19

Berend Börnsen hielt die Augen geschlossen, nippte an seinemCognac, stellte das Glas ab. »Als ich mich damals auf den Weg gemacht habe, um nachzusehen, was mit dieser Peters war, ist mir Christopher begegnet. Er sah ziemlich mitgenommen aus und wollte mir aus dem Weg gehen.«

»Gib dir keine Mühe!« Fast berühren sie sich. Die Nähe ist dem Jungen sichtlich unangenehm.

»Ich ... wollte ... gerade ...«, stottert er.

»Du kommst jetzt mit! Wir beide haben etwas zu erledigen.«

Er zwingt Christopher, ihm zu folgen. Entsetzt starrt der auf den Kutter, öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Doch dafür ist jetzt keine Zeit. »Los, rauf auf den Kahn!«

Der Junge wirkt wie in Trance, klettert an Bord, öffnet die Tür der Kajüte.

Auf dem Boden liegt ein lebloser Körper.

»Wer ist das?«

»Katrin Peters.«

»Was ist passiert?«

»Ich habe sie geschüttelt. Sie hat sich gewehrt. Plötzlich ist sie gefallen. Gegen die Kante von der Kiste. Vielleicht ist sie nur ohnmächtig. Ich glaube, sie atmet noch.«

»Was wollte sie von dir?«

»Sie hat behauptet ...«

»Dass du sie geschwängert hast?«

»Ja, aber ...«

»Egal. Sie muss verschwinden. Und zwar imWasser. Wie die andere. Und wenn man sie findet, wird man feststellen, dass sie erwürgt oder erdrosselt wurde. Auch wie die andere. Knote ihr das Tuch um den Hals.Hier liegt ein Schraubenzieher, damit drehst du den Knoten fest. Ich sehe mich draußen um. Bin gleich wieder da. Dann packen wir sie ein und werfen sie über Bord.«

»Er hat sie getötet? Gemeinsam habt ihr sie im Hafenbecken versenkt?« Ungläubig starrte Susanne Hansen ihren Vater an.

»Genau genommen war es ein Unfall. Vielleicht war sie auch nicht gesund. So ein Sturz ist normalerweise nicht tödlich. Was hätten wir denn machen sollen? Wem hätte es genützt, wenn wirdie Leiche der Polizei präsentiert hätten? Neben dem ganzen Ärger hätten wir ein Ermittlungsverfahren am Hals gehabt. Wären womöglich unter Mordverdacht geraten. Mit unabsehbaren Folgen für den Ruf unserer Familie, das Hotel, Christophers Karriere. Für nichts und wieder nichts. Vielleicht hätten wir es anders gemacht, wenn nicht damals immer noch nach dem Frauenmörder gesucht worden wäre. Es war einfach naheliegend, ihm die Sache anzuhängen. Was ja von Anfang an gut funktioniert hat. Die Polizei hatte sich auf einen Frauenmörder eingeschossen und keine anderen Spuren verfolgt. Und als der Mörder Jahre später gestellt wurde, hat er dann ja auch mitgespielt.«

»Aber warum hat dieser Mann den ... die Tat ... zugegeben? Das hätte er doch nicht tun müssen. Hast du mit ihm ...?«

Börnsen winkte ab. »Das hat Lindhorst übernommen. Es war ein Deal. Er hat sich den Fall zurechnen lassen, und im Gegenzug sollte er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis eine viertel Million bekommen. Dadurch, dass er vor der Zeit ausgebrochen ist, ist nun alles etwas anders. Alles wird wieder hochgekocht, wer weiß, ob dabei nicht jemand auf dumme Gedanken kommt.Das Risiko ist für uns jetzt größer. Und er hat sich nicht an die Abmachung gehalten. Deshalb muss er sich jetzt mit unseren hunderttausend Euro zufriedengeben, um sich abzusetzen.«

Was sie gehört hatte, löste in Susanne Hansen eine solche Unruheaus, dass es sie nicht länger auf ihrem Sessel hielt. Sie sprang auf und lief im Zimmer hin und her.

