18

Sandra saß in ihrem Zimmer auf der Bettkante und starrte an die Wand. Was sie an der Tür von Hansens Wohnung gehört hatte, war erfreulich, aber auch verwirrend. Der alte Börnsen und seine Tochter rechneten offenbar damit, dass sich Christopher Hansen einem Mordprozess stellen musste. So weit, so gut. Doch demseltsamen Dialog zwischen Vater und Tochter, von dem nur Susanne Hansens Worte verständlich gewesen waren, hatte sie entnommen, dass die Familie erpresst wurde. Wegen einer Tat, die ein anderer auf sich genommen hatte. Und der nun damit drohte, die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Handelte es sich dabei um den Mord an ihrer Mutter? Bisher hatte sie Hansen zwar die Schuld an ihrem Tod gegeben, ihn abernicht für den Mörder gehalten, denn den hatte die Polizei ja gefasst. Aber wenn Hansen doch der Täter war und nun seiner gerechten Strafe entgegensah und die Familie damit einverstanden schien, womit wollte man sie dann noch erpressen? Ging Börnsen auf die Erpressung ein, weil in Wahrheit nicht Hansen, sondern ein anderes Familienmitglied die Tat begangen hatte? Und das sollte nicht herauskommen? Das hieße den eigenen Schwiegersohn ans Messer zu liefern.

Wollten die beiden Hansen loswerden? Was steckte dahinter?So sehr Sandra die Sache auch drehte und wendete, sie fand keineüberzeugende Erklärung. Was hatte sich im Sommer 1993 amHafen abgespielt? Wodurch war Börnsen erpressbar?

Sandra schloss die Augen. Die Bilder in ihrem Kopf begannenzu schwanken, wurden undeutlich, zerflossen wie im Nebel. Andere Bilder tauchten auf, tanzten schemenhaft einen wirrenReigen, bis sie sich schließlich zu einem neuen Ablauf zusammenfügten.

Wieder sah sie am Alten Fischereihafen die hoch gewachsene junge Frau im wadenlangen, geschlitzten Rock und dem auf Taille geschnittenen Blazer. Ein rotes Seidentuch war locker um den Hals geschlungen. Wie auf dem Foto, das auf Anjas Schreibtisch stand.

Sie wartet, wirkt unruhig, geht mit raschen Schritten auf und ab. Wirft abwechselnd einen Blick auf ihre Armbanduhr und zur gegenüberliegenden Seite des Hafenbeckens. Wahrscheinlich ist sie zu früh.

Er erscheint in Jeans und T-Shirt, winkt kurz, sieht sich nach allenSeiten um und beschleunigt seine Schritte.

Neben einem der dicht an dicht am Nordseekai liegenden Fischkutter stehen sie sich schließlich gegenüber. Sie sprechen miteinander, erstleise, dann wird der Dialog lauter und heftiger. Sie streiten. Im Hintergrund erscheint eine junge Frau. Als sie das Paar auf dem Hafenkai entdeckt, drückt sie sich in eine Nische in der Mauer.

Er deutet auf den Kutter, klettert an Bord. Katrin schüttelt den Kopf. Doch dann folgt sie ihm auf das Schiff. Das ist ihr Fehler. Am Kai hätte sie davonlaufen oder wenigstens um Hilfe schreien können.

Sie verschwinden in der Kajüte. Dumpf klingen die Worte nachdraußen, bleiben aber weitgehend unverständlich. Eine Auseinandersetzung. Soviel ist zu hören. Einzelne Worte. Wegmachen. Kind. Schlampe. Plötzlich herrscht Ruhe.

Er streckt den Kopf aus der Tür, sieht sich um, tritt heraus, steigt auf die Bordwand, springt auf die Hafenmauer.

Rasch drückt sich die Frau am Kai in den Schatten der Fischhalle. Er eilt an ihr vorbei, ohne sie wahrzunehmen. Sie wartet. Schließlich tritt sie hervor, nähert sich dem Schiff, sieht sich um, zögert, klettert über die Bordwand, betritt die Kajüte.

Dort liegt Katrin Peters. Bewusstlos. Aber sie atmet. Neben ihr liegt ein Halstuch.

