»Was beschäftigt dich, Konrad?« Sabine Cordes war hinter Röverkamp getreten und fuhr mit der Hand durch sein Haar. »Du hast gestern Abend schon einen ganz angespannten Eindruck gemacht. Und heute Morgen siehst du nicht besonders fröhlich aus. Hast du schlecht geschlafen?«
»Nicht besonders«, gab Röverkamp zu. Offenbar hatte Sabine bemerkt, dass er gar nicht las. Er hatte die Zeitung aufgeschlagen, war bei einem Artikel über die drohende Auflösung des Cuxhavener Wasserschutzpolizeireviers hängengeblieben und hattesich gefragt, wie die polizeilichen Aufgaben auf der Elbe, im Hafen und vor Cuxhaven wahrgenommen werden sollten, wenn dieseSparmaßnahme durchgesetzt wurde. Aus seiner Erinnerung warenFälle aufgetaucht, die nur mit den Kollegen der WSP hatten gelöstwerden können. Überall wurde gestrichen und gespart, damit Berliner Politiker Steuergeschenke verteilen konnten. Auch bei der Polizeiinspektion Cuxhaven-Wesermarsch musste immer mehr Zeit für spitzfindiges Rechnen aufgewandt werden. Zeit, die bei Ermittlungen fehlte oder sich in unbezahlten Überstunden niederschlug.
Sabines Hände glitten an seinem Hals hinab und legten sich auf seine Schultern, wo ihre Finger begannen, seine Nackenmuskulatur zu bearbeiten. »Du bist total verspannt. Kommt ihr mit eurem Fall nicht weiter?«
Konrad Röverkamp schloss die Augen undgab sich den fachkundigen Händen hin. »Heute steht einiges auf dem Spiel«, murmelte er. »Wir haben einen Verdächtigen im Fall der beiden Toten aus dem Watt. Der muss nachher dem Haftrichter vorgeführtwerden, oder wir müssen ihn bis Mitternacht wieder laufen lassen.«
»Und worin besteht das Problem?«
»Wir haben keine Beweise für die Täterschaft. Nur Indizien. Einen richterlichen Haftbefehl bekommen wir wahrscheinlich nur, wenn wir einen bestimmten Nachweis führen können. Und den werden wir wohl nicht rechtzeitig bekommen.«
»Worum geht es dabei?« Sabines Daumen massierten die schmerzenden Muskeln im Nackenbereich. »Oder darfst du darüber nicht sprechen?«
»Eines der Opfer wurde mit sogenannten K.-o.-Tropfen betäubt. Das stand auch im Pressebericht. Nun haben wir ein Fläschchen gefunden, dessen Inhalt ich für Flunitrazepam halte. Meine Meinung zählt aber nicht. Wir brauchen die Analyse des Kriminaltechnischen Instituts beim Landeskriminalamt. Seit wir alles nach Hannover schicken müssen, dauert es oft mehrere Tage, bis wir das Untersuchungsergebnis bekommen. Selbst wenn ich das Zeug selbst ins KTI-Labor bringen würde, käme der Befund nicht mehr rechtzeitig zurück.«
Sabine verstärkte den Druck auf die Muskelansätze über Röverkamps Schultern.
»Flunitrazepam ist ein Benzodiazepin. Das kann doch jedes bessere Labor analysieren. Zum Beispiel in Bremerhaven. Eine knappe Stunde von hier. Da gibt es einen Facharzt für Labormedizin, der manchmal Analysen für uns macht, wenn es schnell gehen soll. Das zentrale Labor für unsere Kliniken liegt nämlich noch weiter weg als eures in Hannover.«
Röverkamp schnaufte. »Wenn das so einfach wäre. Wir dürfenkein privates Labor beauftragen. Schon gar nicht, wenn es in einem anderen Bundesland liegt. Und wenn wir es täten – wer sollte die Rechnung bezahlen? Das sind unüberwindliche bürokratische Hindernisse. Du machst dir ja keine Vorstellung, wie schwierig es geworden ist, vom normalen Dienstweg abzuweichen.«
»Ich kann es mir vorstellen.« Sie löste ihre Hände von Röverkamps Schultern und verschwand in der Küche. »Der Kaffee ist gleich fertig!«, rief sie.
