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Die Telefonanlage blinkte, als Christopher Hansen das Büro betrat. Auf dem Display leuchtete ein Hinweis des Empfangs, offenbar gab es eine Rückfrage. Er drückte einen Knopf und meldete sich.

»Wir hatten einen seltsamen Anrufer, der unbedingt Herrn Börnsen sprechen wollte«, berichtete die Rezeptionistin. »Es sei dringend und ginge umVergangenheit und Zukunft. Seinen Namen wollte er nicht nennen. Er will wieder anrufen. Was soll ich ...«

»Auflegen«, knurrte Hansen. Doch dann schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. »Nein, warten Sie. Stellen Sie ihn zu mir durch, wenn er sich noch mal meldet.«

Vielleicht war es kein Zufall, dass sich nach den seltsamen Todesfällen ein seltsamer Anrufer meldete. Falls er etwas über die Morde wusste, war es klüger, mit ihm zu sprechen. Vielleicht war es auch nur ein raffinierter Reporter, der mit Hilfe dubioser Andeutungen einen Gesprächstermin erreichen wollte. In beiden Fällen würde er zum Schein auf die Wünsche des Anrufers eingehen, um dessen Identität herauszufinden. Und dann würde er dafür sorgen, dass er niemanden mehr behelligen würde.

Seit die Polizei wegen der Todesfälle im Watt im Hotel aufgetaucht war, wurde Hansen von bohrenden Gedanken umgetrieben.Die Unterlagen aus Riens Zimmer hatten seine innere Unruhe weiter geschürt. Es musste einenGrund dafür geben, dass Cohrs und Rien zur gleichen Zeit ins Hotel gelockt worden waren. Und ausgerechnet von Katrin Peters. Wie passte das alles zusammen? Wollte jemand ein Komplott gegen ihn schmieden? Ihn erpressen? Dazu würde ein Anrufer passen, der sich nicht zu erkennen gab. Aber warum wollte er seinen Schwiegervater sprechen?

Nur gut, dass Susanne den Anruf nicht entgegengenommen hat­te. Eigentlich konnte sie nichts wissen. Vielleicht ahnte sie etwas. Zumindest machte sie sich Gedanken, stellte Fragen, schien ihn zu beobachten. Noch hatte er sie beschwichtigen können, doch Hansen spürte das Misstrauen in ihrem Blick, in ihren Worten. Etwasmusst­e geschehen, damit die Bedrohung aufhörte. Wenn Susannesich gegen ihn stellte und der alte Börnsen ihn fallen ließ, würden ihm auch seine Ämter und das damit verbundene Ansehen nichts mehr nützen. Parteifreunde konnten sich von einem Tag zum anderen abwenden, der dann folgende Absturz wäre unumkehrbar.

Hansen starrte auf den Apparat. Er wollte endlich Klarheit haben. Fast sehnte er das Telefonat herbei.

Trotzdem zuckte er zusammen, als es klingelte und das Display einen Anruf von der Rezeption anzeigte. Er nahm ab und meldete sich.

»Da ist wieder dieser Mann, der ...«

»Stellen Sie durch!« Er wartete, bis der Mitarbeiter vom Empfang aus der Leitung war. »Hansen.«

»Ich will den Chef sprechen. Börnsen.«

»Der Chef bin ich. Wer sind Sie und was wollen Sie?«

Für einen Augenblick schwieg der Anrufer. Hansen hörte ihn atmen. »Dann geben Sie mir die Telefonnummer von Börnsen.«

»Wenn Sie mir Ihren Namen nicht sagen, kann ich Sie nicht anmelden.«

Aus dem Hörer ertönte ein trockener Lacher. »Nun hör’ mal gut zu, mein Junge. Börnsen weiß, wer ich bin. Und ich kenne ihn. Er wird stinksauer, wenn du Schwierigkeiten machst. Darauf kannst du dich verlassen. Ich rufe in einer halben Stunde wieder an. Und dann ist der Alte dran. Oder du gibst mir eine Nummer, unter der ich ihn erreiche. Ende der Durchsage.«

»Verbindung beendet«, signalisierte das Display des Telefons. Hansen hielt den Hörer in der Hand und lauschte auf das Besetztzeichen, ohne es wirklich wahrzunehmen. Die Situation wurde immer verworrener. Was konnte der Unbekannte von Berend Börnsen wollen? Die Art, wie sich der Mann ausgedrückt hatte, ließ nicht auf einen seriösen Geschäftspartner schließen.

