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»An den Jahrgang kann ich mich noch gut erinnern.« Der pensionierte Lehrer hatte kurz die Augen geschlossen, nachdem Mariesich ausgewiesen und ihr Anliegen vorgetragen hatte. Nun wirkteer wieder hellwach und sah sie aufmerksam an. Zahlreiche Lachfältchen um die Augen gaben dem gebräunten Gesicht einen freundlichen Ausdruck.

Sie saßen auf der Terrasse des Einfamilienhauses in Altenwalde.Frau Sievern hatte der Besucherin Kaffee serviert und sie aufgefordert, sich zu bedienen. Auf dem Tisch standen frische Brötchen, Honig und Marmelade, alles aus eigener Produktion, wie sie versichert hatte, dazu Wurst, Käse und Eier.

Die herzliche Selbstverständlichkeit, mit der das Ehepaar sie zum Frühstück eingeladen hatte, ließ es unmöglich erscheinen, das Angebot abzulehnen. Außerdem verspürte Marie einen kräftigen Appetit und griff gerne zu.

Die Übernachtung auf einer Liege in ihrem früheren Zimmer in Otterndorf, das inzwischen von ihrem Vater belegt und mit Büchern und Büroutensilien vollgestopft war, hatte ihr nur wenig Schlaf beschert. Dafür hatte sie dann am Morgen den Wecker überhört, und ihre Mutter hatte es nicht übers Herz gebracht, sie zu wecken. In aller Eile hatte sie eine Tasse Kaffee hinuntergeschüttet, im Kommissariat angerufen und den Mini Cooper gestar­tet. Ihr Vater war mit der Zeitung hinter ihr hergerannt und hattedie Lokalseite der CuxhavenerNachrichten auf die Windschutzscheibe des Wagens geknallt. Sie hatte den Motor ausgestellt, war wieder ausgestiegen und hatte den Artikel überflogen.Keine Erpressung. Ratsherr erklärt dubioses Schreiben. Von Felix Dorn.

Offenbar hatte Christopher Hansen nun doch eine Erklärungfür das mysteriöse Schreiben geliefert. Die Geschichte mit derSegelregatta erschien ihr aber nicht geheuer. Vielleicht konnte der ehemalige Lehrer etwas dazu sagen.

»Das war eine unruhige Truppe. Besonders diese Clique um den Hansen und seine Freunde Cohrs und Rien. Es ist zwar maka­ber, aber es wundert mich nicht, dass ihre Namen im Zusam­menhang mit dubiosen Vorfällen genannt werden.« Er deutete auf die Zeitung, die neben ihm auf einem Beistelltisch lag.

»Sie haben den Artikel schon gelesen? Und Sie kennen die Namennoch?«, staunte Marie.

Sievern nickte. »Es gibt Namen, die man nicht vergisst. Und an die Geschichte erinnere ich mich sehr gut.«

»Sie ist also wahr?« Marie hörte ihrer eigenen Stimme die Enttäuschung an.

Er lachte. »Wie man’s nimmt.Private Regatta mit geliehenen Bootenist jedenfalls eine freundliche Umschreibung. Die Burschen haben die Segelyachten geklaut. Dass sie nur eine kleine Regatta fahren wollten, haben sie hinterher behauptet. Ich glaube, sie hatten einen Ausflug nach Sylt geplant. Verwöhnte Kinder von reichen Eltern, denen es darum ging, mal auf den Putz zu hauen und ihre Mädels zu beeindrucken. Zum Glück ist nur Sachschaden entstanden. Und der wurde ganz schnell unter der Hand geregelt.«

»Dann ist also nichts wirklich Dramatisches passiert«, stellte Marie fest.

»Nein. Die misslungene Segeltour war Gesprächsstoff für ein paar Tage, aber schnell wieder vergessen. Mich wundert allerdings, dass jetzt wieder davon die Rede ist.« Mit einer auffordernden Geste deutete Hans-Günter Sievern auf den gedeckten Tisch. »Bitte bedienen Sie sich, Frau Janssen.«

Er nahm ein Brötchen, teilte es und träufelte sorgfältig Honig darauf.

