Wie paralysiert starrte Hansen auf die Belegliste. Nun wusste er, warum ihm das Gesicht des Toten bekannt vorgekommen war. Alexander Cohrs. Der Name war ihm vertraut. Seit der Schulzeit. Tief in seinem Inneren vergrabene Bilder kehrten zurück. Szenen einer verdrängten Episode. Von der nur drei Menschen wussten. Ein Geheimnis, das schon lange keine Bedeutung mehr hatte.
Aber warum tauchte Alexander zwanzig Jahre später im Hotelauf? Ohne vorher Kontakt mit ihm aufzunehmen! Nach demEnde der Bundeswehrzeit war er zum Studium nach Münchengegangen. Irgendwas Technisches. Hatte mit Metallurgie zu tun. Später hatte er ein eigenes Institut gegründet. Materialprüfung und Werkstofftechnik oder so ähnlich.
In Cuxhaven hatte er sich nur selten sehen lassen. Vor zehn Jahren hatte Susanne ein Jahrgangstreffen organisiert. Alexander war nicht gekommen, weil er beruflich im Ausland unterwegs war. Hatte er jedenfalls geschrieben. Und danach hatte man nichts mehr von ihm gehört.
Hansen legte die Liste zurück. Zimmer 42. Er würde nachsehen. Vielleicht entdeckte er etwas, das ihm seine Fragen beantwortete.
Gewöhnlich betrat er die Hotelzimmer nicht. Allenfalls bei Schäden oder wenn etwas erneuert werden musste. Schon gar nicht, wenn ein Zimmer belegt war. Niemand durfte ihn beobachten. Nicht auszudenken, welche Spekulationen es auslösen würde, wenn jemand vom Personal ihn sah. Falls die Polizei noch einmal auftauchte, konnte ihn das in große Schwierigkeiten bringen. Er würde den Besuch auf den späten Abend legen.
Es war bereits nach Mitternacht, als er die vierte Etage aufsuchte. Geräuschlos eilte er auf dem weichen Teppichboden durch denleeren Flur, erreichte das Zimmer und sah sich um. In diesem Augenblick verschwand am Ende des Ganges ein Schatten.
Hansen hielt einen Moment inne, dann ging er weiter bis zu der Glastür, die zum Treppenhaus führte. Hier warf er zuerst einen Blick nach oben und beugte sich dann über das Geländer, um nach unten zu schauen. Niemand war zu sehen. Er lauschte angestrengt, doch es waren weder Schritte noch andere Geräusche zu hören.
Rasch kehrte er zur Tür des Zimmers 42 zurück, öffnete sie mit der Generalschlüsselkarte und trat ein. Die Beleuchtung tauchte das Zimmer in ein sanftes Licht. Automatisch registrierte Hansen, dass alle Lampen in Ordnung waren, das Bett ordentlich gemachtund die Fenster bis auf die Lüftungsklappen vorschriftsmäßiggeschlossen waren. Über dem Stuhl vor dem Schreibtisch hing ein Jackett, auf dem Boden standen ein Aktenkoffer und eine offene Reisetasche. Die Schranktüren waren geschlossen, auf demNachttisch lag ein Kriminalroman.Eiskalter Sommer. Ach ja,dachte Hansen. Einer der Cuxland Krimis, die er seinen Gästen empfahl, ohne sie selbst gelesen zu haben.
Er zog die Schublade auf. Nichts. Öffnete den Schrank und schloss ihn wieder. Alexander schien ein ordentlicher Mensch zu sein, Hemden und Wäsche waren akkurat gestapelt, ein Anzug hing auf dem Bügel.
In der Reisetasche fanden sich ein Paar Schuhe und schmutzige Wäsche. Er wandte sich dem Aktenkoffer zu. Er war nicht mittelsder Zahlenschlösser an den beiden Riegeln abgeschlossen. Hansenhob ihn aufs Bett und klappte den Deckel auf.