»Wir sollten die Polizei einschalten«, schlug sie schließlich vor. »Bei der Übergabe kann sie ihn festnehmen. Dann sind wir ihn los. Und können unser Geld behalten.«

»Zu riskant«, entgegnete ihr Vater. »Glaubst Du, er wüsste nicht, dass wir ihn verraten haben? Der Mann ist jetzt bewaffnet. In meiner Pistole sind zwar nur noch zwei Patronen, aber im schlimmsten Fall reicht ein Schuss. Und selbst wenn alles glatt verläuft, er wird wissen, wem er die Ergreifung zu verdanken hat, und auspacken«

Susanne schwieg eine Weile, dann fixierte sie ihren Vater. »Ich verstehe immer noch nicht, warum du dich auf die Erpressung einlässt.«

»Kienast hat sich abgesichert. Sein Anwalt besitzt eine eidesstattliche Versicherung, aus der hervorgeht, dass Kienast Katrin Peters nicht getötet hat, und dass er von Lindhorst dazu animiert wurde, gegen die Summe von zweihundertfünfzigtausend diesen Mord auf sich zu nehmen. Sollten wir uns der Geldübergabe widersetzen, würde er seinem Anwalt die Anweisung erteilen, diese Erklärung der Justiz vorzulegen. Das wird dieser auch tun, sollte Kienast etwas zustoßen. Der Fall würde neu verhandelt, er würde Christopher zugeschoben – und der würde, zumal er ziemlich sauer auf die Scheidung reagieren dürfte, versuchen, mich mit hineinzuziehen. Dann nutzt es uns auch nichts mehr, uns von ihm zu distanzieren, dann stünde mein guter Ruf auf dem Spiel und damit der des Hotels. Darum möchte ich diese Geschichte so geräuschlos wie möglich erledigen.«

Susanne blieb stehen. »Und wie stellst du dir das vor?«

»Den Ablauf wird er vorgeben. Wahrscheinlich wird er dich per Handy ein wenig durch die Gegend dirigieren. Irgendwo darfst du dann den Geldkoffer abstellen. Das ist alles.«

»Muss ich das wirklich übernehmen?« Ein Anflug von Panik machte sich in Susannes Stimme bemerkbar.

»Jemand muss es tun.« Börnsen hob die bandagierte Hand und deutete auf seinen verbundenen Kopf. »Wir können auch Lindhorst darum bitten. Ich kann es jedenfalls nicht.«

»Es gibt Neuigkeiten von Kienast.« Dieser Satz riss Marie Janssen aus ihren Gedanken über mögliche Verbindungslinien zwischen dem Mord an Katrin Peters und Christopher Hansen. Die Worteihres Kollegen ließen die Überlegungen in den Hintergrund treten.

Sie waren fast gleichzeitig im Büro eingetroffen. Röverkamp hatte die Mitteilung auf seinem Schreibtisch gefunden und las halblaut vor »Vorgestern Nacht ist in Altenbruch ein Wohnmobil gestohlen worden. Von einem Platz namensCamping am Weltschifffahrtsweg. Die Besitzer haben eine mehrtägige Fahrradtour unternommen und den Verlust gestern Abend bemerkt. Die Platznachbarn hatten das Fahrzeug aber den ganzen Tag schon vermisst.« Er sah auf. »Ich wette, das war Kienast. Wir suchen jetzt nach einemDethleffs Globetrotter, Baujahr 2001, mit Dortmunder Kennzeichen. Die Kollegen haben uns ein Foto gemailt.«

Marie schaltete ihren Computer ein. »Das Kennzeichen könnte er geändert haben. Und von diesem Modell gibt es sicher etliche. Bis wir die alle überprüft haben, können einige Tage ins Land gehen. Die Campingplätze sind voll. Und für Wohnmobile gibt es außerdem noch spezielle Stellplätze, auf denen eins neben dem anderen steht.« Sie deutete auf den Monitor. »Hier ist er schon. Diese Dinger sehen doch alle ähnlich aus. Und mit den paar Leuten ...«

»Ich spreche mit Christiansen«, warf Röverkamp ein. »Vielleicht kann er ein paar zusätzliche Kollegen loseisen und mit ihnen die Fahndung verstärken. Zur Not müssen die Strände mal ohne die Beach-Watch-Truppe auskommen. Wir brauchen jetzt jedenMann. Und dann schauen wir uns auf der Karte an, welche Plätze für Kienast in Frage kommen. Kannst du das vorbereiten?«

»Selbstverständlich.« Marie suchte bereits in ihren Schubladen nach geeignetem Kartenmaterial. »Was ist mit Öffentlichkeit? Ich könnte mir vorstellen, dass brave Urlauber einen Unbekannten in ihrer Nachbarschaft rasch registrieren.«

Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf. »Kienast ist möglicherweise bewaffnet. Der macht von der Schusswaffe Gebrauch, wenn ihm jemand in die Quere kommt. Es wird schwierig genug werden, an ihn heranzukommen, wenn er mit dem Wohnmobil zwischen vielen anderen steht und überall Menschen sind.«

»Aber seine Pistole ist er doch durch seinen Besuch bei mir losgeworden«, wandte Marie ein.

