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»Das reicht nicht.« Staatsanwalt Krebsfänger schüttelte den Kopf und ließ den Bericht der Kriminalbeamten auf den Tisch fallen. »Das sind doch sehr vage Verdachtsmomente. Und wie ich sehe, hat Herr Hansen ein Alibi. Er scheidet also als Täter ohnehin aus. Außerdem können wir nach wie vor nicht ausschließen, dass es sich beim Tod des Alexander Cohrs um einen Unfall handelt. Und kommen Sie mir nicht mit dieser Visitenkarte.«

»Aber das Flunitrazepam!«, warf Marie Janssen empört ein. »Er wird doch nicht selbst K.-o.-Tropfen oder Fluni-Pillen genommen haben.«

»Warum nicht? Es gibt immer noch Leute, die sich Flunies einwerfen. Die Rechtsmediziner haben nicht besonders viel bei ihm gefunden. Cohrs kann sie auch als Schlafmittel benutzt haben.« Krebsfänger hob die Arme. »Vieles ist möglich. Nichts ist sicher. Auch Oliver Rien könnte sich selbst das Leben genommen haben. Dass Sie keinen Schlüssel für die Handschellen gefunden haben, besagt gar nichts. Den braucht man nur zum Öffnen. Er muss also nicht unbedingt einen dabei gehabt haben. Im übrigen kann dasMeer einen solchen Schlüssel unauffindbar im Watt vergraben.«

Hauptkommissar Röverkamp räusperte sich. »Wenn wir bei Hansen den Brief von Cohrs fänden, wäre klar, dass er erpresst werden sollte. In seiner Position wäre das Bekanntwerden einer unschönen Geschichte aus seiner Vergangenheit existenzgefährdend. Allemal ein Motiv für ein Tötungsdelikt. Hansen muss dieTat ja nicht selbst ausgeführt haben. Vielleicht hat er jemanden beauftragt. Geld genug hat er ja.«

Der Staatsanwalt winkte ab. »Sie dürfen die beiden Hotelzimmer durchsuchen. Aber weder für die übrigen Räume des Hotels noch für die Privatwohnung der Familie Hansen bekommen wir einen Durchsuchungsbeschluss.«

»Es käme auf einen Versuch an«, schlug Röverkamp vor.

Krebsfänger warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Ich werde keinen beantragen. Ich mache mich doch nicht lächerlich. HerrHansen ist schließlich nicht irgendwer. Als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens ...«

»... genießt er ganz besondere Rechte?«, fragte Marie spitz. MitGenugtuung beobachtete sie, wie es im Kopf des Staatsanwaltsarbeitete. Seine Kaumuskeln arbeiteten, und auf seinem Hals erschienen rote Flecken.

»Solche Bemerkungen können Sie sich sparen, Frau Kommissarin«, zischte er. »Bringen Sie überzeugende Beweise. Dann werde ich über entsprechende Maßnahmen entscheiden.«

»Dieser Brief aus dem Computer von Alexander Cohrs ...«, begann Marie, doch Krebsfänger schnitt ihr das Wort ab.

»Der besagt gar nichts. Jeder kann ihn geschrieben haben. Und selbst wenn Cohrs der Meinung war, Christopher Hansen für seine geschäftlichen Ziele einspannen zu können, muss man darin keinen Erpressungsversuch sehen. Der Brief bezieht sich auf ein Ereignis von 1987. Das liegt über zwanzig Jahre zurück. Da waren die noch Schüler. Was immer damals passiert sein mag, dürftesich kaum für eine Erpressung eignen. Wenn es überhaupt stimmt.Kein Gericht würde darin ein Mordmotiv sehen. Also vergessen Sie’s!«

»Vergessen?« Röverkamps Tonfall drückte Unverständnis aus. »Die rechtsmedizinischen Untersuchungen sind noch nicht ...«

Krebsfänger schob den Bericht in einen Aktenordner. »Ich meinedie Theorie von der versuchten Erpressung. Über die Einstellung des Verfahrens entscheide ich selbstverständlich erst, wenn die Untersuchungsergebnisse vorliegen. Bis dahin dürfen Sie weiter ermitteln. Aber lassen Sie Familie Hansen in Ruhe.«