Röverkamp legte die Zeitung zur Seite und begann ein Frühstücksbrötchen aufzuschneiden. Er liebte das gemeinsame Frühstück, das ihnen an freien Tagen oder – wenn ihre Dienstzeiten es erlaubten – vor der Arbeit eine ruhige und meistens ungestörteStunde bescherte. Sie hatten dieses Ritual im Lauf der letzten Jahre kultiviert und genossen die kleinen Höhepunkte des Zusammenlebens in der gemeinsamen Wohnung.
Die es vielleicht gar nicht gäbe, wenn er Amelie Karstens nicht begegnet wäre. Bei der Kapitänswitwe hatte er ein möbliertes Zimmer gemietet, nachdem er von Stade nach Cuxhaven gekommen war. Die alte Dame hatte ihn in ihr Herz geschlossen, ihm ein zweites Zimmer aufgedrängt und ihn verwöhnt wie einen Sohn. Nach ihrem Tod hatte er zu seiner großen Überraschung die Wohnung am Hamburg-Amerika-Platz geerbt. Eine Weile hatte er gezögert, Sabine davon zu erzählen, weil er sie nicht unter Druck setzen wollte. Dann war der Vorschlag von ihr gekommen.
»Was hältst du davon, wenn wir deine Wohnung völlig neu einrichten?«, hatte sie gefragt.
»Wir? Du meinst ... du willst ... mit mir ...?«
»Es muss doch etwas geschehen, Konrad. Die alten Möbel werdenirgendwann abgeholt. Und renoviert werden muss auch. Und duwirst ja nicht weiter in den zwei Zimmern hausen und die anderen ungenutzt lassen wollen. Ich stelle mir vor, dass wir dir ein Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer nach deinen Bedürfnissen einrichten. Wohnzimmer und Wintergarten, Flur und Küche gestalten wir gemeinsam. Und dann wären da noch zwei Zimmer ...«
»Ja?« Sein Herz hatte geklopft.
»... die man erst mal so lassen könnte, wie sie sind. Oder ...«
»Oder?«
»Oder wir richten sie so ein, dass eine Frau sich darin wohlfühlen könnte.«
Er musste ziemlich verdattert ausgesehen haben, denn Sabine hatte laut gelacht. »Ich dachte«, hatte er gestottert, »du hättest ... du wolltest ... deine Unabhängigkeit ...«
»Natürlich behalte ich meine Wohnung, Konrad. Vorerst. Aber erstens möchte ich dich auch mal besuchen können, ohne auf dem Sofa nächtigen zu müssen, und zweitens kann sich ja meine Sicht der Dinge ändern. Vielleicht will ich eines Tages mit dir zusammenziehen. Kann doch sein, oder?«
Schneller, als er erwartet hatte, war sie nach Cuxhaven gekommen und bei ihm eingezogen. Sabine war die zweite große Liebe seines Lebens. Mit ihr konnte er unbeschwert lachen, reden oder auch einfach nur schweigen.
»Jetzt gefällst du mir schon besser.« Sabine kehrte mit der Kaffeekanne in der Hand an den Frühstückstisch zurück. »Du lächelst ja. Was geht denn nun in deinem Kopf vor? Hast du eine Lösung gefunden?«
Röverkamp schüttelte den Kopf. »Ich habe an das Glück gedacht, das ich mit dir habe.«
Sabine stellte die Kaffeekanne ab, umrundete den Tisch und küsste ihn. »Ich mit dir auch.«
Deutlich besser gelaunt biss Konrad Röverkamp in sein Frühstücksbrötchen, während Sabine ihm Kaffee einschenkte. Er genoss die erste Tasse und nahm die Zeitung wieder auf. »Du musst mal lesen, was die mit der Wasserschutzpolizei vorhaben. Es geht wieder mal um Einsparungen. Unglaublich.«
»Wenn ich dazu Gelegenheit habe ...«
»Entschuldige!« Er nahm den Lokalteil aus der Zeitung und reichte ihn über den Tisch.
