Er hatte aufgehört, gegen die Tür zu schlagen.
Die Stille erschien Marie gespenstisch. Ihre Gedanken rasten.
In einer halben Stunde würde es dunkel sein. Durch die kleine Fensterscheibe leuchteten die letzten rötlichen Sonnenstrahlen, und sie saß in der Falle. In einer alten Hütte. Auf einer unbewohnten Insel in der Nordsee. Meilenweit vom Festland.
Zu spät, sich Gedanken zu machen, wie sie sich zu einem solchen Abenteuer hatte hinreißen lassen. Mit einem Mann, den sie kaum kannte, auf seinem Segelboot hier herauszufahren.
Wieder schlug er gegen die Tür. Wie lange würde sie noch halten?
Plötzlich Ruhe!
Was würde als nächstes kommen?
Das Handy! Sie musste Hilfe anfordern. Draußen auf dem Tisch lag es. Nur wenige Meter von der Hütte entfernt. Unerreichbar, solange er dort lauerte.
Vielleicht könnte sie ihn ablenken, die paar Schritte bis zum Handy schaffen. Weglaufen im Schutz der Dunkelheit. Ein Versteck in den Dünen finden oder das Boot erreichen und sich aufs Meer treiben lassen. Vielleicht.
Ein grässliches Klirren schreckte sie aus ihren Fluchtgedanken. Direkt neben ihr. Die Fensterscheibe war geborsten und eine Hand tastete nach dem Fenstergriff.
Mit dem ersten Gegenstand, den sie greifen konnte, ein Holzschemel, schlug sie zu. Knochen knackten, Blut spritzte. Sie hatte seinen Arm mit dem Schlag in die spitzen Fenstersplitter gedrückt. Marie wich zurück, als er aufheulte und den verletzten Arm aus dem Fenster zog. Dann verschwand der Mann in der Dunkelheit.
Die erneute Stille war trügerisch. Er würde nicht aufgeben. Aber was hatte er vor? Zuerst musste er seinen Arm versorgen. Verbandszeug? Er musste bis aufs Boot zurück.
War das ihre Chance?
Es blieb keine Zeit zu zögern. Nach einem kurzen Blick durchs Fenster schob sie vorsichtig den Riegel an der Tür zurück, zog die Tür mit einem Ruck auf und stürzte los. Da, das Handy. Sie packte es und rannte weiter. Einfach weg.
Sie spürte den weichen Sand unter den Füßen und erklomm auf allen vieren die Düne. Auf der anderen Seite rutschte sie hinab und blieb atemlos liegen, immer darauf gefasst, das Licht seiner Taschenlampe zu sehen.
Aber Marie war allein. Nur die Meeresbrandung und der Wind waren zu hören. Jetzt fiel ihr auf, dass sie immer noch das Handy umklammert hielt. Sie musste Röverkamp anrufen. Als das Display aufleuchtete, wählte sie seine Nummer aus der Liste.
Verdammt! Kein Netz! Marie stand auf, hob das Mobiltelefon hoch über ihren Kopf. Kein Empfang. Verzweifelt erklomm sie dienächste Düne und wählte erneut. Sinnlos. Sie war außer Reichweite des nächsten Mobilfunksenders. Völlig auf sich allein gestellt.
Jetzt blieb nur das Boot. Sie lief geduckt in die Richtung, in der sie die kleine Landebucht vermutete. Immer darauf gefasst, im nächsten Moment ihren Verfolger auftauchen zu sehen. Und dann sah sie es vor sich. Das kleine Segelboot schaukelte sanft in der ruhigen Dünung. Kein Licht an Bord. Keine Geräusche außer dem leisen Plätschern der Wellen an der Bordwand.
Marie verharrte geduckt am Rand der Dünen. Minutenlang fixierte sie das Boot. Nichts regte sich dort. Sie musste es wagen. DerWind stand in ihrem Rücken und würde das Boot aus der Bucht drücken. Langsam, immer noch auf verdächtige Geräusche horchend, näherte sie sich den Seilen, mit denen er das Boot festgemacht hatte. Vorsichtig löste sie die Knoten und glitt leise bis zur Hüfte ins kalte Wasser, zog sich an der Bordwand hoch und verharrte erneut einen Moment, in die Dunkelheit lauschend.
Der Wind hatte nicht genügend Kraft. Das Boot bewegte sich kaum sichtbar. Und jeden Moment könnte ihr Verfolger aus der Dunkelheit auftauchen. Die Notpaddel, die er ihr gezeigt hatte. Damit könnte sie in sichere Entfernung zur Insel gelangen. Sie fand eines der Paddel und beugte sich weit über die Bordwand, um sich damit am Grund abzustoßen.
Ganz langsam setzte sich das Boot in Bewegung, trieb am Ufer entlang, aus der kleinen Bucht heraus. Marie atmete auf und schaute auf die Insel zurück.
In diesem Moment ertönte ein hässliches Lachen, und ein leichtes Schaukeln erfasste das Boot. Sie fuhr herum und schaute schreckensstarr auf die Erscheinung, die sich über die Bordwand schob ...