»Wenn der nicht befangen ist!«, stieß Marie Janssen hervor, als der Staatsanwalt das Büro verlassen hatte. »Das stinkt doch zum Himmel!«

Röverkamp lächelte nachsichtig. »Kann sein, dass du richtig liegst. Aber Krebsfänger hat nicht ganz unrecht. Genau genommen haben wir nur Verdachtsmomente und keine wirklichen Beweise. Hansens Alibi ist zwar nach unseren Maßstäben nicht vielwert, lässt sich aber wahrscheinlich vor Gericht nicht aus denAngeln heben. Alles in allem würde es nicht für eine Anklage reichen. Aber wir sind mit unserem Latein auch noch nicht am Ende.«

»Was hast du vor?« Marie klang noch immer ein wenig resigniert.

»Im Augenblick nichts, was den Fall betrifft. Momentan besteht kein Grund zur Eile. Darum würde ich jetzt gerne etwas essen. Was ist mit dir? Hast du keinen Hunger?«

Marie öffnete den Mund, um die Frage zu verneinen. Doch in demAugenblick spürte sie einen heftigen Appetit. »Doch. Ja. Jetzt, wo du’s sagst. Ich würde schon gern ... Aber wo?«

»Ich habe eine Idee. Wir können zu Fuß hingehen. Und du bisteingeladen. Komm! Wir gehen in RichtungAlte Liebe. Damit meine ich nicht Hansens Hotel.«

»Jetzt bin ich aber gespannt.« Marie beeilte sich, mit ihrem Chef Schritt zu halten. »Und was meintest du mitLatein noch nicht am Ende

»Später!« Röverkamp legte noch einen Schritt zu. In Höhe des Wasser- und Schifffahrtsamtes überquerte er die Straße.

»Willst du da mit mir rein?« Marie deutete auf das große gelbe Haus mit den weißen Balkonen. Das ehemaligeHotel Continentalaus dem neunzehnten Jahrhundert war in den vergangenen Jahrenaufwändig restauriert worden. Seit einem Jahr gab es ein elegantes Restaurant mit einer raumhohen Fensterfront im Erdgeschoss. Nach der Eröffnung hatte sie einmal davor gestanden, aber nicht ernsthaft erwogen, dort zu essen. Es schien nicht ihre Preisklasse zu sein.

»Und du willst mich einladen?«, vergewisserte sie sich, alsKonrad Röverkamp nickte.

»Warum nicht? Es ist nicht so teuer, wie es aussieht.« Er grins­te. »Lass dich überraschen. Sabine und ich waren schon ein paar Mal hier und sind nie enttäuscht worden.«

Auf der Terrasse desContinentalwaren alle Tische besetzt. Das milde Sommerwetter hatte Touristen und Einheimische in die Sonne gelockt. Gespräche, Bestellungen und Kinderlachen erfüllten die Luft. Von der Elbmündung ertönte das Signalhorn eines Schiffes, im Hafen tuckerte ein Kutter. Ferienstimmung in Cuxhaven. Tausende von Menschen, die den Urlaub oder freie Zeit nutzten, um die frische Meeresluft und das maritime Ambiente ander Nordsee zu genießen. Marie dachte an die beiden Toten aus demWatt und beneidete die entspannten Menschen um sie herum.

Röverkamp lotste seine Kollegin ins Innere des Restaurants und führte sie über einige Stufen zu einem Podest mit bequemen Sesseln. Hier saßen sie höher als die übrigen Gäste und hatten freien Blick auf den Alten Hafen und den Leuchtturm. Und auf die Besucher, die auf der Deichkrone zur Alten Liebe wanderten. Zugleich schirmten die bodentiefen Glasflächen sie vom Lärm der Außenwelt ab.