Berend Börnsen gab sich nicht mit fragwürdigen Menschen ab. Wenn er tatsächlich etwas mit diesem Unbekannten zu tun hatte,widersprach das allen Grundsätzen, die der alte Herr sonst pflegte.

Unwillkürlich breitete sich ein hämisches Grinsen in Hansens Zügen aus, während er zum Telefon griff und die Nummer seines Schwiegervaters wählte. »Wollen doch mal sehen«, murmelteer, »wie der Alte reagiert.«

»Du gibst ihm meine Handynummer«, bestimmte Börnsen, nachdem Hansen von dem Anruf berichtet hatte. Dann legte er auf. Keine Nachfrage. Keine Erklärung. Nicht einmal eine Andeutung, ob ihn der Anruf befremdete. Und Hansen keine Chancelassend nachzufragen.

Nachdenklich legte er den Telefonhörer ab. Was hätte er darum gegeben, das Gespräch zwischen seinem Schwiegervater und dem Unbekannten mithören zu können. Seine Kiefern mahlten. Er musste herausfinden, was da vor sich ging. Die einzige Möglichkeit bestand darin, den Alten in den nächsten Stunden im Auge zu behalten. Er musste herausfinden, ob das nicht doch mit denTodesfällen und mit Katrin Peters zu tun hatte, von der die beidenOpfer hierhergelockt worden waren.

Erneut nahm er den Hörer auf und führte zwei kurze Telefo­nate, in denen er sich bei seiner Frau und beim Empfangschef für einige Stunden abmeldete. In der Ratsfraktion sei kurzfristig ein Besprechungstermin angesetzt worden. Doch statt zum Rathaus fuhr er zur Stadtvilla seiner Schwiegereltern.

Während Berend Börnsen auf den Anruf wartete, kreisten in seinem Kopf die Gedanken. Eines Tages würde er wahrscheinlich einen hohen Preis zahlen müssen. Doch bisher hatte der Zeitpunkt dafür weit in der Zukunft gelegen. Und es war keineswegs sicher gewesen, dass er den Zahltag noch erleben würde. Trotzdem hatte er vorgesorgt. Allerdings nicht für den Fall, der jetzt offenbar eingetreten war. Dieser Anruf würde die Regeln des bösen Spiels ändern. Er war es gewohnt, dass nach seinen Vorgaben gehandelt wurde. Nun wollte ein anderer bestimmen.

Eine unerträgliche Vorstellung.

Dennoch würde er auf die Forderungen eingehen müssen. Tat er es nicht, ging er ein unkalkulierbares Risiko ein. Um sich selbst machte Börnsen sich keine Sorgen. Aber seine Tochter würde er nicht ausreichend schützen können.

Er überprüfte die Empfangsbereitschaft seines Handys, während er unruhig in seinem Arbeitszimmer auf und ab wanderte und nach einer alternativen Lösung suchte. Wenn er Krebsfänger einschaltete und der Mann bei der Geldübergabe festgenommenund wieder ins Gefängnis gesteckt würde ... Unbewusst schüttelteBörnsen den Kopf. Zu unsicher. Die Festnahme könnte misslingen. Dann wäre seine Familie in Gefahr. Würde der Erpresser festgesetzt, könnte er trotzdem gefährlich werden. Denn dann würdeer möglicherweise sein Geständnis widerrufen. Es gab also nur zwei Möglichkeiten. Börnsen würde zahlen, aber versuchen, den Preis zu drücken, oder selbst dafür sorgen müssen, dass der Mann für immer verschwand. Am besten auf die gleiche Weise wie die beiden Toten aus dem Watt. Dann würde die Spur in eine andere Richtung deuten.