»Vergiss nicht, dass auf dem Boot ein Schuss gefallen ist. Wir wissen nicht, ob er oder seine Kontaktperson geschossen hat. Er könnte sich eine neue Pistole besorgt haben.«

»Wir brauchen also das SEK«, überlegte Marie laut. »Kannst du bei Christiansen gleich mit ankündigen.«

Röverkamp hängte sein Jackett über den Stuhl und strebte zur Tür. »Bis gleich.«

Marie Janssen breitete die Umgebungskarte für Cuxhaven auf dem Schreibtisch aus, nahm einen Stift aus der Ablage und begann, die großen Campingplätze zu markieren. Als sie den Platz am Wernerwald umrahmte, kroch der schreckliche Doppelmord aus der Erinnerung in ihr Bewusstsein. Inzwischen war der Mann verurteilt, der dort zwei junge Frauen mit Messerstichen getötet hatte. Das Entsetzen hatte die ganze Region erfasst und besonders die Sahlenburger Feriengäste beunruhigt. Zum Glück hatten sie den Täter bereits nach wenigen Tagen gefasst.

Während sie schon den nächsten Platz markierte, kreisten noch immer die Bilder aus Sahlenburg in ihrem Kopf, die Gesprächemit den benachbarten Campern, dem Platzwart, weiteren Zeugen.Und sie sah die zahllosen Wohnmobile vor sich, die damals –ordentlich aufgereiht – den Tatort säumten. Wenn Kienast auf einen solchen Platz gefahren war, musste er sich anmelden, wahrscheinlich sogar Papiere vorlegen. Das Risiko konnte er nicht eingehen. War es doch der falsche Ansatz, auf Campingplätzen nach dem gestohlenen Wohnmobil zu suchen? Sie schlug das Gastgeberverzeichnis auf, das sie in ihrem Schreibtisch gefunden hatte, und griff zum Telefonhörer.

Kienast beglückwünschte sich zu seinem Entschluss. An dem kleinen Kutterhafen vor Spieka-Neufeld gab es ungehinderten Zutritt zum Strand. Für das Wohnmobil hatte er eine Karte am Automaten gelöst, mehr wurde nicht verlangt. Er konnte sich in die Reihe der Fahrzeuge hinter dem Gelände des Seglervereins stellen, ohne von irgendjemandem registriert zu werden. Die Nachbarn grüßten freundlich, kümmerten sich aber nicht weiter um ihn.

Auch in einem weiteren Punkt hatte ihn seine Erinnerung nicht getäuscht. Hier gab es ein Restaurant mit dem sinnigen NamenEbbe und Flut. Da er seit mehr als vierundzwanzig Stunden nichtsgegessen hatte, spürte er ein heftiges Verlangen nach einer ordentlichen Mahlzeit. Danach würde er sich wieder um das Geschäftliche kümmern.

Dieser Börnsen war ein harter Knochen. Und mit allen Wassern gewaschen. Kienast musste sich eingestehen, dass es keine andere Lösung gab als nachzugeben. Es wurde Zeit, dass er verschwand. Den Rest der vereinbarten Summe würde er sich später holen, wenn einige Jahre vergangen wären und niemand mehr an ihn denken würde.

Zur Vorbereitung seiner Flucht würde er noch einige Telefonate führen müssen. In zwei Stunden wäre alles erledigt. Er zog das Handy aus der Tasche und tippte eine Nachricht ein.

Börnsens Mobiltelefon signalisierte den Eingang einer SMS. Mit einer Mischung aus Furcht und Misstrauen beobachtete Susanne Hansen, wie ihr Vater die Nachricht ablas.

