»Hast du auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet, dass ich zu dir zurückkommen könnte, wenn ich mit der Schule fertig bin?«

Kayemo schüttelte den Kopf. »Versprich nichts, was du nicht halten kannst, Mara.«

»Ich verspreche dir ja nicht, dich zu heiraten, hörst du? Aber ich liebe dich, Kayemo. Und wenn du es auch willst, werde ich nach einem Jahr zurückkommen.«

»Ich will kein Jahr von dir getrennt sein«, sagte er.

»Ich auch nicht.« Mara nahm seine Hände und drückte sie so fest mit ihren Fingern, dass es wehtat. »Und ich will auch nicht fortgehen, aber ich muss.« Ihre Stimme kämpfte gegen den Wasserfall an und Kayemo lauschte. Er durfte nicht wieder den Fehler machen, nur das zu hören, was er hören wollte.

»Ich gehe bloß auf die andere Seite des Ozeans«, sagte sie mit bebender Stimme. »Du kannst mich nicht sehen, aber ich bin trotzdem da – so wie die Sonne in der Nacht. Wenn ich mit der Schule fertig bin, komme ich wieder. Aber du musst mir helfen. Du musst an mich denken und mir schreiben, Kayemo, denn ein Jahr ohne dich ist lang.«

Er hatte alles verstanden, jedes Wort und das, was hinter den Worten war. Ein Jahr. Unaussprechlich lang, wenn jemand für einen die Luft zum Atmen bedeutete. Doch nur ein Flügelschlag im Puls der Zeit. Warten, das war etwas, das er gelernt hatte und das er besser konnte als jeder andere. Ich liebe dich, hatte Mara gesagt. Wenn das stimmte, dann spielte Zeit keine Rolle.

Kayemo hob den Kopf und sah Mara an. Es tat weh, sie anzusehen. Da wusste er, dass er wieder etwas empfinden konnte.

Während der nächsten Stunden saßen wir auf den Stufen vor der Veranda und ich erzählte Kayemo mein ganzes Leben, alles, was mir in den Sinn kam und wovon ich glaubte, dass er es wissen sollte. Unter anderem auch, dass die Sonne, wenn sie vor seinen Augen verschwand, weiter ihren Job machte und die Länder auf der anderen Seite der Erdkugel wärmte.

Er hörte genau zu, machte aber nur selten den Mund auf. Ich wusste, dass ihm kein Wort entging, deshalb wählte ich meine Worte sehr sorgfältig.

Als ich Kayemo schließlich stockend von Nils erzählte, konnte ich ihm ansehen, dass er Mühe hatte zu verstehen. Zu spät begriff ich, dass ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen war, ich könnte vor ihm schon mit einem anderen zusammen gewesen sein.

Ich hielt inne, um herauszufinden, wie viel ich erzählen konnte und was lieber ungesagt bleiben sollte, doch es war zu spät. Meine Worte hatten sich in seinem Kopf in Bilder verwandelt und hatten ihm etwas genommen.

»Ich wollte ehrlich zu dir sein«, sagte ich leise.

»Gab es noch andere?«, fragte er.

»Nein, nur Nils.«

Kayemo nickte mir zu. »Sprich ruhig weiter, Mara. Tu einfach so, als ob ich nicht da wäre.«

Tapfer hörte er sich auch diesen Teil meines Lebens an, und als ich bei dem Tag angelangt war, an dem ich ihn am Straßenrand gefunden hatte, nahmen wir uns an den Händen und ich musste nichts mehr sagen.

Es war spät und Mara war schon ins Haus gegangen, um Zähne zu putzen. Kayemo hatte ihr gesagt, dass er gleich nachkommen würde, er wollte noch einen Moment allein sein.

Die Felsen auf der anderen Seite des Tales waren eine kompakte schwarze Masse, der Himmel sternenschwer. Er kannte diesen Blick zu jeder Tages- und in jeder Jahreszeit, und der Gedanke, am nächsten Morgen all das hier zu verlassen, versetzte seinem Herzen einen Stich.

Er wusste nicht, was ihn erwartete, doch er hatte begriffen, dass er sich der Welt da draußen stellen musste, wenn er mit Mara eine Zukunft haben wollte. Sie hatte ihm so viel von sich erzählt – zu viel. Manche Bilder würde er vermutlich lange nicht wieder loswerden, das war der Preis der Wahrheit.

Kayemo horchte auf, als er das Pfeifen einer Maus hörte, und sah einen lautlosen Schatten, der um die Veranda geschlichen kam.

»Coja«, flüsterte er, ging vor seiner vierbeinigen Gefährtin auf die Knie und beugte seinen Kopf nach vorn. Coja senkte ihren und sie rieben ihre Köpfe aneinander, ein Zeichen der Zuneigung in der Sprache der Berglöwin. Nach einigen schmerzhaften Anfangsschwierigkeiten hatten sie Möglichkeiten gefunden, miteinander zu kommunizieren. Also würden er und Mara das auch schaffen.

»Ich muss fortgehen«, sagte er in Tiwa und kraulte Coja hinter den Ohren. »Aber ich werde dich besuchen kommen, versprochen.«

Coja rieb sich an Kayemos Schulter, er sog tief ihren Wildtiergeruch ein und vermisste sie jetzt schon. Doch würde er ihr auch fehlen? Würde sie zum Haus kommen und darauf warten, dass er aus der Tür trat, um mit ihr durch das Tal zu streifen?

Coja war eindeutig glücklicher dran als er, denn sie konnte über die Vergangenheit, das Jetzt und das Immer nicht nachdenken. Genauso wenig wie über das nagende Gefühl unstillbarer Sehnsucht.