In seiner Brusttasche vibrierte das Handy. Er meldete sich mit einem kurzen »Ja?«

»Vielleicht haben Sie es gehört.« Der Anrufer machte eine Kunstpause. »Ich bin draußen.«

»Was wollen Sie?«

»Zweihundertfünfzig Mille. Sofort.«

»Hundert«, antwortete der alte Hotelier. »Fünfzig morgen, fünfzig später.«

Der Anrufer lachte. »Krämer bleibt Krämer. Sagen wir ... hundert heute, weitere hundert in drei Tagen.«

»Das geht nicht«, knurrte Börnsen. »Ich brauche Zeit, um die Mittel flüssig zu machen. Fünfzigtausend morgen oder übermorgen. Hundert in einer Woche. Schneller geht’s nicht.«

»Ich kann aber nicht warten.« Die Stimme zögerte einen Moment. »Also gut. Fünfzigtausend morgen. Und dann sehen wir weiter. Aber ich will noch heute einen Vorschuss. Fünftausend Euro.«

»Das wäre möglich.« Börnsen hatte in der Stimme die Zufriedenheit des Anrufers mit dem Deal gehört. Sein Ärger wuchs.

»Dann ist es ja gut. Ich melde mich in einer Stunde wieder.«

Berend Börnsen drückte die Ende-Taste und ließ das Telefon in die Tasche gleiten. Er warf einen Blick auf die Uhr. Die Bank hatte geöffnet. Um das Geld zu besorgen, würde er kaum mehr als eine halbe Stunde benötigen. Er ließ sich am Schreibtisch nieder, um den Filialleiter anzurufen. Wenn er die fünftausend Euro abholte, konnte er auch gleich Anweisungen für die Bereitstellung der weiteren Summen erteilen.

Nach dem Telefonat mit dem Bankmanager entnahm er der Schublade seines Schreibtisches einen Schlüssel und öffnete den in einem Wandschrank verborgenen Tresor. Das Bargeld rührte er nicht an, denn wenn plötzlich fünftausend Euro fehlten, könnte das seiner Frau auffallen. Er entnahm lediglich ein kleines Päck­chen.

Christopher Hansen folgte seinem Schwiegervater zu einer Bankfiliale in der Nordersteinstraße. Durch eine Glastür beobachtete er, wie Börnsen vom Filialleiter begrüßt und in einen anderen Raum geführt wurde.

Missmutig kaute Hansen auf seiner Unterlippe. Was konnte der seltsame Anrufer mit Bankgeschäften des Alten zu tun haben? Bargeld hatte er stets ausreichend im Tresor. Dort landete das Schwarzgeld aus dem Hotel. Und wenn Berend Börnsen oder seine Frau Geld brauchten, bedienten sie sich dort. Warum also warer zur Bank gefahren? Warum hatte er ein Gespräch mit dem Filial­leiter? Dabei konnte es nur um größere Summen gehen. Oder war der zeitliche Zusammenhang mit dem Anruf Zufall?

Einen Augenblick lang erwog Hansen, seinen Schwiegervater zur Rede zu stellen. Doch er verwarf den Gedanken. Der Altewürde ihn abkanzeln und stehen lassen. Die bessere Lösung wäre,Susanne vorsichtig, ohne zu viel zu verraten, auf ihren Vater anzusetzen. Wenn überhaupt jemand etwas aus ihm herausbekommen konnte, war sie das. Er musste sich darauf beschränken, Börnsen zu beobachten.

Hansen wanderte ein wenig in der Fußgängerzone auf und ab und behielt dabei den Eingang des Bankgebäudes im Auge. Er war schon länger nicht mehr in der Nordersteinstraße gewesen, und es schien ihm, als hätte sich ihr Aussehen irgendwie verändert. Trotz des warmen Wetters waren weniger Menschen unterwegs, als er es aus früheren Jahren in Erinnerung hatte. Zwar war das Eiscafé am Vanneter Platz gut besucht, aber die Gäste, die dort in der Sonne saßen, sahen überwiegend nach Urlaubern aus.

In den Geschäften war nur wenig Betrieb. Manche standen völlig leer. Seit das Kaufhaus Hertie geschlossen worden war, hatten auch einige Fachgeschäfte aufgegeben. Mit dem Leerstand und dem traurigen Bild, das die Fußgängerzone dadurch abgab, hatte sich der Stadtrat schon mehrfach beschäftigt. Doch gegen die hohen Mieten, die von den Hausbesitzern in der Nordersteinstraße verlangt wurden, war der Rat machtlos. Wahrscheinlich musste es mit der Innenstadt noch weiter bergab gehen, bis sich ein neuer Trend durchsetzen konnte.