»Er ruft in zwei Stunden an. Bis dahin muss jemand mit dem Geld bereit sein und sofort losfahren können.« Börnsen hob den Kopf. »Wirst du fahren, Susanne? Oder soll ich Lindhorst anrufen?«

Susanne hatte sich entschieden. »Ich mache es. Aber ich möchtenicht allein unterwegs sein. Ich nehme jemanden mit. Ohne dass derjenige erfährt, worum es geht.«

Börnsen nickte. »An wen hast du gedacht?«

»An Mike, unseren Barkeeper. Ein ruhiger und zuverlässiger Mann. Außerdem loyal und verschwiegen.«

»Wenn es dich sicherer macht ... Aber achte darauf, dass er nichts mitkriegt. Und sich nicht einmischt. Lass dich von ihm fahren. Ihr nehmt am besten meinen Wagen.«

»Mike frisst mir aus der Hand. Und er ist nicht gerade eine Intelligenzbestie.« Susanne lächelte hintergründig. »Für Dienstleis­tungen jeder Art geeignet.«

»Also gut«, brummte Börnsen. »Bist du dann so nett und holst das Geld von der Bank? Ich rufe in der Zwischenzeit den Filialleiter an.«

Sandra schrak zusammen, als es an ihrer Tür klopfte. Um diese Zeit rechnete sie nicht mit einem – ohnehin seltenen – Besucher.

Ihr Kollege von der Bar steckte den Kopf ins Zimmer. Sein Blick wirkte verschwommen. »Die Chefin braucht jemanden, der sie fährt. Ich war gerade beim Augenarzt. Kann nicht viel sehen. Wegen der Tropfen. Könntest du für mich einspringen?«

»Kann sie denn nicht selber fahren?«, fragte Sandra irritiert.

»Natürlich kann sie. Aber sie möchte gefahren werden. Mit dem Wagen vom alten Börnsen. Machst du’s?«

»Ich komme.« Sandra sprang auf. Ein verwegener Gedanke war ihr durch den Kopf geschossen. Sie wollte die Gelegenheit nutzen um herauszubekommen, wie sie an Susanne Hansen Rache nehmen könnte.

»Wann soll’s losgehen?«

»Sofort.«

»Ich bin in einer Minute fertig.«

»Danke, Sandra. Ich sage der Chefin Bescheid.« Sichtlich erleichtert wandte sich Mike zum Gehen. »Börnsens BMW steht untenim Hof!«, rief er über die Schulter zurück.

Kienast hatte gut und reichlich gegessen. Zur Kutterscholle hatte er sich das eine oder andere Bier gegönnt. Nun überkam ihn eine schläfrige Mattigkeit, die er mit einem starken Kaffee bekämpfte.

Er saß auf der Terrasse vor dem Container-Restaurant, blinzeltein die Sonne und ließ den Blick über das Ferienidyll vor seinenAugen wandern. Ablaufendes Wasser ließ den Fahrweg der Kutterwie einen Fluss erscheinen, der sich vom Hafen ins Meer schlängelte. Ein Freizeitsegler suchte rechtzeitig vor Niedrigwasser den Liegeplatz auf. Gemächlich zog das weiße Boot an ihm vorüber.

Der Anblick erinnerte ihn an die Begegnung mit Berend Börnsen auf der geliehenen Yacht. Er hatte den alten Sturkopf unterschätzt. Beinahe wäre die Übergabe schiefgegangen. Einer von ihnenhättejetzt eine Leiche sein können. Wahrscheinlich würde er nun diesen Anwalt schicken. Der Mann war ein gewiefter Advokat, aber kein Held. Mit ihm würde er leichtes Spiel haben. Vor der Begegnung war jedoch noch einiges zu regeln.

Er sah sich um. Die Gäste von den Nachbartischen waren bereits gegangen, nur am anderen Ende des Gartens war ein Pärchennoch mit dem Essen beschäftigt. Aus einer Informationsbroschüre für Cuxland-Touristen, die er im Wohnmobil gefunden hatte, suchte er eine Telefonnummer in Nordholz heraus, wählte und hoffte, dass sich jemand meldete, mit dem er eine Verabredung für den frühen Vormittag des nächsten Tages treffen konnte.

Offenbar erwischte er den richtigen Gesprächspartner, denn der Mann nahm seine Wünsche kommentarlos entgegen und bestätigte die Uhrzeit.