»War da nicht noch diese andere Geschichte?«, warf die Frau des Lehrers ein, während sie ihrem Mann und Marie Kaffee nachschenkte.

Er zog die Augenbrauen zusammen. »Welche Geschichte meinst du?«

»Die Sache in Bederkesa.«

»Ach das.« Sievern winkte ab und wandte sich an Marie. »Das war nach der Schulzeit. Und es war nicht mehr als ein Gerücht. Dafür habe ich mich nie interessiert.«

»Aber ich.« Frau Sievern stellte die Kaffeekanne ab. »Die jungen Leute haben in Bederkesa ihr Abitur gefeiert. Während der Feier muss etwas vorgefallen sein, was sie um jeden Preis geheim halten wollten. Deswegen sind ja die Gerüchte entstanden.«

Marie trank einen Schluck Kaffee. »Und was waren das für Gerüchte?«

Die Frau des Lehrers beugte sich vor und senkte die Stimme. »Drei junge Männer sollen sich an einer Mitschülerin ... Sie wissen schon.«

»Eine Vergewaltigung?«

Sie hob die Hände. »Ob es wirklich dazu gekommen ist, weiß niemand außer den Beteiligten. Es gibt keine Zeugen. Nur Erzählungen aus zweiter Hand.«

Fragend sah Marie die Frau an. »Woher haben Sie die ... das Gerücht?«

»Das Mädchen, um das es ging, hat sich einer Freundin anvertraut. Sie ist die Tochter einer Bekannten. Die beiden jungen Frauensind kurz danach weggezogen und haben den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen. Es scheint, die beiden hingen sehr aneinander, wenn Sie wissen, was ich meine. Das hat meiner Bekannten nicht gefallen.«

»Und von dem vermeintlichen Opfer hat man nie wieder etwas gehört?«

»Doch. Aber in einem sehr tragischen Zusammenhang. Ein grausames Schicksal hat sie zwei oder drei Jahre später noch einmal nach Cuxhaven geführt. Und dabei ist sie auf schreckliche Weise ums Leben gekommen.«

»Auf schreckliche Weise?«

»Ja«, nickte Frau Sievern. »Sie ist einem Frauenmörder in die Hände gefallen.«

Marie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. »Können Sie sich an den Namen der jungen Frau erinnern?«

»Die Tochter meiner Bekannten hieß Anja. Aber wie deren Freundin hieß ... weiß ich leider nicht mehr.«

»Den Namen kann ich Ihnen sagen«, mischte sich Günter Sievernein. »Sie gehörte nämlich zu meiner Tutorengruppe, in der auch Hansen und seine Freunde waren. Katrin Peters. Ein engagiertes Mädchen. Hat den jungen Machos häufig Kontra gegeben. Ich erinnere mich an eine Diskussion über den mysteriösen Tod des Ministerpräsidenten Uwe Barschel. Bei der Frage ...«

Die Worte des Lehrers drangen wie aus weiter Ferne an Maries Ohren. Katrin Peters. Der Name hatte eine unangenehme Erinnerung ausgelöst. Sie kannte ihn. Aus Ermittlungsakten. Und aus einem Mordprozess. Gegen Jens-Ole Kienast.

»Ich muss mich leider verabschieden«, hörte Marie sich sagen. In ihrem Kopf kreis­ten Namen und Daten. Und ein Verdacht. Sie musste in Ruhe nachdenken. Und dringend mit Konrad Röverkamp sprechen.

Ihr plötzlicher Aufbruch sorgte für enttäuschte Gesichter bei ihren Gastgebern. Sie bedankte sich für den freundlichen Empfang, das unverhoffte Frühstück und die wertvollen Informationen. Und sie versprach, bei Gelegenheit mal wieder vorbeizuschauen.