Die Frau schaut ratlos auf sie herab. Plötzlich beginnt die Bewusstlose zu röcheln. Es klingt entsetzlich, sie will das Geräusch stoppen, nimmt das Halstuch, um es ihr in den Rachen zu stopfen, zuckt vor den roten Lippen des offenen Mundes zurück. Schließlich schlingt sie das Tuch um den Hals der Liegenden, verknotet es so fest, sie kann. Doch es reicht nicht, um die schrecklichen Töne zu abzustellen. Panisch sieht sie sich um, entdeckt einen Schraubenzieher, schiebt ihn unter den Knoten und dreht den Stoff zu einer Schraube. Bis das Röcheln erstirbt.

Entsetzt starrt sie auf den leblosen Körper. Erwacht schließlich aus ihrer Erstarrung, flieht aus der Kajüte, vom Schiff, aus dem Hafen.

Einige Zeit später taucht ein etwa fünfzigjähriger Mann auf. Zielbewusst geht er auf den Fischkutter zu, klettert an Bord, betritt die Kajüte.

Kurz darauf zerrt er einen leblosen Körper aufs Deck, schleppt ihn zur Reling und lässt ihn ins dunkle Wasser des Hafenbeckens gleiten.

So musste es gewesen sein. Die ganze feine Familie war an der Tat beteiligt! Der alte Börnsen hatte dafür gesorgt, dass ein anderer die Verantwortung übernahm. Der präsentierte ihm jetzt offenbar die Rechnung.

Sandras Atem flog, ihr Puls raste, Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn, die sie mit fahriger Bewegung wegwischte.

Susanne Hansen durfte nicht ungeschoren davonkommen. Sandra musste sich etwas einfallen lassen. Etwas, woran Susanne Hansen lebenslänglich leiden würde.

Hauptkommissar Röverkamp erkannte auf dem Display die Nummer des Staatsanwalts. Automatisch sah er zur Uhr. Wenn Marie nicht rechtzeitig kam, würde es schwierig werden. Abends noch einen Staatsanwalt und einen Richter aufzutreiben, war nicht unmöglich, konnte aber schiefgehen. Und ohne richterlichen Haftbefehl würde er Hansen um Mitternacht auf freien Fuß setzen lassen müssen.

Zähneknirschend nahm er den Hörer ab.

»Sie haben nicht mehr viel Zeit«, sagte Krebsfänger ohne Begrü­ßung. »Wie weit sind Sie mit Ihren Beweismitteln im Fall Hansen?«

»Ich rechne jeden Augenblick mit einem Anruf von Frau Janssen«, antwortete Röverkamp. »Sie hat eine Probe aus der Flasche, die wir bei ihm gefunden haben, nach Bremerhaven in ein Labor gebracht. Dort wird der Inhalt untersucht. Sobald das Ergebnis vorliegt, meldet sie sich. Eine Stunde später dürfte sie dann mit den schriftlichen Unterlagen hier sein.«

»Ich bin bis sechzehn Uhr in meinem Büro. Wenn Sie später kommen, müssen Sie sich an die Geschäftsstelle wenden.«

»Wir tun unser Bestes, Herr Krebsfänger.« Röverkamp bemühte sich um einen neutralen Ton. »Sobald ich Nachricht von Frau Janssen habe, melde ich mich.«

»Tun Sie das!« Der Staatsanwalt beendete die Verbindung, ohne sich zu verabschieden.

Verärgert legte der Hauptkommissar ebenfalls den Hörer auf. Zwei Stunden blieben ihnen noch, um wenigstens ein Beweisstück auf den Tisch zu legen. Dass sie in Hansens Keller Schuhe gefunden hatten, mit denen er kürzlich im Watt gewesen war, sagte für sich genommen nichts aus. Die mikrobiologische Untersuchung des Sandes von den Sohlen und der Vergleich mit dem Sand an den Fundstellen der Leichen würde etliche Tage in Anspruch nehmen. Auch die Klärung der Frage, ob die Haare, diesich im Reißverschluss von Hansens Windjacke verklemmt hatten, von einem der Opfer stammten, würde länger dauern. Alles hing jetzt davon ab, ob der Nachweis des Flunitrazepams gelang. Und selbst das musste Krebsfänger nicht überzeugen.

Röverkamp sah erneut auf die Uhr. Eine halbe Stunde würde er noch warten, dann würde er seine Kollegin anrufen.