Marie setzte sich und sah sich um. »Ich war noch nie hier.«

Röverkamp ließ sich gegenüber nieder und lächelte zufrieden. »Ich freue mich, dass ich dir auch mal was zeigen kann. Sonst bin ich es, der von deinen Ortskenntnissen profitiert. Das Personal ist freundlich, die Küche gut. Jedenfalls für meinen Geschmack. Aber ich bin sicher, dass du auch etwas finden wirst.« Er sah sich suchend um. »Die Karte ist sehr abwechslungsreich.«

»Danke, Konrad. Das ist nett von dir. Aber ich kann wirklich selbst ...«

Röverkamp machte eine abwehrende Handbewegung. »Kein Widerspruch. Schließlich habe ich dich gewissermaßen dienstlich verpflichtet.«

Eine junge Frau begrüßte sie und überreichte ihnen die Speisekarten. »Wir können heute den Seeteufel besonders empfehlen.«

»Fisch wäre schon mal nicht schlecht.« Röverkamp schlug die Karte auf. »Aber wir schauen erst noch. Und Getränke bestellen wir, wenn wir uns entschieden haben.«

Er wandte sich an Marie. »Das Problem bei dieser Karte ist, dassjede Entscheidung für etwas eine Entscheidung gegen alles andere ist. Mein Vorschlag: Wir verzichten auf eine Vorspeise und nehmendie Fischplatte. Einverstanden?«

Marie warf noch einmal einen schnellen Blick in die Karte und schluckte. »Sehr gern. Ich mag Fisch.«

»Dazu einen trockenen Chardonnay«, schlug Röverkamp vor. »Der würde gut passen.«

»Wein? Jetzt?« Unsicher sah Marie ihren Kollegen an.

»Weißwein zum Fisch. Das muss einfach sein. Hinterher gibt’s zum Ausgleich einen Kaffee.«

Konrad Röverkamp winkte der Bedienung und gab die Bestellung auf. »Und für mich zusätzlich eine Portion Bratkartoffeln bitte.«

Bis der Fisch gebracht wurde, war die Flasche Chardonnay schon fast zur Hälfte geleert. Konrad Röverkamp war nichts anzumerken, aber Marie war der Wein ein wenig zu Kopf gestiegen. Sie spürte, wie die Anspannung nachließ und einem angenehmen Gefühl von Gelöstheit Platz machte. Eigentlich keine schlechte Idee, mal zwischen lauter Touristen essen zu gehen. Die gut gelaunten Menschen um sie herum verbreiteten eine entspannte Atmosphäre. Fast fühlte sie sich selbst im Urlaub.

Sie betrachtete ihren Kollegen, der mit geübtem Griff eine Garnele aus der Schale drehte und genussvoll in den Mund schob. Fünf Jahre arbeitete sie nun schon mit Konrad Röverkamp zusammen. Während sie jeden Monat eine neue Falte in ihrem Gesicht entdeckte, war er überhaupt nicht gealtert. Die Lachfalten um seine Augen hatten sich nicht vermehrt. Die dunklen Haare zeigten keine Lücken. Vielleicht hatte sich das Grau an den Schläfen ein wenig ausgebreitet. Aber sonst? In letzter Zeit kniff er manchmal die Augenlider zusammen. Wahrscheinlich brauchte er eine neue Brille und scheute den Gang zum Augenarzt. Gelegentlich würde sie ihn wieder daran erinnern. Vielleicht mit etwas mehr Nachdruck. Aber heute wäre der Hinweis unpassend.

Konrad aß mit sichtlichem Genuss. Und irgendwie auch so, wie er seine Arbeit machte: ordentlich, gründlich, systematisch. Während es auf ihrem eigenen Teller wie auf einem Schlachtfeld aussah, hatte er die Schalentiere sauber aus ihren Hüllen befreit, die Bratkartoffeln sorgfältig an der Seite angehäuft, und das Gemüse war so dekoriert, wie es aus der Küche gekommen war.

Gelegentlich hatte sie sich über ihn geärgert, wenn er ihren Feuer­eifer nicht geteilt hatte. Hin und wieder war ihr seine Gründlichkeit auf den Geist gegangen. Doch meistens hatte er methodisch richtig und im Ergebnis erfolgreich gehandelt. Sie hatte viel von ihm gelernt. Eigentlich verdankte sie ihm ihr gesamtes kriminalis­tisches Können.