Das Leitbild zur Stärkung der Innenstadt, dem sich der Rat verpflichtet hatte, nützte herzlich wenig, wenn daraus keine konkreten Maßnahmen erwuchsen. Mit einer neuen Pflasterung würdeman die Probleme nicht lösen können. Allzu viele Cuxhavenerkamen zum Einkaufen gar nicht mehr in die Innenstadt, sie bevorzugten die Discounter am Stadtrand. Darum hatte sich eineInitiative gebildet, die Unterschriften für ein Bürgerbegehren gegen weitere Supermärkte sammelte. Der Gedanke ließ Hansen unwillkürlich lächeln. Entscheidungen für oder gegen wirtschaftlich bedeutsame Projekte wurden nach anderen Kriterien getroffen, als der normale Bürger es sich gewöhnlich vorstellte. Parteipolitische und wirtschaftliche Interessen von Ratsmitgliedern spielten eine wichtige Rolle, die Vernunft blieb da manchmal auf der Strecke. Das hatte er früh erkannt und für seine politische Karriere zu nutzen gewusst.

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als Berend Börnsen inder Tür der Bank erschien. Dessen grimmiger Blick deutete auf eineeher unerfreuliche Transaktion als auf den Abschluss eines gewinnbringenden Geschäfts hin. Ein vorteilhafter Handel hatte bei seinem Schwiegervater noch immer für eine ausgeprägt zufriedene Miene gesorgt.

Börnsen verschwendete keinen Blick an seine Umgebung, eilte die Stufen hinab und wandte sich in Richtung Parkhaus. Hansen folgte ihm in sicherem Abstand.

Marie Janssen hatte es abgelehnt, Urlaub zu nehmen oder sich gar krankschreiben zu lassen. »Ich will diesen Fall voranbringen«, hatte sie nachdrücklich verkündet. »Und ich will die Fahndung nach Kienast verfolgen. Wenn ich in Otterndorf herumsitze und nicht weiß, was passiert, drehe ich durch.«

Felix hatte nur schwachen Protest eingelegt, weil er wusste, dass Marie ihren Kopf ohnehin durchsetzen würde. Und offenbar hatte der Überfall sie weniger stark mitgenommen, als er erwartet hatte. Darum hatte er auch nicht länger gezögert und ihr von dem Brief berichtet, der bei der Zeitung eingegangen war. Zu seiner großen Enttäuschung kannte Marie den Inhalt bereits. Dennoch war sie für den Hinweis dankbar. »Ich frage mich, wer den Brief verschickt hat. Der Autor kann es ja nicht gewesen sein und der Empfänger, also Hansen, hat sicher kein Interesse daran, dass er bekannt wird. Aber irgendjemand will offenbar unsere Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Und es muss jemand aus seiner unmittelbaren Umgebung sein, der Zugang zu Hansens Unterlagen hat.«

»Was sagt denn Hansen selbst dazu?«

»Der will den Brief nicht bekommen haben.«

»Und? Nehmt ihr ihm das ab?«

»Nein. Aber der Staatsanwalt glaubt ihm. Und deshalb bekommen wir keinen Durchsuchungsbeschluss.«

Felix hatte sich mit der Auskunft zufriedengegeben und nicht weiter nachgefragt. Rasch hatte Marie das Thema gewechselt. »Kannst du denSmartvon der Zeitung noch ein paar Tage benutzen und mir dein Auto überlassen? Ich würde ungern mit dem Roller zwischen Cuxhaven und Otterndorf pendeln.«

Er hatte ihr seine Autoschlüssel in die Hand gedrückt. »Natürlich bekommst du meinen Wagen.«

Sie war mit ihm in die Stadt gefahren und hatte Felix’ rot-weißen Mini Cooper abgeholt, den er im vergangenen Jahr dank der staatlichen Abwrackprämie erworben hatte. Mit dem Kleinwagen war sie nach Otterndorf gefahren, hatte ihre Sachen dort deponiert und den verdutzten Eltern erklärt, dass sie wegen eines Wasserrohrbruchs in ihrer Wohnung für zwei oder drei Tage bei ihnenübernachten wollte.