»Richtig«, bejahte er die einzige Nachfrage. »Nur eine Person. Ich zahle alle Plätze.«

Zufrieden legte er das Handy ab und bestellte einen weiteren Kaffee. Gegen das Zeug im Knast waren Essen und Trinken an diesem idyllischen Platz eine Offenbarung. Das Leben war nur in Freiheit lebenswert. Und wenn man die nötigen Mittel besaß. Beides hatte er jetzt. Dennoch fehlte ihm etwas. Der missglückte Besuch bei der Kleinen nagte an seinem Selbstbewusstsein. Und machte ihm schmerzlich bewusst, wie dringend er einen Frauenkörper brauchte. Er hatte sich bereits umgesehen, doch keine Frau seines Typs entdeckt. Sollte eine zart gebaute Blonde mit einer hübschen Visage auftauchen, würde er alles daran setzen, sie ins Wohnmobil zu bekommen. Aber langsam wurde dafür die Zeit knapp.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er den nächsten Anruf tätigen konnte. Er wartete, bis die Bedienung den Kaffee gebracht hatte und wieder im Inneren des Restaurants verschwunden war, dann wählte er Börnsens Nummer.

Sandra wartete im Wagen. Frau Hansen hatte ihr den Schlüssel gegeben, als sie ihr erklärt hatte, dass der Freund ihrer Mutter ebenfalls solch ein BMW-Modell besitze, das sie mehrfach gefahren habe. Zur Vorsicht rangierte sie den schweren Wagen doch noch ein paar Mal auf dem Hof hin und her und fühlte sich schnell hinter dem Steuer dieses Autos sicher.

Nachdem erst alles furchtbar schnell gehen sollte, musste sie sich nun gedulden. Und sie fragte sich, was es mit dem Job als Fahrerin auf sich hatte. Sie hatte die Hansen oft genug mit ihrem Golf-Cabrio vom Hof und durch die enge StraßeAm Seedeichschießen sehen. Einmal hatte sie die Frau vom Chef zu einem Lieferanten begleiten müssen und erlebt, wie zügig und selbstsicher sie fuhr. Heute schien sie sehr nervös zu sein. Vielleicht wegen der Verhaftung ihres Mannes. Die Todesfälle unter den Hotelgästen dürften sie ebenfalls beunruhigt haben. Bei dem Gedanken verzog sich Sandras Gesicht zu einem hintergründigen Lächeln. Sofortsetzte sie eine neutrale Miene auf, als sie Schritte hörte, die sich rasch näherten.

Susanne Hansen erschien in einem ungewohnten Outfit. Statt des Business-Kostüms, mit dem sie sich im Hotel präsentierte, trug sie schwarze Jeans und ein silbergraues T-Shirt. Ihre Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. So sah sie deutlich jünger aus.

Sie warf einen Aktenkoffer auf den Rücksitz und setzte sich neben Sandra. In der Hand hielt sie ein Handy. »Fahren Sie los. Erst mal zur B 73 in Richtung Altenwalde. Kennen Sie die Strecke?«

Sandra nickte und startete. »Da geht’s nach Bremerhaven. Sollen wir nicht gleich auf die Autobahn ...?«

»Fahren Sie einfach!«, unterbrach Susanne Hansen. »Ich sag’ Ihnen dann schon, wo’s langgeht.«

Die alte Bundesstraße wies zwischen Altenwalde und Midlum einigeschnurgerade Abschnitte auf, die sich für eine Beobachtung des Autoverkehrs hervorragend eigneten. Kienast hatte sich für den Parkplatz vor dem Aeronautikum entschieden. Von hier aus konnte er den Verkehr aus Richtung Cuxhaven zwar nur ein kleines Stück einsehen, aber unzählige Pkw und etliche Wohnmobile von Touristen gaben eine hervorragende Deckung ab. Damit Börnsens Tochter nicht vor ihm dort eintraf, hatte er sie noch zehn Minuten warten lassen. Dann war er losgefahren. Nunstand er mit demGlobetrottervor dem Aeronautikum und musterte die ankommenden Fahrzeuge.

Er erkannte den schwarzen 7er BMW schon von Weitem. Cuxland-Touristen waren zumeist nicht in derart schweren Limousinen unterwegs, so dass ihm der Wagen sofort auffiel. Zögerndsuchte die Fahrerin den Weg zum überfüllten Parkplatz. Für einen Augenblick hatte er den Eindruck, dass neben ihr eine weitere Person saß. Doch dann spiegelte sich die Sonne in der Frontscheibe und verwischte das Bild.