Über sein Privatleben hatte sie anfangs kaum etwas erfahren. Erst nachdem er sich in Sabine Cordes verliebt hatte und schließlich mit ihr zusammengezogen war, hatte er mehr Persönliches preisgegeben. Und er war geduldiger geworden. Mit ihr, mit seinen Kollegen, sogar mit Zeugen und Verdächtigen. Sie schrieb die Veränderung dem Einfluss seiner Lebensgefährtin zu. Manchmal nervte sie seine Langmut, andererseits schätzte sie seine Geduld.Außer bei ihm und Kriminaloberrat Christiansen schien diese Tugend bei keinem Kollegen besonders ausgeprägt zu sein.

»Wie wäre es mit einem Espresso?« Konrad unterbrach ihre Gedanken. Er schob seinen leeren Teller ein Stück von sich und tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab.

»Müssen wir nicht ...?« Marie warf einen Blick auf die Uhr.

Röverkamp schüttelte den Kopf. »Es besteht kein Grund zur Eile. Außerdem würde ich dir gerne noch etwas erzählen.«

Marie sah ihn aufmerksam an. Es klang, als wollte er ihr etwas Privates anvertrauen. Hatten er und Sabine sich entschlossen zu heiraten?

Er schien ihren Gedanken zu erraten und beeilte sich, ihm zu widersprechen. »Es hat im weitesten Sinn mit unserem Fall zu tun. Wir bleiben also dienstlich bedingt noch etwas länger.«

»Mit unserem Fall? Gibt es etwas, was ich noch nicht weiß?«

»Wie gesagt, im weitesten Sinn.« Röverkamp winkte der Bedienung.

Nachdem er für Marie einen Cappuccino und für sich einen Espresso bestellt hatte, wartete er, bis der Tisch abgeräumt war. Dann beugte er sich vor.

»Es geht um den Anblick der Leichen. Besonders der von Oliver Rien.«

Marie war irritiert. »Weil ich ...«

»Nicht deshalb. Jedenfalls nicht wegen einer scheinbaren Schwäche. Falls du das meinst. Sondern weil wir lernen müssen, mit solchen Erlebnissen umzugehen, ohne daran zu verzweifeln. Dir werden noch öfter solche Fälle begegnen. Und schlimmere. Obwohl ich viele scheußliche Leichen gesehen habe, kann ich dasLeben genießen. Ich möchte dir erzählen, wie ich das geschafft habe. Wenn du willst.«

Er machte eine Pause und wartete, bis die Bedienung den Kaffee abgestellt und sich wieder entfernt hatte.

Weil Marie nicht wusste, ob sie wirklich hören wollte, wasKonrad Röverkamp ihr zu sagen hatte, zögerte sie. Doch dann nickte sie. Schon um ihn nicht zu enttäuschen. »Ja, bitte.«

»Ich habe mit siebzehn Jahren bei der Polizei angefangen. Direktnach der Realschule. Mit der Vorstellung, einen spannenden Berufvoller Abenteuer zu ergreifen und ohne zu ahnen, was auf mich zukommen würde. Und das hat mir auch niemand erklärt. Als ichnach ein paar Wochen einen verbrannten Menschen aus einem Autoziehen musste, wollte ich die Ausbildung wieder hinschmeißen. Niemand hat bemerkt, wie es mir ging. Es hatte ja auch vorher niemand bemerkt, wie sehr ich die Hosen voll hatte, gleich als es hieß,wir würden einen Unfall aufnehmen müssen, bei dem ein Kleinwagen in einen umgekippten Lkw gerauscht war. Mir wurde schonübel, als ich den Rauch an der Unfallstelle sah. Zwei Erwachsene, zwei Kinder. Die Eltern tot, die Kinder mit lebensgefährlichen Verbrennungen. Ich erspare dir die Einzel­heiten. Nachts habe ich die Bilder vor mir gesehen, konnte nicht schlafen, hatte den Geruch in der Nase.« Er strich sich mit der Hand über die Stirn, als könnte er die Erinnerung daran wegwischen.