»Du hast Recht.« Sabine blätterte die Seite um. »Ohne die hätte dieser Fischfabrikant seine gestohlene Yacht noch lange suchen können.«
»Gestohlene Yacht?« Röverkamp sah auf.
»Ist nur ‘ne kleine Meldung. Gestern ist die vermisste Segelyacht eines gewissen Rainer Behrendsen wieder aufgetaucht. Jemand hatte sie im Cuxhavener Yachthafen geklaut. Jetzt ist sie am Bootsanleger an der Dicken Berta in Altenbruch gefunden worden. – Hier.« Sabine reichte die Seite zurück.
Hastig überflog Röverkamp den Artikel. »Ach du Scheiße!«, entfuhr es ihm. »Das sieht nach Kienast aus. Wir haben geglaubt, dass er sich mit der geklauten Yacht abgesetzt hat. Aber nun scheint es, als wäre er noch in Cuxhaven.« Er sprang auf. »Ich muss sofort los. Das heißt, vorher muss ich noch telefonieren.« Während er schon zum Telefon griff, stürzte er den Rest seines Kaffees hinunter. »Marie Janssen ist in Gefahr«, erklärte er der entgeisterten Sabine. »Ich muss sie warnen.«
In Hansens Wohnung über dem Hotel fand eine Krisensitzung statt. Berend Börnsen war noch in der Nacht aus dem Krankenhaus zurückgekehrt. Er trug einen Kopfverband und eine Halskrause, die rechte Hand war bandagiert. Seine Tochter hatte ihm auf dem Sofa mit einigen Kissen und einer Decke ein halbwegs bequemes Lager bereitet, nachdem er es abgelehnt hatte, sich zu Hause ins Bett zu legen und die Besprechung auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Er hatte nur zwei oder drei Stunden schlafen können. Dennoch – und trotz seiner Verletzungen – warer hoch konzentriert. Seine Stimme klang noch immer wie die eines sprechenden Raben.
Rechtsanwalt Lars Lindhorst hatte die Rechtslage referiert und schloss mit einer Einschätzung. »Wenn die Polizei keine überzeugenden Beweise vorlegt, ist Christopher morgen wieder frei.«
»Und wenn sie doch irgendwelche Beweise haben?« Susanne Hansen zeigte einen zweifelnden Gesichtsausdruck.
Lindhorst zuckte mit den Schultern. »Ich kann mir nicht vorstellen ...« Berend Börnsen hob die gesunde Hand. »Wenn der Richter einen Haftbefehl gegen Christopher erlässt«, krächzte er, »werden wir Konsequenzen ziehen müssen. Denn es würde bedeuten, dass er unter Mordverdacht stünde.«
»Was für Konsequenzen, Vater?« Seine Tochter schüttelte unwillig den Kopf. »Wir können doch gar nichts tun.«
»Wir müssen etwas tun, Kind. Es steht zu viel auf dem Spiel. Die Presse wird sich auf uns stürzen. Allenfalls können wir es zwei oder drei Tage hinausschieben, indem wir unsere Beziehungenzum Zeitungsverlag ausspielen. Aber wenn einer der Redakteure die Geschichte auf die überregionale Schiene schiebt, ist es damit aus. Dann lässt sich auch ein vernünftiger Mann wie Hajo Sommer nicht mehr an die Leine legen.«
»Aber die können doch auch nur schreiben, dass er unter Verdacht steht«, wandte Susanne Hansen ein. »Damit ist nichts bewiesen.«
»Es gilt die Unschuldsvermutung«, ergänzte Lindhorst.
In Susannes Ohren klang die Bemerkung ironisch. Wütend fauchte sie den Anwalt an. »Von dir möchte ich endlich mal einen konstruktiven Vorschlag hören. Juristische Spitzfindigkeiten helfen uns nicht weiter. Wir müssen etwas tun, hat Vater gesagt. Das finde ich auch. Also? Was tun wir?«
Bedauernd hob Lindhorst die Hände. »Was die rechtlichen Aspekte betrifft, kannst du davon ausgehen, dass ich alles unternehmen werde, was möglich ist. Aber ich glaube, dein Vater denkt eher an andere Gesichtspunkte, die im Fall einer Untersuchungshaft zu bedenken wären.«
Susanne Hansen war ein einziges Fragezeichen.