Als Marie Janssen ins Büro des Fachkommissariats stürmte, saßen sich dort Hauptkommissar Röverkamp und Kriminaloberrat Christiansen an den Schreibtischen gegenüber. Zwischen ihnen lag die aufgeschlagene Zeitung mit dem Artikel von Felix.

»Das ändert die Sachlage total, oder?« In freudiger Erwartung ei­nes zustimmenden Echos flog Maries Blick von einem zum andern.

»Guten Morgen, Frau Janssen.« Christiansen schüttelte lächelnd den Kopf.

»Moin, moin, Marie.« Auch Röverkamp lächelte. »Wir haben das gerade besprochen. Hansen hat uns zwar belogen, aber das ist nicht strafbar. Und ein Mordmotiv lässt sich daraus erst recht nicht konstruieren.«

»Daraus nicht«, ereiferte sich Marie. »Aber ich habe herausgefunden, worin das berühmte Geheimnis wirklich besteht. Es war nicht diese Segeltour. Alexander Cohrs hat auf etwas völlig anderes angespielt.« Triumphierend strahlte Marie die älteren Kollegen an. »Und das ist noch nicht alles. Ich bin jetzt fast sicher, dass einer der Morde, die Kienast angelastet worden sind, nicht von ihm begangen wurde.«

Die Männer sahen sich an. Konrad Röverkamp deutete auf den Besucherstuhl. »Da bin ich aber mal gespannt, was du zu berichten hast.«

Marie musste sich zwingen, in Ruhe und der Reihe nach die Fakten und Erkenntnisse vorzutragen, die sie aus dem Gespräch mit dem ehemaligen Lehrer und dessen Frau gewonnen hatte. »Hansen will uns an der Nase herumführen«, schloss sie ihren Bericht. »Aber wenn wir den Brief bei ihm finden und ihm die Beteiligung an der Vergewaltigung nachweisen können, dann hat er auch ein Mordmotiv: Er wollte die Mitwisser und Erpresser zum Schweigen bringen. Deshalb muss Staatsanwalt Krebsfänger einsehen ...«

»Das dürfte schwierig werden«, stellte der Kriminaloberrat fest. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, waren drei Männer an der Sache beteiligt. Zwei davon sind tot. Das Opfer ebenfalls. Wie wollen Sie ...?«

»Die Freundin!«, rief Marie und zog die Liste der ehemaligen Schüler aus der Tasche. »Eine gewisse Anja Bremer. Sie gehörte auch zu der Clique. Ihr Name steht auf dieser Liste. Wir machen sie ausfindig. Wenn sie bestätigt ...«

Erneut wechselten Christiansen und Röverkamp Blicke.

»Ein bisschen vielwenn«, murmelte der Hauptkommissar.»Aber ich muss meiner Kollegin Recht geben. So wie sie es geradedargestellt hat, könnte es gewesen sein. Auch wenn es schwerfällt, sich Hansen als Mörder vorzustellen. Ich denke auch, dass wir angesichts der neuen Erkenntnisse mit dem Staatsanwalt sprechen sollten.«

Kriminaloberrat Christiansen erhob sich. »Ich rufe ihn an. Die Entwicklung wird ihm nicht gefallen. Aber vielleicht lässt er sich mit dem Argument überzeugen, dass sorgfältige Ermittlungen und Verhöre ja auch die Unschuld von Hansen schlussendlich beweisen könnten.«

Nachdem sich der Kriminaloberrat verabschiedet hatte, ließsich Marie auf ihrem Bürostuhl nieder. »Gibt es schon etwas Neuesvon der Fahndung nach Kienast?«

Röverkamp schüttelte den Kopf. »Nicht die geringste Spur.«

Enttäuscht knüllte Sandra die Zeitung zusammen. Der Artikel war eine einzige Lüge. Offenbar hatte sie die Verhältnisse in derStadt falsch eingeschätzt. Wahrscheinlich steckten Leute wieHansen mit dem Zeitungsverleger unter einer Decke. Genauso wenig wie die Polizei wagte sich ein kleiner Redakteur an einen angesehenen Ratsherrn. Was Hansen erzählte, hielten anscheinend alle für die Wahrheit.