»Einem älteren Kollegen, der kurz vor der Pensionierung war, mussaufgefallen sein, wie mir die Erlebnisse zugesetzt haben.Eines Abends hat er mich auf ein Bier eingeladen. Ich habe damals nicht alles verstanden, was er mir erklärt hat. Aber etwas hat sichbei mir festgesetzt. Die Einsicht, dass es keine Schwäche und schongar keine Schande ist, über seine Ängste zu reden. Für einen siebzehnjährigen Jungen ein großes Eingeständnis. Du bist schon viel weiter. Älter, erfahrener und besser ausgebildet. Trotzdem kann es dir passieren, dass du an die Grenzen kommst, die Bilder nicht mehr ertragen kannst. Es ist ein Irrtum, dass man sich daran gewöhnt, dass man abstumpft.« Er schüttelte den Kopf, als wollte er sich selbst überzeugen.

»Das Gegenteil ist der Fall. Du wirst mit den Jahren dünnhäutiger, die Bilder werden mehr, sie werden schrecklicher und sie setzen dir immer mehr zu. Das gilt nicht für alle Kollegen. Es gibt auch die von Natur aus Dickfelligen, die nichts an sich heranlassen. Aber zu denen gehörst du nicht. Also musst du rechtzeitiggegensteuern. Und dafür gibt es nur einen Weg. Du musst darüberreden. Das habe ich gemeint, als ich gesagt habe, sprich mit Felix, sprich mit mir oder mit wem auch immer, wenn dich Eindrücke und Erinnerungen beschäftigen. Warte nicht, bis sie anfangen, dich zu quälen.«

Marie nickte. Sie war dankbar und verunsichert zugleich. Dankbar für die Offenheit, mit der er über seine eigenen Erfahrungen gesprochen hatte, dankbar auch für das Angebot, für sie da zu sein. Dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, so sehr von Eindrücken und Erlebnissen aus der Polizeiarbeit gefangen zu sein, dass sie Hilfe brauchte. Eine leichte Übelkeit kam schon mal vor. Sie musste nicht zwangsläufig vom Anblick der Leiche stammen.

»Danke für deinen Rat. Und für das Angebot.« Verlegen nahm sie einen Schluck Cappuccino. »Ich hoffe, ich komme klar.«

Röverkamp lächelte und winkte der Bedienung. »Möchtest du noch etwas trinken?«

»Nein, danke.« Marie schüttelte den Kopf.

»Dann werde ich jetzt zahlen.«

Als sie dasContinentalverließen, herrschte noch immer Hochbetrieb auf der Terrasse. »Danke für das schöne Essen.« Marie ließ den Blick über die Feriengäste schweifen, deren Sommerkleidungin allen Farben leuchtete. »Das war gerade wie ein kleiner Urlaub.«

»Schön!«, freute sich Röverkamp. »Und jetzt kümmern wir uns um die ehemaligen Mitschüler von Herrn Hansen. Müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht herausbekämen, was damals passiert ist.«

Sandras innere Unruhe wuchs. Warum geschah nichts? Die Zimmer 19 und 42 waren von der Polizei versiegelt worden. Susanne und Christopher Hansen wirkten angespannt, gingen aber ihren gewohnten Tätigkeiten nach. Warum gab es keine Durchsuchung in Hansens Büro? Hatte die Polizei den Computer von Cohrs nicht untersucht? Unverständlich, dass nicht nach einem Mörder gesucht wurde.

Sie hatte sich dieCuxhavener Nachrichtenbesorgt. Darin wurde zwar ausführlich über die Leichenfunde berichtet, aber nicht von der Suche nach einem Täter. »Wir ermitteln in alle Richtungen«, hatte ein Staatsanwalt mit dem seltsamen Namen Krebsfänger gesagt. »Fremdeinwirkung kann nicht ausgeschlossen werden. Aberauch Selbsttötungen sind denkbar. Die rechtsmedizinischen Unter­suchungen sind noch nicht abgeschlossen. Wenn diese keinen Anhaltspunkt für ein Tötungsdelikt ergeben, werden die Verfahren eingestellt.«

Verfahren eingestellt? Sandra spürte, wie sich Enttäuschung in ihr breitmachte. Es begann mit einem flauen Gefühl in der Magen­gegend, kroch von dort in alle Glieder und stieg als heiße Welle über den Nacken in den Kopf. Sollte sie ihre Pläne ändern? Sollte sie Hansen direkt angehen? Sie besaß noch genug Flunitrazepam.