Offenbar hatte Alex sich Arbeit mitgebracht. Akten und Schnellhefter enthielten technische Zeichnungen und Beschreibungen, mit denen Hansen nichts anfangen konnte. Enttäuscht blätterte er die Seiten durch. Ein schmaler Ordner weckte schließlich sein Interesse. Er trug einen handschriftlichen Vermerk.Cuxhaven 2010. Wieder ging es um die Darstellung technischer Konstruktionen. Doch diesmal kamen ihm die Zeichnungen bekannt vor. Die gewaltigen Sockel für dieOffshore-Windanlage REpower 5Mhatte er schon auf dem Gelände der Cuxhaven Steel Construction gesehen. Im Text ging es um die Ergebnisse von Materialprüfungen. Unverständliches Fachchinesisch.
Er legte die Mappe zurück in den Koffer und klappte den Deckel zu. Anscheinend hatte Alex beruflich in Cuxhaven zu tun. Dahätte er sich aber auch bei ihm melden können. Zumindest beiSusanne. Aber vielleicht hatte er den Wechsel in der Geschäftsführung nicht mitbekommen. Selbst viele Cuxhavener glaubten noch immer, dass Berend Börnsen der Chef des HotelsAlte Liebewar. Der Zweiundsiebzigjährige tat wenig, um den Irrtum aufzuklären. Und nach wie vor beobachtete er Hansens Arbeit mit Argusaugen. Manchmal hatte er den Eindruck, der alte Hotelier warte nur darauf, dass sein Schwiegersohn einen Fehler machte und er das Ruder wieder übernehmen müsste.
Wenn Alexanders Anwesenheit berufliche Gründe und nichts mitalten Geschichten zu tun hatte, bestand kein Grund zur Sorge.Erleichtert stellte Hansen den Aktenkoffer an seinen Platz zurück und wandte sich zum Gehen. Ein kaum vernehmbares kratzendesGeräusch an der Tür ließ ihn innehalten. Erschrocken beobachteteer, wie sich die Klinke bewegte. Millimeter für Millimeter wanderte sie nach unten. Die Tür wurde einen Spalt geöffnet und sofortwieder zugezogen. Hansen widerstand dem Impuls, sie aufzureißen und hinauszustürzen. Er verharrte regungslos und lauschte.Draußen entfernten sich Schritte.
Er wartete noch einige Sekunden und hob die Hand zum Lichtschalter. In diesem Augenblick fiel sein Blick auf die Informationsmappe des Hotels. Sie enthielt Hinweise auf Veranstaltungen und Informationen über Badestrände, Gezeiten und die Gefahren des Watts. Darüber hinaus wurden den Gästen Briefpapier und Umschläge zur Verfügung gestellt. Ein Blatt ragte aus der Mappehervor. Automatisch öffnete Hansen die Mappe, um die Papiere zu ordnen. Das Blatt war beschrieben. Eine Einladung. Zu einem Jahrgangstreffen. In Cuxhaven. Adressiert an Alexander Cohrs in München. Kein Absender.
Irritiert überflog er den Text. Wenn es um seine Mitschüler vom Amandus-Abendroth-Gymnasium ging, hätte er doch davon wissen müssen.
Liebe ehemalige Jahrgangskamerad(inn)en,
in diesen Tagen ist mir beim Aufräumen unsere Abiturzeitung in die Hände gefallen. Dabei habe ich entdeckt, dass seit unserem Abi zwanzig Jahre vergangen sind.
Ich habe mich gefragt, ob das nicht ein Anlass zu einem Wiedersehen ist. So habe ich die Organisation in die Hand genommen undbitte Euch nun um eine verbindliche Zusage. Wir treffen uns imHotelAlte Liebe. Ich lege einen Prospekt bei, damit Ihr seht, wie schön es dort geworden ist. Familie Börnsen hat ordentlich investiert. Die Preisliste gilt nicht für uns. Wir zahlen nur die Hälfte.
Chef und Chefin des Hotels werden Euch bekannt vorkommen! Bittesetzt Euch aber nicht selbst mit ihnen in Verbindung. Sie haben viel zu tun, und zu den Bedingungen für den günstigen Preis gehört, dass ich die Buchungen für alle übernehme. Wer im Hotel übernachten möchte, kann am Freitag anreisen, Sonntag ist für die Abreise vorgesehen. Alles Weitere erfahrt Ihr von mir im Hotel.