Ihr Vater gab dem Anwalt einen Wink. »Lass uns mal einen Moment allein, Lars.« Lindhorst nickte und verließ den Raum.
Börnsen wandte sich an seine Tochter. »Es geht um das Hotel, mein Kind. Um den Ruf des Hauses in der Stadt und bei den Gästen. Und um den Ruf der Familie. Wenn dein Mann nicht rehabilitiert werden sollte, müssen wir verhindern, dass wir mit in den Abgrund gerissen werden. Das heißt, du müsstest dich von ihm trennen. Und zwar so schnell wie möglich.«
Für einen Moment herrschte Schweigen. In Susanne arbeitetees. Was ihr Vater jetzt von ihr verlangte, hatte sie schon viele Male erwogen. Und wegen der gesellschaftlichen Folgen verworfen. Seit Jahren ertrug sie die sexuellen Eskapaden ihres Mannes. Für sich hatte sie irgendwann eine Lösung gefunden. Derzeit trug sie den Namen Mike.
Der Barkeeper war verschwiegen, ein gelehriger Schüler und mittlerweile ein guter Liebhaber. Den Gedanken an eine Trennung von Christopher hatte sie immer wieder verworfen. Um des Hotels willen. Sein Ansehen in der Stadt, sein politischer Einfluss und seine zahlreichen Verbindungen waren für den erfolgreichen Ausbau des Hauses von großem Nutzen gewesen. Von der Neugestaltung der Straße über die Ausweitung der Bettenkapazitätbis zur Genehmigung für den Bau des Penthauses auf dem historischen Gebäude – stets hatten sich seine Beziehungen für die Entwicklung als hilfreich gezeigt. Wenn er diesen Einfluss nicht mehr hätte, würde Christopher Hansen für das HotelAlte Liebeentbehrlich werden.
»Aber dann hätten wir keinen Geschäftsführer mehr«, entfuhr es ihr.
»Das ist unser geringstes Problem.« Berend Börnsen lächelte. »Der Branche geht es nicht besonders gut. Steuersenkung für Hotels hin oder her. Da werden immer Leute freigesetzt. Manchmal auch gute. Wir werden jemanden finden. In diesem Fall nutzen wir meine Kontakte.«
Susanne Hansen schwieg erneut eine Weile, schließlich nickte sie nachdenklich.
»Du bist also einverstanden«, stellte ihr Vater fest. Trotz seiner lädierten Stimme war seinem Tonfall eine tiefe Befriedigung zu entnehmen. »Dann kannst du Lars jetzt wieder reinholen.«
Zuerst zögernd, doch dann mit plötzlicher Entschlossenheit, ging Susanne zur Tür und öffnete sie.
Der Anwalt sah Berend Börnsen erwartungsvoll an, als er den Raum betrat. Der verzog keine Miene. Statt dessen wandte er sich an seine Tochter. »Du kannst mal in der Bar anrufen. Sie sollen uns einen Champagner bringen.«
Lindhorst lächelte. »Dann darf ich Sie also zu einem bedeutsamen Entschluss beglückwünschen?«
Sandra stellte Gläser bereit und bereitete den Sektkühler vor. Für drei Personen, hatte die Chefin gesagt. Offenbar lag ihr Kollegedoch richtig, der behauptet hatte, der alte Börnsen sei im Haus. Jedenfalls stünde sein Wagen auf dem Parkplatz. Und jemand sei durch den Hintereingang zum Fahrstuhl gegangen. Wollte derAlte mit Tochter und Schwiegersohn anstoßen? Wenn es dafür einen Grund gab, war ihr Plan gründlich misslungen. Angeblich war Börnsen nicht besonders gut auf Hansen zu sprechen. Trotzdem gab es im Penthaus offenbar etwas zu feiern. Das konnte nur bedeuten, dass er nach Hause zurückgekehrt war, weil der Polizei die Beweise nicht ausreichten.