Im Wintersemester hatte ein Schwerpunkt in der Stoffanalyse gelegen; so hatte sie, ohne aufzufallen, täglich mehrere Stunden im Labor verbringen und sich damit eindecken können. Dort wurde der Stoff noch ungefärbt und unvergällt ausgegeben. Hansen trank gerne Cognac. Wenige Tropfen würden genügen, um ihn in einen Zustand zu bringen, in dem sie leichtes Spiel haben würde. Ihr war nicht entgangen, wie er sie beobachtete. Noch hatte er sie nicht angesprochen. Nicht einmal als Angestellte. Aber sein Blick verriet sein Interesse. Ein unauffälliges Zusammentreffen, eine oder zwei Stunden Konversation, die Tropfen, ein Sturz vom Dachgarten des Hotels.

Nein. Zu schnell.

Wenn sie überhaupt diesen Weg wählte, musste es an einem der Hafenbecken geschehen. Das war das mindeste. Sie holte den Zeitungsbericht aus dem Jahr 1990 aus der Mappe, in der sich auch das Tagebuch ihrer Mutter befand. Anja hatte ihr die Dokumente an Sandras achtzehntem Geburtstag ausgehändigt. Dass Anja nicht ihre leibliche Mutter war, hatte sie schon zwei Jahre früher erfahren. Als sie wegen einer Schulfahrt ins Ausland einen Passbeantragen musste und in den Unterlagen eine amtliche Urkundeentdeckt hatte. Sandra Peters hatte sie geheißen, bevor die Lebens­gefährtin ihrer Mutter sie adoptiert hatte.

Sie strich das vergilbte Zeitungspapier glatt und las alle Artikel noch einmal, obwohl sie die Texte längst auswendig kannte.

Cuxhavener Nachrichten 1984

Vermisste Frau tot aufgefunden.

Ist Birte H. Opfer eines Mörders? – Von Hajo Sommer

Gestern wurde die Leiche der zuvor vermissten neunzehnjährigen Schülerin aus Sahlenburg angespült. Das Mädchen ist offenbar ertrunken. Allerdings gibt es nach Auskunft der Kriminalpolizei Hinweise darauf, dass ein unbekannter Täter sein Opfer unterWasser gedrückt haben könnte.

Die Polizei sucht nun nach Zeugen, die Angaben über Personen machen können, die sich am Sonntag im Strandgebiet in Höhe des Wernerwalds aufgehalten haben. Zu dieser Zeit herrschte See­nebel im Watt.

Cuxhavener Nachrichten 1990

Junge Frau in Cuxhaven getötet.

Dreiundzwanzigjährige starb im Hafenbecken. – Von Hajo Sommer

Zuerst sah alles nach einem Unfall aus. Katrin P. starb durchErtrinken. Sie war in das kalte Wasser des Alten Fischereihafens gestürzt. Die Untersuchungen der Kriminalpolizei ergaben jedoch, dass sie zuvor mit einem Halstuch gewürgt worden war.Infolge dieser Gewalteinwirkung hat sie sich nicht aus dem Wasser retten können. Unklar ist nach Angaben der Kriminalpolizei, ob die junge Frau in das Hafenbecken gefallen ist oder gestoßen wurde. Die Ermittlungen konzentrieren sich auf einen bisher unbekannten Mann, dem auch ein Tötungsdelikt aus dem Jahr 1984zugeschrieben wird. »Es gibt Parallelen«, sagte KriminalratChristiansen, Leiter des Zentralen Kriminaldienstes der Polizeiinspektion Cuxhaven.

Katrin P. ist in Altenbruch aufgewachsen und hat das Amandus-Abendroth-Gymnasium in Cuxhaven besucht.

Cuxhavener Nachrichten 1994

Frauenmord im Kurgebiet

Serientäter hat wieder zugeschlagen – Von Hajo Sommer

Vier Jahre nach dem gewaltsamen Tod von Katrin P. aus Altenbruch ist eine zwanzigjährige Touristin aus Bochum am Strand von Sahlenburg ermordet worden. Der Name der jungen Frau wird von der Polizei mit Sarah Kleinert angegeben. Ermittlungsergebnisse lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Ein Sprecher der Polizeiinspektion Cuxhaven schloss nicht aus, dass auch diese Tat auf das Konto des unbekannten Serienmörders geht, der seit 1984 in der Region sein Unwesen treibt.