Am frühen Nachmittag saß sie bereits wieder im Büro des Fachkommissariats der Polizeiinspektion an der Werner-Kammann-Straße. Röverkamp undChristiansen hatten Maries Einwände gegen eine Arbeitspause nach einer kurzen Diskussion ebenfallsakzeptiert, aber darauf bestanden, dass sie sich aus dem FallKienast heraushielt. Die Befragung ehemaliger Mitschüler von Christopher und Susanne Hansen stand noch aus. Wenn Marie herausbekäme, was seinerzeit geschehen war, kamen sie im Fall Cohrs/Rien möglicherweise einen entscheidenden Schritt weiter.

Bevor sie sich auf den Weg zum Amandus-Abendroth-Gymnasium machte, berichtete sie Konrad Röverkamp von der Brief­kopie, die bei den Cuxhavener Nachrichten eingegangen war.

»Das ist ja interessant. Offenbar will jemand Hansen ans Messer liefern.«

»Genau«, bestätigte Marie. »Und derjenige ist im Besitz des Briefes.«

»Oder hatte Gelegenheit, ihn zu kopieren.« Röverkamp nahm die Brille ab und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. »Der Schreiber des Briefes ist tot. Sein Computer befindet sich in der Kriminaltechnik. Der Brief muss also schon vor Tagen ausgedruckt worden sein.«

»Ich wette«, ereiferte sich Marie, »Hansen hat uns belogen. Wahrscheinlich nicht nur in diesem Punkt.«

»Jemand könnte den Brief abgefangen haben«, gab Röverkamp zu bedenken. »Er könnte zwar im Hotel angekommen sein, aber ohne dass er ihn zu Gesicht bekommen hätte. Wäre immerhin möglich.«

»Und wer sollte das tun? Ihm einen Brief vorenthalten? Ausgerechnet diesen aus unzähligen anderen herausfischen?« Marie schüttelte den Kopf.

Der Hauptkommissar breitete die Arme aus. »Seine Frau. Ich hatte nicht den Eindruck, dass Susanne Hansen in erster Linie liebende Ehefrau ist. Vielleicht spielt sie ihr eigenes Spiel. Und ich glaube, für sie wäre im Zweifel das Hotel wichtiger als ihr Mann. Denkst du das nicht auch?«

»Schon«, gab Marie zu. »Aber aus welchem Grund sollte sie ihn in dieser Sache belasten? Sie hat doch eine sehr deutliche Abwehrposition eingenommen, als wir dort aufgetaucht sind.«

»Das ist wahr«, stimmte Röverkamp zu. »Andererseits wissen wir nicht wirklich, was zwischen den beiden los ist. Sie kann ihnverteidigt und das Hotel gemeint haben. Aber vielleicht können wirdas besser einschätzen, wenn du herausgefunden hast, worum es sich bei dem kleinen Geheimnis handelt, von dem in dem Brief die Rede ist. Wenn es sich als schwerwiegend und für eine Erpressung geeignet herausstellt, müsste auch Krebsfänger einsehen, dass Hansen lügt.«

»Also gut.« Marie stand auf. »Ich mache mich jetzt auf den Weg. Vielleicht treffe ich die Sekretärin in der Schule noch an.«

Felix Dorn war zwischen beruflichem Ehrgeiz und der Verpflichtung, auf Marie Rücksicht zu nehmen, hin- und hergerissen. Sie hatte sich sichtlich Mühe gegeben, auf seine Informationen über die Kopie des Erpresserbriefes gelassen und unverfänglich zu reagieren. Aber ihm war nicht verborgen geblieben, dass sie innerlich elektrisiert gewesen war. Und er hatte bei dieser Gelegenheit erfahren, dass die Kriminalisten bei Hansen gerne eine Durchsuchung vorgenommen hätten, Staatsanwalt Krebsfänger aber offenbar keine ausreichenden Verdachtsmomente sah. KeinWunder, dachte Dorn, schließlich kann er kein Interesse daranhaben, die Familie seiner Frau in Schwierigkeiten zu bringen.