Marie Janssen hatte mit Sabine Cordes’ Hilfe den Verwaltungsleiter des Krankenhauses davon überzeugt, dass die Probe auf Veranlassung der Klinik in Bremerhaven untersucht werden konnte. Sie hatte sich Felix’ Mini Cooper ausgeliehen, in knapp vierzig Minuten Bremerhaven erreicht, weitere zehn Minutenspäter das Fläschchen bei einer Laborärztin abgegeben, die Sabine seit vielen Jahren kannte und deshalb bereit war, die Untersuchung sofort vorzunehmen.

Nun blätterte Marie im Warteraum der Laborpraxis Zeitschriften durch, ohne den Inhalt wirklich aufzunehmen. Alle paar Minuten wanderte ihr Blick zu einer Uhr, die über der Tür an der Wand hing. Die Zeiger rückten unaufhaltsam vor. Wenn sie nicht rechtzeitig mit dem Untersuchungsergebnis zurückkehrte, würde Hansen freikommen und alle möglicherweise noch existierenden Spuren und Unterlagen vernichten, die ihm gefährlich werden konnten. Eigentlich war es erstaunlich, dass er nicht schon früheralles daran gesetzt hatte, Hinweise auf seine Täterschaft zu beseitigen. Offenbar hatte er sich sehr sicher gefühlt. Außerdem schien erein hervorragender Schauspieler zu sein. Fast konnte man ihm dieÜberraschung glauben, mit der er auf die Entdeckung der zahlreichen Indizien reagiert hatte. Aber Politiker waren immer auch Darsteller. Und in diesem Metier hatte Hansen reichlich Erfahrung.

Das Bild von Susanne Hansen, die sich mit belastenden Unterlagen in der Hand über den Aktenvernichter beugte, erschien vorihrem inneren Auge. Welche Rolle spielte diese Frau? Es war offensichtlich, dass sie belastendes Material beseitigen wollte. Aber siehatte nicht gerade heftig auf die Festnahme ihres Mannes rea­giert. Konnte eine Frau so kühl sein?Für einen Augenblick stellteMarie sich vor, wie sie sich verhalten würde, wenn Felix – aus welchem Grund auch immer – verhaftet würde. Sie sah sich vollerEmpörung dazwischengehen, hörte sich die Kollegen beschimpfen, die ihn abführen wollten, getrieben von ohnmächtiger Wut und Verzweiflung. Dagegen war Hansens Frau erstaunlich gelassen geblieben. Aber vielleicht hatte sie damit gerechnet, dass der Anwalt der Familie ihren Mann umgehend aus dem Polizeigewahrsam zurückholen würde.

Zwischen den Zeitschriften entdeckte sie eine Werbebroschüre der Stadt Bremerhaven. Auf dem Hochglanzprospekt war eine Segelyacht vor derHavenwelten-Kulisse mitKlimahausundAtlantic Hotel Sail Cityabgebildet. Der Skipper war im Schatten des Großsegels nur als dunkle Silhouette zu erkennen.

Sofort stiegen neue Bilder vor ihr auf, fügten sich zu beklemmenden Szenen. Darin spielte Jens-Ole Kienast eine Rolle. Und sie.

Sie schob den inneren Film beiseite und konzentrierte sich auf den aktuellen Sachstand. Kienast hatte eine Segelyacht gestohlen. Doch statt damit nach Dänemark oder Holland zu flüchten, war er nach Cuxhaven zurückgekehrt. Auf dem Boot musste es eine Auseinandersetzung gegeben haben, bei der mindestens ein Schuss gefallen war. Mit wem hatte Kienast sich getroffen?

Um von der Bildfläche verschwinden zu können, brauchte er Geld. Viel Geld. Es musste also in Cuxhaven jemanden geben, der bereit und in der Lage war, Kienast eine große Summe zu zahlen. Konnte Hansen dieser jemand sein? Warum kam ihr ausgerechnet sein Name in den Kopf? Weil sie sich in den letzten Tagen hauptsächlich mit ihm beschäftigt hatte? Ein Signal aus dem Unterbewusstsein vermittelte ihr das Gefühl, zwei lose Enden verknüpfen zu müssen, um die entscheidende Verbindung herzu­stellen. Das Gespräch mit dem pensionierten Lehrer kam ihr in den Sinn. Warum musste sie gerade jetzt daran denken? Vor dreiundzwanzig Jahren hatte es eine Vergewaltigung gegeben. Die Anspielung in Riens Erpresserbrief. Aber darin ging es nicht um ein Tötungsdelikt. Erst drei Jahre später war das Opfer dann ermordet worden, vermeintlich von Kienast. Marie war sicher, dasses dieser Fall war, der ihm zu Unrecht angelastet worden war. Alle anderen Opfer hatte er gekannt, Katrin Peters nicht.