Hansen bevorzugteChampagner Moët & Chandon Brut Impérial. 29 Euro im Einkauf, 198 Euro auf der Karte des Hauses. Missmutig prüfte Sandra die Temperatur, stellte die Flasche in den Kühler und füllte Eis auf. Nun war es ausgerechnet an ihr, zur Feier ihres verunglückten Plans die Getränke zu servieren.
Die Tür zur Wohnung war nur angelehnt. Sandra klopfte trotzdem. »Kommen Sie herein!«, rief Susanne Hansens Stimme. »Wir sind im Wohnzimmer.«
Als sie sich dem Wohnraum näherte, öffnete sich die Tür, und die Chefin winkte sie herein. »Stellen Sie das Tablett dort auf den Tisch.« Sie deutete zu einer Sitzgruppe mit schweren Ledersesseln und passendem Sofa. Die Person, die dort lag und einen weißen Kopfverband und eine Halskrause trug, musste der alte Börnsen sein.
Ein schlanker Mann von etwa sechzig Jahren, gekleidet in einen teuren Nadelstreifenanzug, musterte sie aufmerksam. Christopher Hansen war nicht anwesend. Sandra ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken. Sie stellte das Tablett ab und sah Susanne Hansen fragend an. »Sie dürfen wieder gehen«, beschied ihr die Chefin. »Herr Lindhorst kümmert sich um die Flasche. Vielen Dank.«
»Bitte, gern.« Sandra stellte das Tablett ab und verließ den Raum. Was wurde hier gefeiert? Sie zog die Tür hinter sich zu und verharrte. Ihr Herz schlug heftig, während sie mit leicht geneigtem Kopf horchte, ob drinnen gesprochen wurde. Doch dort blieb es still. Kurz entschlossen durchquerte sie den Flur, öffnete und schloss die Wohnungstür vernehmbar und kehrte auf Zehenspitzen zum Wohnzimmer zurück. Sie hörte, wie die Champagnerflasche entkorkt wurde. Wenig später klirrten Gläser.
Was für eine seltsame Veranstaltung! Es war also nicht Hansens Freilassung, die hier begossen wurde. Offenbar hatte man ihn doch verhaftet. Und in Gewahrsam behalten. Aber das wäre kein Grund zum Feiern. Es passte nicht zusammen. Sandra presste ein Ohr gegen die Tür. Fast wäre sie zurückgezuckt, denn plötzlich hörte sie klar und deutlich eine tiefe Männerstimme.
»Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen, Berend. Es läuft alles weiter wie bisher. Wenn Krebsfänger und seine Beamten keine Beweise vorlegen können, bringe ich Christopher mit. Sollte sich die Geschichte in die andere Richtung bewegen, werde ich selbstverständlich deine beziehungsweise Susannes Interessen vertreten.« Das hörte sich nach einem Rechtsanwalt an.
Börnsen Antwort blieb unverständlich.
»Selbstverständlich«, sagte der andere. »Ich denke, dafür genügt eine Andeutung. Roland Krebsfänger wird sofort verstehen, was wir meinen. Er wird sogar angesichts der ... sagen wir: Strategieänderung ... erleichtert sein.«
»Dann braucht Christopher einen eigenen Anwalt«, stellte Susanne Hansen fest.
»Falls es zu einem Haftbefehl kommen sollte, werde ich einen Kollegen bitten, das Mandat zu übernehmen. Das müsste dann ohnehin ein versierter Strafverteidiger sein.«
Es entstand eine Pause. Nein, jetzt sprach Börnsen. Seine Stimme klang heiser und war kaum vernehmbar. Sandra hörte ihn reden, verstand aber nicht, was er sagte.
»Du hast ein Problem?«, fragte der Mann, den ihre Chefin Lindhorst genannt hatte. Es klang ungläubig. »Wenn ich dir helfen kann ...«
»Hat das mit deinem Segelausflug zu tun?«, unterbrach ihn Susanne Hansen.
Börnsens Antwort blieb unverständlich.
»Dann kann ich mich ja jetzt verabschieden«, hörte sie Lindhorst sagen. Rasch verließ Sandra ihren Posten und duckte sich in eine Ecke hinter der Garderobe. Susanne Hansen begleitete den Mann hinaus. »Danke für alles«, sagte sie und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Sandra wartete einige Sekunden und schlich wieder zur Tür. Erneut hörte sie Börnsen sprechen. Ohne ihn zu verstehen.