Doch sie wusste, was wirklich geschehen war. Sie hielt die Wahrheit in ihren Händen. Das Tagebuch ihrer Mutter. Sie hattees so oft gelesen, dass der Lebensabschnitt in den Jahren vor ihremTod in Sandras Kopf lebendig wie ein Film ablief. Dabei hatte sie sich so in die Ereignisse hineingedacht, dass ihr war, als hätte sie alles selbst erlebt.

Katrin hatte es zu Hause nicht mehr ausgehalten und Cuxhaven fluchtartig verlassen. Sie war bei ihrer Freundin untergekommen, die ein kleines Apartment in Bremen bezogen hatte. Aber es war Katrin nicht gelungen, ihren desolaten Seelenzustand vor der Freundin zu verbergen.

»Sag mir, was mit dir los ist. Ich sehe doch, dass etwas nichtstimmt. Du bist nicht mehr die Katrin, die ich kenne«, drängteAnja.

Nach langem Zögern berichtete sie ihr, was während der Abi­turfeier geschehen war.

»Du musst Strafanzeige erstatten!«, rief sie voller Empörung. »Dieses Schwein darf nicht ungeschoren davonkommen.«

»Glaubst du, ich hätte nicht daran gedacht?« Katrin schüttelteden Kopf. »Aber ich hätte keine Chance. Meine Aussage gegen eine verschworene Gemeinschaft von drei Männern.«

»Drei?« Fassungslos schlug Anja die Hand vor den Mund.

»Der, der’s getan hat, und zwei, die dabei zugesehen und nichts unternommen haben. Wenn die ihren Kumpan belasten, sind sie doch selber dran. Außerdem halten die Kerle sowieso zusammen.«

Nachdenklich betrachtete Anja ihre Freundin. »Wahrscheinlich hast du Recht. Und dann die ganze Prozedur. Mit allen Einzelheiten ... Aber trotzdem musst du versuchen, wieder auf die Füßezu kommen. Du kannst nicht den Rest deines Lebens in der Wohnung sitzen und Trübsal blasen.«

»Ich weiß«, murmelte Katrin. »Aber wie soll ich es anfangen. Was soll ich machen? Wo soll ich hingehen? Du hast deine Arbeit. Ich ...«

»Das lässt sich alles in den Griff kriegen. Zuerst brauchst du einen Job. Ich habe schon eine Idee ...«

Nach ihrer Beichte fiel es Katrin leichter, sich wieder für die Weltaußerhalb der kleinen Wohnung zu interessieren. Anja gelang es sogar, die beängstigend abgemagerte Freundin zu regelmäßigem Essen zu bewegen und ihr einen Aushilfsjob als Serviererin zu vermitteln. Dem Katrin zwar nicht gerade mit Begeisterung, aber mit zunehmender Zufriedenheit nachging.

Ihr Chef fand Gefallen an der jungen Frau. Bald erkannte er das Potential, das sie mitbrachte und das er in einem seiner Gastronomiebetriebe gewinnbringend einsetzen könnte. Denn Katrin war intelligent, geschickt und hübsch. Auch wenn sie letzteres zu verstecken suchte. Er stellte ihr eine deutlich bessere Position nach Ablauf der Probezeit in Aussicht. Doch Katrins beginnende Lebensfreude verlor sich in periodisch auftretenden Depressionen. Und Anja bemerkte die Veränderungen an Katrins Körper. An einem Sonntagmorgen, nach einem wenig leidenschaftlichen Liebesspiel, sprach sie aus, was sie beschäftigte.

»Katrin«, sagte sie und strich der Freundin zärtlich über die Wange, »wenn ich dich beobachte, kann ich nur zu einem Schluss kommen. Wenn mich nicht alles täuscht, bist du schwanger.«

Heftig schüttelte die Freundin den Kopf, doch dann brach sie in Tränen aus.