Sie musste unbedingt noch einmal mit Konrad darüber sprechen. Und die Akten durchsehen. Vielleicht fand sie darin die losen Enden. Oder wenigstens eins.

Das Geräusch quietschender Gummisohlen auf glatten Fliesen riss sie aus ihren Gedanken. Auf dem Flur näherten sich Schritte. Im nächsten Augenblick stand eine Frau im weißen Laborkittel in der Tür. »Frau Janssen?«

Marie sprang auf.

»Wir haben die Probe analysiert. Sie können das Ergebnis gleich mitnehmen. Es handelt sich um ein Benzodiazepin namens Flunitrazepam. Auch als K.-o.-Tropfen bekannt.« Die Frau drückte ihr den Rest der Probe und einen Umschlag in die Hand. »Den Ausdruck der Analyse finden Sie da drin.«

»Vielen, vielen Dank!«, strahlte Marie. »Sie haben uns sehr geholfen.«

»Gern geschehen. Aber eine Frage hätte ich noch.«

»Wenn ich sie beantworten kann ...«

Die Laborantin deutete auf die Phiole. »In so reiner, unvergällter Form gibt es das eigentlich nur noch in Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen. Woher stammt dieses Material?«

Bedauernd hob Marie die Schultern. »Das wüssten wir auch gern. Ich hoffe, wir bekommen es noch heraus. Aber danke für den Hinweis. Damit können wir vielleicht den Herkunftsort eingrenzen.«

»Viel Erfolg!« Mit einem Nicken verabschiedete sich die Laborantin.

Marie eilte in Richtung Ausgang und kramte in ihren Taschen nach dem Handy.

»Ich werde Untersuchungshaft beantragen«, murmelte Staatsanwalt Krebsfänger, nachdem er einen kurzen Blick auf den Untersuchungsbericht geworfen hatte. Ohne die Beamten anzusehen, zog er einen offenbar fertig vorbereiteten Haftbefehlsantrag aus seinem Aktenkoffer. »Dabei gehe ich davon aus, dass der DNA-Vergleich der bei Hansen gefundenen Haare mit denen des Opfers Rien positiv ausfällt. Den müssen wir so schnell wie möglich nachreichen. Die mikrobiologische Untersuchung des Sandes an den Schuhen hat dann Zeit.« Er deutete auf einen Computerausdruck aus dem Labor. »Mit dem da und den Unterlagen, die sichbereits in der Akte finden, dürfte der Richter keine Probleme haben, den Haftbefehl zu erlassen.«

Hauptkommissar Röverkamp und Kommissarin Janssen sahen sich an, Verblüffung stand in ihren Gesichtern. Marie wollte etwas erwidern, doch ihr Kollege schüttelte kaum merklich den Kopf.

Erst nachdem der Staatsanwalt das Büro verlassen hatte, fand sie Gelegenheit, ihre Verwunderung auszudrücken. »Ich glaub’ es nicht. Erst strampeln wir uns ab, um Krebsfänger zu überzeugen, und jetzt müssen wir nicht einmal mehr den Ermittlungsstand vortragen. Der hatte den Antrag schon vorbereitet. Verstehst du das, Konrad?«

»Die plötzliche Kehrtwendung ist schon erstaunlich«, bestätigteRöverkamp. »Damit habe ich nicht gerechnet. Ich hätte uns allenfalls eine Chance von fünfzig Prozent gegeben.«

»Ob er sich erst jetzt die Akte richtig angesehen hat?«

Röverkamp schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Aber irgendetwas muss ihn umgestimmt haben. Der hat doch am Anfang geradezu allergisch auf unsere Ermittlungen reagiert. Und jetzt das!«

»Vielleicht hat ihn nicht irgendetwas, sondern irgendjemand seine Meinung ändern lassen.«

Marie stutzte. »Du meinst, die Familie hat Hansen fallen lassen? So schnell?«

Der Hauptkommissar breitete die Arme aus. »Nichts ist unmöglich. Aber vielleicht hat ihn auch das Untersuchungsergebnis überzeugt. Respekt übrigens für deinen Vorschlag und für diese Aktion. Das war schon klasse. Oder wie würdest du sagen? Voll krass? Demnächst lade ich dich mal wieder zum Essen ein. Mit Felix.«