Kienast startete den Motor und heftete den Blick auf die dem BMW folgenden Fahrzeuge. Natürlich würden sich seine ehemaligen Kollegen nicht als Polizei zu erkennen geben, sondern alsFeriengäste verkleiden, aber er würde sie trotzdem ausfindig machen.

Doch offenbar hielt sich Börnsen an die Abmachung. Die Mutti-Typen, die sich hier und da aus ihren Mittelklassewagen zwängten, waren bestimmt keine Polizistinnen. Dennoch würde er eine weitere Kontrolle vornehmen.

Vorsichtig ließ er das Wohnmobil anrollen, wartete geduldig auf Grün und bog dann auf die alte Bundesstraße in Richtung Midlum ab. Am Kreisel zwischen Knill und Wanhöden hielt er an und gab die nächste Anweisung durch.

Nachdem Börnsens BMW den Kreisel passiert hatte und ihmwiederum kein verdächtiges Fahrzeug gefolgt war, startete Kienast erneut und steuerte das Wohnmobil in Richtung Deichsende. Dort, in Dorum-Neufeld, gab es riesige Parkplätze, auf denen dasWohnmobil so schnell nicht auffallen würde. Aber langsam müsste er sich überlegen, wie er sich des Wohnmobils entledigen könnte. Mit ihm würde er seine Flucht nicht fortsetzen.

In Dorum hatten sie eine Weile auf dem Aldi-Parkplatz warten müssen. Sandra hätte ihre Beifahrerin gern gefragt, was diese seltsame Rundfahrt bezweckte. Doch Susanne Hansen verbot ihr beim ersten Wort sofort den Mund. Als das Handy neben ihr klingelte, war ihr klar, dass nun wieder ein Fahrziel übermittelt wurde. Inzwischen war sie sicher, dass sie die Frau ihres Chefs auf dem Weg zu einer Geldübergabe begleitete. »Dorum-Neufeld«, sagte sie, nachdem das kurze Gespräch beendet war, und deutete in die Richtung, in der sie den Parkplatz verlassen mussten.

Sandra reihte sich in den Strom der Touristenautos ein; Susanne Hansen dirigierte sie durch den Ort. Einige Minuten später rollten sie im Schritttempo durch ein Spalier von Feriengästen, die sich auf den Gehsteigen und an den Straßenrändern drängten, um den Deich zu überqueren und ihren Parkplatz anzusteuern.

Hätten nicht die Massen von Urlaubern und ein monströses Kurgastzentrum mit Hallenbad das Bild beherrscht, hätte man von einer Idylle sprechen können. Bunt bemalte Krabbenkutterschaukelten sanft im silbrig glänzenden Wasser des kleinen Hafens. Ein alter Leuchtturm auf einem stählernen Gestell bildete einen auffälligen Blickfang im Hintergrund.

Nachdem Sandra den Wagen geparkt hatte, stieg Susanne Hansen aus. Das Handy behielt sie in der Hand. Sie öffnete die hintere Tür und nahm den Aktenkoffer an sich.

»Sie warten hier!«, bestimmte sie und ging in Richtung Kutterhafen.

Kienast grinste, als er die Frau erkannte, die der alte Börnsen beschrieben hatte. Nicht schlecht, dachte er und überschlug die Zeit, die ihm für ein sexuelles Abenteuer blieb. Vielleicht sollte er den Plan ändern und doch noch einmal mit dem Wohnmobil ... Unbewusst schüttelte er den Kopf, als Börnsens Tochter näher kam. Zu alt. Und wahrscheinlich auch zu gerissen. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

»Hallo«, murmelte er halblaut und trat ihr in den Weg. »Ich bin derjenige, den Sie suchen, Frau Hansen.«

Erschrocken zuckte die Angesprochene zurück. Kienast streckte den Arm nach dem Aktenkoffer aus.

Widerwillig löste Susanne ihre Hand vom Griff.

»Und jetzt bitte den Autoschlüssel.«

Sie schüttelte den Kopf. »Den habe ich nicht. Der ist ...« Sie deutete hinter sich. »Eine Mitarbeiterin hat mich gefahren.«

Böse starrte Kienast sie an. Seine Hand fuhr in die Hosentasche und umklammerte die Pistole. Dann wurde ihm bewusst, dass sie zwischen unzähligen Urlaubern standen.

»Wo ist der Wagen?«, knurrte er wütend.