Sandra sagte sich, dass sie gehen könne. Jetzt ging es offenbar um ein anderes Thema. Was sie erfahren hatte, erfüllte sie mit klammheimlicher Freude. Ihr Plan schien aufzugehen. Das war der Punkt, auf den es ankam. Alles andere war unwichtig. Oder würde sie hier noch etwas erfahren, das ihr von Nutzen sein konnte?
»Noch immer keine Spur von Kienast?«, fragte Marie, als sie das Büro betrat.
Röverkamp schüttelte bedauernd den Kopf. »Du solltest dir doch heute Vormittag freinehmen.«
»Felix musste überraschend in die Redaktion«, erklärte sie. »Und ich hatte keine Lust, allein zu Hause herumzusitzen. Außerdem möchte ich wissen, was passiert ist. Danke übrigens für deinenAnruf. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Kienast noch einmal riskiert, in meine Nähe zu kommen.«
»Wahrscheinlich hast du Recht«, bestätigte der Hauptkommissar. »Trotzdem müssen wir vorsichtig sein.«
»Weißt du schon, was mit der Yacht ist?«
Röverkamp neigte den Kopf. »Kollegen von der Wasserschutzpolizei haben sie vor Altenbruch gefunden, erst mal beschlagnahmt und uns informiert, denn es gibt Blutspuren und ein Einschussloch mit einem Projektil. Ob das Blut von ihm ist, wissen wir noch nicht. Die Kugel stammt aus einer ungebräuchlichen Waffe, unsere Techniker arbeiten daran. Dem Schiffseigner gehört sie angeblich nicht, er bestreitet, eine Pistole auf seiner Yacht aufbewahrt zu haben.«
»Also müssen wir warten.« Marie verzog das Gesicht und ließ sich auf ihrem Bürostuhl nieder. »Nicht besonders motivierend.«
»Das ist leider wahr«, seufzte Röverkamp. »Mit Hansen kommen wir auch nicht voran. Krebsfänger hat gerade angerufen. Wenn wir ihm keine Beweismittel bringen, beantragt er keinen Haftbefehl. Das heißt, wir müssen die Analyse des Flascheninhalts heute noch vorlegen. Sonst können wir ihn nicht länger festhalten. Aber vor Mitternacht bekommen wir den Inhalt der Flasche, die Hansen bei sich hatte, nicht analysiert. Bis die Spuren an seiner Jacke und seinen Schuhen untersucht worden sind, vergeht ohnehin noch Zeit.«
»Wieso bekommen wir die Analyse nicht?«, fragte Marie verständnislos. »Wir haben die Probe gestern losgeschickt. Normalerweise müsste sie heute Vormittag im KTI Hannover eintreffen. Da können die doch sicher ein paar Stunden später das Ergebnis telefonisch durchgeben. Oder faxen oder mailen.«
»Theoretisch schon«, knurrte Röverkamp. »Aber die sitzen nicht da und warten auf unsere Wünsche. Die haben schon mehr als genug zu tun. Also kommt unsere Probe in die Warteschleife.«
»Dann lassen wir sie eben woanders analysieren. Hier im Krankenhaus zum Beispiel. Die müssten doch auch ein Labor haben. Kannst du nicht mal Sabine bitten ...«
»Wir haben schon darüber gesprochen. Die machen so was auch nicht mehr selbst. Geht alles in ein zentrales Labor. In Ausnahmefällen zu einem Laborarzt nach Bremerhaven. Wir dürfen das nicht.«
Marie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. »Es muss einen Weg geben. Wenn wir zum Beispiel Sabines Krankenhaus um Hilfe bitten. Amtshilfe sozusagen. Und die bringen die Probe zu diesem Laborarzt. Dann sind nicht wir die Auftraggeber, sondern die Klinik. Da werden doch auch Obduktionen für uns gemacht. Und für die Nutzung der Räume und das benötigte Material bekommen wir dann doch eine Rechnung. So eine kleine chemische Untersuchung kann bestimmt irgendwie mit untergebracht werden.«
»Schöne Idee. Vielleicht nicht ganz astrein, aber schön ausgedacht.« Röverkamp breitete die Arme aus. »Leider lässt sie sich nicht verwirklichen. Die Probe ist unterwegs, kommt wahrscheinlich in diesem Augenblick gerade in Hannover an und liegt irgendwo in einem Postverteilungszentrum.«
»Nur die Hälfte«, grinste Marie.