»Danke, Konrad. Vergiss aber nicht, dass Sabine uns geholfen hat.« Marie strahlte, wurde aber gleich wieder ernst. »Als ich in dem Labor gewartet habe, sind mir ein paar Gedanken durch den Kopf gegangen, die ich gern mit dir besprechen würde. Und dazu wäre es gut, alle Informationen zum Fall Hansen noch einmal durchzugehen. Wenn man nämlich davon ausgeht, dass einer der Morde – der von 1990 – nicht von Kienast begangen wurde, könnte ...«

»Lass uns das morgen machen«, unterbrach Röverkamp sie.»Es war ein langer Tag. Im Augenblick haben wir eine Atempause. Morgen früh können wir deine Theorie in aller Ruhe durchspielen.«

»Gut.« Marie nickte. »Dann bringe ich Felix jetzt den Wagen zurück.«

Obwohl sie den Anruf erwartet hatte, zuckte Susanne Hansen zusammen, als das Telefon ihres Vaters klingelte. Per SMS hatte der Mann die Uhrzeit für die nächste Kontaktaufnahme angegeben.Börnsen war in der Wohnung über dem Hotel geblieben. Zumeinen wollte er nicht mit seinen Bandagen in der Öffentlichkeit gesehen werden, zum anderen hatte er sich entschlossen, seine Tochter einzuweihen, denn wegen seiner Verletzungen war er nicht in der Lage, die nächste Geldübergabe selbst durchzuführen. Er nahm das Gespräch mit krächzender Stimme an.

Susanne war entsetzt gewesen, als ihr Vater ihr eröffnet hatte, weshalb er in Richtung Helgoland gesegelt war und was sich bei der Begegnung mit dem Erpresser ereignet hatte. Nun musste siemit anhören, wie er mit dem Verbrecher verhandelte. Anscheinendwar der Mann verärgert und stellte neue Forderungen.

»Wenn es schneller gehen soll, müssen Sie Abstriche machen«, hörte sie ihren Vater sagen. »Bis morgen kann ich allenfalls noch einmal fünfzigtausend besorgen. Mehr geht nicht. Und das ist im Übrigen mein letztes Angebot.«

Börnsen entfernte das Handy ein wenig vom Ohr. Offenbar sprach der Anrufer sehr laut. Susanne rückte näher an ihren Vater heran. Nun konnte sie auch hören, was die Stimme sagte.

»... nicht vergessen, was passiert, wenn ich meine Aussage von damals zurückziehe. Wenn der Fall Katrin Peters neu aufgerollt wird, sind Sie dran.«

»Das bezweifle ich«, entgegnete Börnsen. »Niemand wird Ihnen glauben. Aber ich bin bereit, es mich etwas kosten zu lassen, wenn die alte Geschichte nicht aufgerührt und meine Familie belastet wird. Das ist alles. Sie müssen sich jetzt entscheiden. Entweder Sie akzeptieren mein Angebot oder Sie spielen russisches Roulette, indem Sie es darauf ankommen lassen, ob die Justiz Ihnen folgt.«

»Ich melde mich wieder«, knurrte es aus dem Telefon, dann war die Verbindung beendet.

Susanne sah ihren Vater an. »Du willst, dass ich zu diesem Erpresser fahre, aber du hast mir gestern Abend nicht einmal verraten, was exakt sich damals abgespielt hat. Meinst Du nicht, es ist an der Zeit, mir zu erzählen, was genau damals passiert ist? Ich weiß nur, was ich erlebt habe, nachdem ich Christopher heimlich in den Hafen gefolgt war, weil ich seine Verabredung per Telefon zufällig mitbekommen habe und misstrauisch geworden war. Und daran erinnere mich immer noch ganz genau.«

Sie treffen sich am Alten Fischereihafen. Die hoch gewachsene junge Frau trägt einen wadenlangen, geschlitzten Rock mit auf Taille geschnittenem Blazer, ein rotes Seidentuch liegt locker um den Hals.

Sie wartet, wirkt unruhig, geht mit raschen Schritten auf und ab. Wirft abwechselnd einen Blick auf ihre Armbanduhr und zur gegenüberliegenden Seite des Hafenbeckens. Wahrscheinlich ist sie zu früh.

Christopher erscheint in Jeans und T-Shirt, sieht sich nach allen Seiten um und beschleunigt seine Schritte.