»Im wievielten Monat?«

Schluchzend stieß Katrin die Zahl hervor. »Im fünften.«

»Dann ist es zu spät. Du wirst also Mutter werden. Das ist unter diesen Umständen nicht schön, aber keine Katastrophe. Wir werden eine Lösung finden. Vorerst machst du deine Arbeit weiter und behältst deinen Zustand für dich. Hunderttausend andere Frauen machen das genauso.«

Aber die Vorstellung, ein unerwünschtes Kind zur Welt brin­gen zu müssen, das die Züge des Erzeugers tragen könnte, lösten immer neue depressive Phasen aus. Fehltage führten zuAuseinan­dersetzungen mit ihrem Chef. Schließlich gestand sieihren Zustand ein.

Der Mann reagierte wütend. »Heute Abend holen Sie sich Ihren letzten Lohn, und dann möchte ich Sie hier nicht mehr sehen. Frauen mit dicken Bäuchen vertreiben die Kundschaft.«

Mit kurzfristigen Gelegenheitsjobs hielt sich Katrin von da an über Wasser. Übelkeit und Depressionen ließen nach. Mit der Geburt rechnete sie im April, und bis dahin wollte sie noch ein paar Mark für die Zeit danach zur Seite legen. Im Februar wurde sie während der Arbeit in einer Wäscherei von Wehen überrascht und in einer dramatischen Rettungsaktion ins Krankenhaus gebracht. Nur knapp überlebten sie und das Kind die Frühgeburt.

Nach der Rückkehr in die Wohnung ihrer Freundin zeigte sich bald, dass ein Zusammenleben mit dem Kind die beiden jungenFrauen überforderte. »Es tut mir wirklich leid, Katrin«, sagteAnja, »aber so geht es nicht weiter. Ich kann nicht mehr. Es ist einfach zu eng.«

»Ich weiß«, nickte die junge Mutter. »Ich suche ja schon nach einer Wohnung. War bisher alles zu teuer. Aber ich ziehe bald aus. Ich versprech’s dir.« Schließlich fand sie eine eigene Bleibe und kam in einem möblierten Zimmer in der Nachbarschaft unter. So blieb sie in Anjas Nähe, ohne die Freundin einzuengen.

Die Sorge um ihre Tochter Sandra wurde zu Katrins Lebens­inhalt. Alle Erwartungen an das Leben, alle Hoffnungen auf eine bessere Zukunft bezog sie nun auf ihr Kind. Obwohl sie nur eine geringe Miete zahlte, gingen ihre Ersparnisse bald zur Neige. Das Sozialamt verwies sie an ihre Eltern, aber die mochte Katrin keinesfalls um Hilfe bitten. Überhaupt hatte sie die Vergangenheit aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Nichts sollte sie an die Heimatstadt und jene Nacht am See erinnern.

Die Wirtin erließ ihr vorerst die Miete, drängte sie aber, etwas zu unternehmen, wenn sie nicht mit ihrem Kind unter einer Brü­cke enden wollte. Albträume peinigten sie immer häufiger und irgendwann stand ihr Entschluss fest. Sie würde das Leben nicht mehr nur ertragen, sondern gestalten. Sie würde die Zukunft ihres Kindes nicht dem Zufall überlassen.

Ihr erster Weg führte sie zu ihrem ehemaligen Chef. Der mus­terte sie gründlich, griente breit und bot ihr schließlich, wie er sagte, eine höherwertige Tätigkeit an.

»Höherwertig?« Katrin war verblüfft. Sie hatte zwar gehofft, aber nicht erwartet, wieder eingestellt zu werden.

»Tausend Mark Fixum und noch mal die gleiche Summe Provision.«

»So viel?« Katrin glaubte nicht richtig zu hören. Zuvor hatte sie dreihundert Mark fürs Servieren bekommen. Plus Trinkgelder. Aber zweitausend? Jeden Monat?