»Wie – nur die Hälfte?« Röverkamp zog irritiert die Augenbrauen zusammen.
»Du hast mir gesagt, ich soll mich darum kümmern, dass die Flasche zum LKA geschickt wird. Aber ich habe mich gefragt, was passiert, wenn sie auf dem Postweg verloren geht. Also habe ich die Kollegen von der KTU gebeten, etwas abzufüllen und den Rest hierzubehalten. Wenn du willst, kümmere ich mich darum, dass die Probe zu diesem Laborarzt nach Bremerhaven kommt.«
Verblüfft sah der Hauptkommissar seine Kollegin an. »Das ist ...«
Marie sprang auf. »... super, toll, cool, voll krass?«
»Was du willst. Jedenfalls fänd’ ich’s großartig«, freute sich Röverkamp, »wenn wir Krebsfänger das Ergebnis doch noch vorlegen könnten. Mach dich auf die Socken und bring uns die Analyse! In der Zwischenzeit fahre ich zum Hafen und sehe mir das Boot an.«
Lange würde er mit dem Wohnmobil nicht unterwegs sein können, ohne dass man nach dem Fahrzeug suchte. Außerdem machte ihm die Wunde am Oberarm zu schaffen, auch wenn es nur eine oberflächliche Verletzung war. Zum Glück hatte er den Verbandskasten sofort gefunden.
Die Yacht würde sicher erst im Laufe des Tages entdeckt werden. Mit etwas Glück auch erst morgen. Trotzdem war seine Zeit bemessen. Wäre der alte Idiot Börnsen nicht mit einer Waffe aufgetaucht, hätte das Geschäft problemlos abgewickelt werden können. Nun wurde alles komplizierter. Er würde sich an die Familie wenden müssen. Das war mit zusätzlichen Risiken behaftet. Und ihm würde keine Zeit bleiben, sich um die Kleine in Groden zu kümmern. Schade eigentlich. Vielleicht ergab sich später eine Gelegenheit.
DerDethleffs Globetrotter, mit dem er unterwegs war, hatte schon einige Jahre auf dem Buckel. Aber das machte ihn unauffällig. Gleichartige und ähnliche Reisemobile waren in dieser Zeit zu Hunderten auf den Straßen im Raum Cuxhaven unterwegs. Oder standen auf Campingplätzen. So wie dieser, den er auf einem kleinen Platz in Altenbruch entdeckt und geknackt hatte. Ein echterGlückstreffer, denn am Garderobenhaken hatte ein Zweitschlüsselfür das Wohnmobil gehangen, so dass er es jetzt benutzen konntewie sein eigenes. DerGlobetrotterwar gut ausgestattet und würdeihm für zwei bis drei Tage und Nächte einen brauchbaren Unterschlupf bieten. Er musste ihn nur gut verstecken. In einem Waldstück vielleicht. Wenn es allerdings mit dem Teufel zuging, entdeckte ihn dort ein Jäger oder Spaziergänger. Oder Radfahrer, die mit ihren Mountainbikes durch die Landschaft rasten und vor keinem noch so unwegsamen Gelände zurückschreckten.
Als vor ihm ein ähnliches Fahrzeug auftauchte und ein weiteres entgegenkam, wurde ihm klar, wo er das sicherste Versteck finden würde. Zwischen möglichst vielen ähnlichen Wohnmobilen. Auf einem Campingplatz. Oder einem öffentlichen Stellplatz.
Kienast wusste plötzlich, welchen Ort er ansteuern würde. Ein idyllisches Plätzchen am Watt, wo es keine Schranke gab, keinen Platzwart und keine Anmeldung. Nur arglose Urlauber.
Und dann wurde es Zeit für einen Anruf.