Er trifft Katrin auf der Höhe eines am Nordseekai liegenden Fischkutters. Sie stehen sich gegenüber, sprechen miteinander. Erst leise, dann wird der Dialog lauter und heftiger. Sie streiten.

Er deutet auf den Kutter, klettert an Bord. Sie schüttelt den Kopf. Doch dann folgt sie ihm auf das Schiff. Sie verschwinden in der Kajüte. Dumpf klingen die Worte nach draußen, bleiben aber unverständlich. Eine Auseinandersetzung?

Plötzlich Ruhe.

Christopher streckt den Kopf aus der Tür, sieht sich um, tritt heraus, steigt auf die Bordwand, springt auf die Hafenmauer.

Rasch zieht sie sich in den Schatten zurück. Er eilt an ihr vorbei, ohne sie wahrzunehmen.

Auf dem Kutter rührt sich nichts. Es ist nicht schwer, über die Bordwand zu klettern, die Tür der Kajüte lässt sich öffnen.

Auf dem Boden liegt ein bewegungsloser Körper. Eine Frau. Katrin Peters. Für einige Sekunden bleibt die Welt stehen. Fluchtinstinkt. Weg aus der Kajüte, vom Schiff, aus dem Hafen.

Wieso ist Katrin plötzlich wieder da? Warum trifft sich Christopher heimlich mit ihr ? Was wollte er von ihr? Oder sie von ihm? Was ist auf dem Schiff geschehen? Ist Katrin verletzt? Tot? Tränen. Nach Hause. Zu Vater. Er wird sich um alles kümmern.

»Beruhige dich, Kleines. Es wird schon nicht so schlimm sein. Nach allem, was ich von euch gehört habe, war die Peters doch schon in der Schule übergeschnappt. Dieses ständige Gerede von Emanzipation und Frauenpower. Lauter dummes Zeug. Damals wollte sie dich undChristopher auseinanderbringen. Weißt du noch? Wahrscheinlichhat sie ihn wieder belästigt. Deshalb hatten sie Streit. Ich werde mit Christopher sprechen. Es wird sich alles aufklären. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen.«

»Ich habe sie auf dem Boden liegen sehen.«

»Das muss nichts bedeuten. Aber ich werde nachsehen. Du bleibst jetzt hier und sprichst mit niemandem darüber. Warte, bis ich wieder da bin. Es wird sich alles aufklären.«

Eine Stunde voller Unruhe. Die Zeiger der Uhr scheinen stillzustehen.

»Es ist alles in Ordnung«. Vater wirkt ruhig. »Die junge Frau war nur etwas benebelt. Wahrscheinlich der Kreislauf. Eine lange Reise, nichts gegessen, die Aufregung. Was weiß ich.«

»Ist sie noch auf dem Schiff?«

»Ich habe sie auf den Kai gebracht. Wollte sie mitnehmen. Irgendwo abliefern. Aber sie wollte unbedingt dort bleiben. Hat sich auf einen Poller gesetzt, um sich zu erholen.«

»Du hast mir immer gesagt, ihr hättet sie lebend zurückgelassen. Was ist also wirklich passiert?«

»Ich weiß nicht, warum du das unbedingt im Detail wissenmusst, aber gut.« Berend Börnsen sah seine Tochter nicht an, seine Stimme war kaum zu vernehmen. Er atmete tief durch. »Hol’ mir bitte einen Cognac.«

Automatisch stand Susanne auf und ging zur Hausbar. Während sie mechanisch einschenkte, schossen Bilder aus der Vergangenheit durch ihren Kopf. Katrin Peters. Die Abifeier am See. Das nächtliche Nacktbaden. Die Gesichter am nächsten Morgen. Chris angespannt. Katrin versteinert. Olli verwirrt. Alex verschlossen.

Die Unterlagen aus Riens Zimmer. Der Tagebucheintrag.

Anja will, dass ich C. an seine Pflichten erinnere. Aber das kann ich nicht. Ich bin nicht einmal in der Lage, hinzufahren. Wenn ich daran denke, kommen die Erinnerungen hoch. Schon gar nicht will ich C. wiedersehen. Und ich müsste ihn ja ansprechen. Ihm sagen, dass er ein Kind hat.

Susanne stellte den Cognac vor ihrem Vater ab. »Und jetzt möchte ich die ganze Wahrheit wissen!«