Vielleicht musste man einen anderen Weg gehen. Hansen aus derReserve locken. Marie und ihr Kollege hatten dazu wenig Möglichkeiten. Aber er konnte den Versuch wagen. Wenn es schiefging,würde er von Hajo Sommer gehörig eins auf die Mütze bekommen. Andererseits würden der Redaktionsleiter und die gesamteKollegenschaft ihm auf die Schulter klopfen, wenn es ihm gelänge,den Hotelier vorzuführen.

Hansen gehörte zu den in seinen Augen unangenehmen Politikern, die sich angesichts ihres Einflusses und ihres Wohlstandes für Menschen von besonderem Wert hielten. Er hatte sich rück­sichts­los in der Partei nach oben geboxt und sich dazu das Vermögen seiner Frau und das Erbe seines Vaters, der einen gewinnbringenden Getränkegroßhandel besessen hatte, zunutze gemacht. Hatte zahllose bedeutende und weniger bedeutende Ämter inne, saß in den Vorständen aller wichtigen Vereine und tanzte auf jeder großen Hochzeit. Die Cuxhavener bewunderten ihn wegen seines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolges. Oder sie hassten ihn. Je nach politischer Haltung. Und nicht wenige beneideten ihn. Um seine hübsche Frau, seine Macht, sein Geld.

Journalisten gegenüber zeigte sich Hansen gern gönnerhaft. Er behandelte sie stets freundlich, verteilte aber Informationen sehr gezielt. Nur wer durch wohlwollende oder zumindest unkritische Artikel über seine geschäftlichen und politischen Aktivitäten sein Vertrauen gewonnen hatte, bekam Zugang zu internen Details und erfuhr seine private Handynummer. Vor allem, wenn es sich um junge und hübsche Reporterinnen handelte. Seiner KolleginAnne Tiedjen von der Nordsee-Zeitung war diese Gunst zuteilgeworden, wahrscheinlich hatte Hansen ihre journalistischen Qualitäten verkannt. Und Felix Dorn war es gelungen, Anne die Telefonnummer zu entlocken. Schon zweimal hatte er begonnen,sie einzutippen – und wieder abgebrochen. Aber schließlich hatteer sich entschieden. Er schaltete sein Telefon auf Rufnummerunterdrückung, gab die Ziffern vollständig ein und lauschte gespannt in den Hörer.

Christopher Hansen meldete sich nach dem zweiten Klingeln. »Ja?«

Felix stellte sich vor und kam gleich zur Sache. »Uns liegt ein an Sie gerichtetes Schreiben vor, in dem von einem Geheimnis aus dem Jahr 1987 die Rede ist. Ein gewisser A. C. nimmt darauf Bezug und fordert von Ihnen Unterstützung bei einem bestimmten Projekt. Worum geht es dabei, Herr Hansen?«

»Woher haben Sie das?«, bellte es aus dem Telefon.

»Sie wissen doch, dass wir unsere Quellen nicht preisgeben.« Der Redakteur bemühte sich um eine neutrale Tonlage. »Aber Sie dürften den Schreiber des Briefes kennen. Immerhin duzt er Sie.«

»Das Pamphlet kann jeder geschrieben haben. Und es ist mir nie zugesandt worden. Ich werde mich dazu nicht äußern.«

Dorn spürte die Wut seines Gesprächspartners und legte möglichst viel Charme in seine Stimme. »Das könnte ein ungünstiges Licht auf Sie werfen, Herr Hansen. Denn es erscheint wenig glaubhaft, dass ein an Sie gerichteter Brief nicht angekommen sein soll. Und unsere Leser werden sich fragen, ob Sie etwas zu verbergen haben.«

»Wenn Sie davon Gebrauch machen, verklage ich Sie. Die Zeitung und auch Sie persönlich.«

»Mit ungewissem Ausgang, Herr Hansen. Sicher wäre Ihnen nur die öffentliche Aufmerksamkeit. Ist es da nicht besser, der Öffentlichkeit eine plausible Erklärung zu liefern? Was vor zwanzig Jahren war, fällt ja vielleicht noch unter Jugendsünde. Und jedem steht es frei, einen Vertreter des Stadtrats um Hilfe zu bitten. Es könnte also sein, dass der Inhalt des Briefes gar keine Brisanz hat. Wo also ist das Problem?«

Für einen Augenblick herrschte Stille am Telefon. »Geben Sie mir Ihre Telefonnummer«, knurrte Hansen schließlich. »Ich rufe Sie zurück.«

Der Geruch auf den Fluren des Schulgebäudes erinnerte Marie an die eigene Schulzeit. Es roch nach Staub und Schweiß, vertrock­neten Äpfeln und Pausenbroten. Und nach Bohnerwachs. Dabei hätte sie nicht sagen können, welcher der Schulen, die sie besucht hatte, sie die Duftmischung zuordnen sollte. Roch es in allen Schulen gleich?