Cuxhavener Nachrichten 2005

Wasserleiche im Kutternetz

Krabbenfischer ziehen tote Frau aus der Nordsee – Von Felix Dorn

Elf Jahre nach dem letzten Mordfall steht die Polizei erneut vor einem Rätsel. Wieder hat ein unbekannter Gewalttäter zugeschlagen. Der aktuelle Fall ähnelt den Morden, die sich während der letzten zwanzig Jahre im Raum Cuxhaven zugetragen haben. Wieder wurde eine junge blonde Frau ums Leben gebracht. Kriminalhauptkommissar Röverkamp, dessen Fachkommissariat für die Aufklärung der Tat zuständig ist, wollte aus taktischen Gründen keine Einzelheiten zum Täterprofil mitteilen. Er ist aber zuversichtlich, dass der Mörder gefasst wird. »Wir wissen jetzt mehr über ihn als in den vorausgegangenen Fällen.«

Den meisten Cuxhavener Bürgern fällt es schwer, diese Zuversicht zu teilen. Inzwischen wird sogar die Legende vom Roten Claas bemüht. Der Täter müsse ein Nachfahre des Mädchenmörders sein, der um 1700 wegen seiner Tat auf der Amtmannsweide in Ritzebüttel öffentlich hingerichtet worden war.

Unwillkürlich schüttelte Sandra den Kopf. Und dieser Serienmörder sollte auch ihre Mutter umgebracht haben. Er hatte lebens­länglich bekommen. Aber der wahre Verantwortliche war niemals zur Rechenschaft gezogen worden, er war sogar in den Stadt­rat gewählt worden, ein angesehener Cuxhavener Bürger. Das würde sich ändern, dafür würde sie, Sandra, jetzt endlich sorgen.

Sorgfältig legte sie die Zeitungsausschnitte in die Mappe zurück und zog einen Brief hervor.

Liebste Anja,

es ist mir nicht leicht gefallen, nach Cuxhaven zu fahren. Und dannhabe ich noch drei volle Tage gebraucht, um mit C. Kontakt aufzunehmen. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn sprechen will. Unter vier Augen. Von der Kleinen habe ich noch nichts gesagt. Vielleicht ahnt er etwas. Zumindest dürfte er sich an das erinnert haben, was vor drei Jahren passiert ist.

Wir treffen uns heute Abend am Alten Fischereihafen. Er hat anscheinend Angst, dass uns jemand sieht. Wahrscheinlich, weil er mitSuse verheiratet ist.

Ich frage mich, wie er wohl reagieren wird. Ein bisschen unheimlich ist mir die Sache schon. Wahrscheinlich wird er erst mal jede Verantwortung abstreiten. Aber es gibt ja diese Tests. Dafür müsste ich aber vor Gericht gehen. Ich weiß nicht, ob ich das will. Wir können das ja nach meiner Rückkehr in aller Ruhe besprechen. Vielleicht muss ich aber noch ein paar Tage hierbleiben.

Gib meiner Kleinen einen Kuss!

Ich umarme Dich, Deine Katrin

Sandra schob den Brief an seinen Platz zurück. Ohne es zu wollen,hatte sie plötzlich das Tagebuch in der Hand, schlug es auf und begann zu lesen. Doch sie nahm die Sätze gar nicht mehr wahr. Zu oft hatte sie die Schilderungen gelesen. Sie wusste genau, was damals passiert war.

Sonntag, 12. Juli 1987, 00:45 Uhr

Das Boot rauschte durch schilfiges Ufer auf den Sand. Chris sprang hinaus und zog es weiter hinauf. »Bitte alle aussteigen! Wir versammeln uns zu einer kleinen Expedition auf unbekanntem Terrio ... Territorium.«

Alex kletterte ebenfalls von Bord. »Sei brav«, kicherte er, »und folge uns unauffällig.«

»Ich will zurück«, erwiderte sie. »Und zwar sofort.« Wütend wanderte ihr Blick von einem zum anderen.