»Mindestens.« Der Mann nickte ernst. »Allerdings ...« Erneut musterte er Katrin ausführlich.

»Allerdings?«

»Sie müssten bereit sein, sich ein wenig herzurichten. Aber das dürfte nicht schwer sein. Sie sind eine schöne Frau. Mit etwas Farbe und entsprechender Kleidung ... Kleidergeld gibt’s übrigens extra.«

»Und das ist alles?«

»Fast. Der Rest geht von alleine. Bestimmte Gäste haben bestimmte Wünsche. Und wenn Sie die erfüllen ... Sie müssten aber entgegenkommend ...«

Die letzten Worte hörte Katrin nicht mehr. Sie hatte verstanden. Und empört den Raum verlassen.

Es war die Zimmerwirtin, die Katrin zu einer Entscheidungbrachte. »Das ist ein Job wie jeder andere«, kommentiert sie KatrinsBericht und lächelte. »Ich weiß, wovon ich spreche, ich war über dreißig Jahre im Gewerbe.«

»Sie?«

»Ja, mein Kind. Und darum weiß ich alles darüber. Wenn du es geschickt anstellst, verdienst du dir und deinem Kind ein Vermögen. Und verlierst deine Selbstachtung trotzdem nicht.«

Katrin lernte, ihre Verachtung für Männer in bezahlte Liebesdienste umzumünzen. Nach wenigen Monaten bezog sie mitihrer Tochter eine richtige Wohnung, doch der prophezeite Wohlstand ließ auf sich warten. Kurz vor Sandras zweitem Geburtstag gab Katrin dem Drängen ihrer Freundin Anja nach und fuhr nach Cuxhaven.

Sandra legte das Tagebuch zur Seite und zog ein anderes Dokument aus der Mappe. Eine vergilbte Schülerzeitung aus dem Jahr 1987. Zwischen den üblichen Pennälerscherzen hatte sie ein Gruppenfoto entdeckt.

Ihre Mutter war gut zu erkennen. Auch die anderen Gesichter. Drei hatte ihre Mutter mit einem roten Filzstift umrandet und mit Namen versehen. Sandra hielt einen Hinweis auf die Identität der Verbrecher in ihren Händen! Drei Gesichter und drei Namen, die sich in ihr Gehirn gebrannt hatten. Sie hatte sie aufgespürt, zwei waren bereits bestraft. Nun war der Dritte an der Reihe. Den Gedanken, dass es ihr Erzeuger war, schob sie wieder einmal rasch beiseite. Das Wort Vater kam ihr nicht in den Sinn. Sie empfand nur Abscheu und Ekel.

So leicht und rasch sie den ersten Teil ihres Plans hatte verwirklichen können, so schwierig gestaltete sich der zweite Teil. Wenn Hansen mit seiner Lügengeschichte durchkam, gab es kein Motiv für die Morde an Cohrs und Rien. Wenn die Polizei kein Motiv erkannte, würde sie keine Hausdurchsuchung vornehmen. Die belastenden Dokumente würden in Hansens Schreibtisch vergilben. Bis er selbst sie fand und vernichtete.

Sollte sie doch den anderen, den tödlichen Weg auch mit ihm gehen?

Seufzend packte sie die Unterlagen ihrer Mutter wieder ein, warfsich aufs Bett und begann sich auszumalen, wie sie Christopher Hansen dazu bringen würde, sich mit ihr an einem geeigneten Ort zu treffen. Gab es einen solchen Ort? In der Stadt oder in einem der Kurgebiete würde er sich sicher nicht auf eine Verabredung einlassen. Sein Gesicht war allzu bekannt. Mit einem jungen Mädchen gesehen zu werden, könnte unabsehbare Folgen für seine politische und gesellschaftliche Reputation nach sich ziehen.

Wo also konnte sie Christopher Hansen gefahrlos töten?