Sie fand das Sekretariat und wurde von einer grauhaarigen Damefreundlich begrüßt. »Unser Chef hatte ja erst Bedenken«, sagte sie, nachdem sie Marie zu einem Besucherstuhl geführt hatte. »Aber der Polizei müssen wir ja helfen. Es handelt sich doch hoffentlich nicht um etwas Schlimmes?«

»Nichts, was auf die Schule zurückfallen könnte«, versicherte Marie. »Ich bin nur auf der Suche nach Informationen über einpaar ehemalige Schüler des Abiturjahrgangs 1987. Sie haben jasicher von den beiden Todesfällen gelesen oder gehört. Die Männer, die man im Watt gefunden hat.«

»Ist das nicht furchtbar?« Die Schulsekretärin schüttelte den Kopf. »Was ist das für eine Welt! Letztes Jahr der Doppelmord in Sahlenburg. Und jetzt das! Schrecklich!«

»Das ist es«, bestätigte Marie. »Die Männer sind hier bis zum Abitur zur Schule gegangen. Sie haben aber keine Angehörigen mehr in Cuxhaven. Darum würden wir gern ehemalige Mitschüler befragen. Um etwas mehr über sie zu erfahren.«

Marie wusste, dass ihre Begründung einer kritischen Prüfung nicht standhalten konnte. Aber ihre Vermutung wurde bestätigt. Die Sekretärinwolltebehilflich sein.

Eine Stunde später verließ Marie Janssen das Gymnasium mit einer Liste, auf der sich alle Namen des Abiturjahrgangs 1987 befanden. Wie erwartet, waren dort neben Alexander Cohrs und Oliver Rien auch Susanne Börnsen und Christopher Hansen verzeichnet. Zusätzlich hatte die Schulsekretärin ihr den Namen des Lehrers genannt, der die Schüler im letzten Jahr als Tutor betreuthatte. Hans-Günter Sievern. Er war bereits pensioniert und wohntein Altenwalde. Ihn anzusprechen, erschien Marie aussichtsreicher,als ehemalige Mitschüler ausfindig zu machen. Nach denen konnte sie später noch suchen. Mit dem Lehrer vereinbarte sie einen Termin für den nächsten Morgen.

Hansens Rückruf erfolgte eine knappe Stunde später. »Nennen Sie mir Ihre Faxnummer! Sie bekommen eine Erklärung von mir.« Kurz darauf hielt Felix Dorn den Text einer Presseerklärung in der Hand.

Den Cuxhavener Nachrichten wurde ein Brief zugespielt, der an den Hotelier und Ratsherrn Christopher Hansen adressiert ist. Darin erinnert ein ehemaliger Mitschüler an einen Vorfall aus dem Jahr 1987 und knüpft daran den Wunsch nach Unterstützung bei einem Investitionsvorhaben in Cuxhaven. Worum es dabei konkret gehen sollte, ist Herrn Hansen nicht bekannt. Die Anspielung auf ein »Geheimnis« aus dem Jahr 1987 zielt wohl auf eine private Segelregatta mit geliehenen Booten, an der eine Gruppe von Schülern kurz vor dem Abitur beteiligt war. Dabei war eines der Segelboote gesunken. Niemand ist verletzt worden. Den materiellen Schaden haben die Eltern der Beteiligten ersetzt.

Bravo, dachte Dorn. Gegen diese nette kleine Story dürfte Hajo Sommer nichts einzuwenden haben. Ob Hansens Version zutrafoder nicht, war eine andere Frage. Aber das war nicht sein Problem.Marie würde es herausfinden. Wenn die Geschichte stimmte, war die Sache mit der versuchten Erpressung erledigt. Wenn nicht, hatte Hansen sich selbst ans Messer geliefert.

Er zog die Tastatur heran und begann zu tippen.