»Steig aus, Mädchen, zier dich nicht so!« Chris näherte sich dem Boot von der Seite und griff nach ihrem Arm. »Komm jetzt, wir wollen doch nur spielen. Sei lieb.«

Doch Katrin klammerte sich an die Sitzbank. »Fass michnicht an,du Schnapsnase«, fauchte sie. »Dein Machogehabe kannstdu an Suse auslassen. Aber nicht an mir. Verpiss dich, du Flachpfeife!«

»Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt ...« Chris zerrte an Katrins Arm. »Los, Alex, fass mal mit an.« In diesem Augenblick knallte sie ihm mit aller Kraft die Faust auf sein Ohr. Chris taumelte, fing sich aber wieder und stürzte sich mit Wutgeheul auf Katrin. Er packte sie an den Oberarmen, riss sie von der Sitzbank hoch und schleuderte sie zum Bug. Sie stürzte über die vordere Bank und fiel mit dem Kopf auf die Bordwand.

Entsetzt starrte Alexander auf den leblosen Körper. »Mensch, Chris, was hast du gemacht?«

»Keine Sorge, das Miststück kommt schon wieder zu sich. Los, pack mal mit an!« Mit vereinten Kräften schleppten sie Katrin durch das feuchte Schilf auf freien Sandboden, wo Chris begann, der Bewusstlosen die Kleider vom Leib zu reißen.

Wie gelähmt starrte Alex auf die Szene. Als Katrins weißer Körper zum Vorschein kam und sich stöhnend bewegte, erwachte er aus seiner Erstarrung. »Das kannst du doch nicht machen! Chris, hör auf!« Doch der Kamerad war wie von Sinnen. »Und ob ich das kann. Ich werd’s der Lesbe jetzt mal richtig besorgen.«

»Hör auf! Chris!« Verzweifelt versuchte Alex, den Rasenden an den Schultern zurückzuhalten. Da fuhr ihm Chris’ Faust unter das Kinn. Benommen taumelte er ins Schilf, verlor das Gleichgewicht und schlug der Länge nach hin.

Minuten später fand er sich im kalten Wasser wieder, zitternd, als Zuschauer einer gespenstischen Szene. Durch das Schilf zeichneten sich eindeutige Bewegungen ab. Chris vollendete sein Werk,ohne dass er ihn daran hindern konnte. Als Alex endlich den Schau­platz erreichte, stöhnte Chris auf und ließ sich vorn­über fallen.

Katrin bewegte sich erneut. Sie erkannte Chris’ verschwitztes Gesicht. Mit einem erstickten Wutschrei stieß sie den schweren Körper von sich. Chris ließ es geschehen und erhob sich. Dann ging er, ohne Alex eines Blickes zu würdigen, zum Ufer, watete durchs Schilf ins tiefere Wasser und begann, in Richtung Hütte zu schwimmen.

In dieser Sekunde erreichte Olli, nur wenige Meter von Chris entfernt und von ihm unbemerkt, die Landzunge. Er hatte die Ungewissheit nicht länger ertragen und war trotz seiner Verletzung vom Strand vor dem Jagdhaus hierher geschwommen.

Wie ein Gespenst erschien Katrin plötzlich vor ihm aus der Dunkelheit. Sie hatte das zerrissene Kleid angezogen, ihre Haare hingen in wilden Strähnen um den Kopf. Noch hatte sie ihn nichtentdeckt. Gerade, als er sich bemerkbar machen wollte, fiel ihr Blickin seine Richtung. Sie starrte ihn aus blutunterlaufenen Augen an. »Wie konntest du das zulassen!« Ihre Stimme war voller Hass.

Jedes ihrer Worte traf Olli wie ein Messerstich. »Aber ich ...«, begann er. Doch Katrin hatte sich schon abgewandt und das Boot ins Wasser geschoben. Sie kletterte hinein und begann zu rudern, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Plötzlich stand Alex neben Olli. »Chris hat sie ...«, murmelte er. »Ich konnte es nicht verhindern.«