Bitte gebt mir per E-Mail Bescheid, ob Ihr kommt. Das Haus verspricht erstklassige Menüs, und wir ...
Kopfschüttelnd betrachtete Hansen das Schriftstück. Er drehte das Blatt um. Wer mochte hinter dieser mysteriösen Einladung stecken?
... werden ein unvergessliches Wochenende in Cuxhaven verleben. Bis dahin herzliche Grüße!
Die Adresse fand er unter der Unterschrift. Plötzlich schien sein Herzschlag auszusetzen. Der Namenszug verschwamm vor seinen Augen. Hansen musste sich setzen.
Schwer atmend starrte er auf das Blatt. Es gab keinen Zweifel.
»Musste das sein?« Marie Janssen rückte das Frühstücksgeschirr aufdem kleinen Tisch ihrer Küche zurecht und deutete auf die Lokalseite der Cuxhavener Nachrichten. »Wir ermitteln noch. Und eureSpekulationen sind dabei nicht besonders hilfreich.« Sie nahm die Kanne aus der Kaffeemaschine und schenkte ein.
Felix Dorn hob entschuldigend die Hände. »Zu viele Leute haben die Leiche gesehen. Die Nachricht von dem Fund hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Ein Toter im Watt – das interessiert die Menschen. Einheimische genauso wie Touristen. Das können wir nicht einfach unterschlagen.«
»Das erwarte ich auch nicht. Aber muss es denn so reißerisch aufgemacht sein? Eine kurze, sachliche Meldung hätte doch genügt.«
Dorn griff nach der Kaffeetasse und schüttelte den Kopf. »Seit dem Doppelmord auf dem Campingplatz in Sahlenburg sind dieLeute verschreckt, wenn sie erfahren, dass schon wieder ein Totergefunden wurde. Ein Toter im Watt, überleg doch mal. Dahin gehen jeden Tag Tausende Touristen. Die wollen wissen, was genau da geschehen ist.« Er nahm einen Schluck, stellte die Tasse ab und griff nach einem Croissant.
Marie schob die Butter näher an seinen Teller. »Das wissen wir ja selbst noch nicht. Fest steht nur die Todesursache.«
»Gibt es keine Obduktion?« Felix strich etwas Butter auf sein Croissant und schob ein Stück in den Mund.
»Natürlich. Sie hat sogar schon stattgefunden. Wir müssen ja abklären, ob Fremdeinwirkung ausgeschlossen werden kann.«
»Und?«
Unwillig schüttelte Marie den Kopf.
»Habt ihr noch kein Ergebnis? Oder willst du nicht darüber sprechen?«
»Felix, du weißt doch, dass ich dir nichts darüber sagen darf. Ich komme in Teufels Küche, wenn Ermittlungsergebnisse bei euch in der Zeitung ... Konrad weiß, dass wir zusammen sind. Und die anderen Kollegen wissen es auch.«
»Von mir erfährt keiner was. Und ich habe noch nie von dem Gebrauch gemacht, was du mir erzählt hast.«
»Ich weiß«, gab Marie zögernd zu. »Trotzdem habe ich kein gutesGefühl, wenn ich mit dir über unsere Fälle spreche.«
»Dann verrat’ mir nur eins: Ermittelt ihr weiter?« Er grinste. »Das würde ich auch von eurer Pressestelle erfahren. Zum Beispiel, wenn dein Kollege sagt, er könne noch nichts sagen, weildie Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind. Zumindest weißich dann, dass noch irgendwas im Busche ist. Und kann weiterrecherchieren.«
»Du bist unverbesserlich, Felix. Immer willst du alles ganz genau wissen.« Marie träufelte Honig auf ihr Brötchen. Sie lächelte ihn verschmitzt an.
»Du hast mich durchschaut, Frau Kommissarin.« Dorn mimte Zerknirschung. »Immer diese verdammte Neugier. Warum muss ich den Dingen immer auf den Grund gehen? Ich sollte mir ein Beispiel an meiner Freundin nehmen. Die ist da ganz anders. Interessiert sich nicht einmal für unnatürliche Todesfälle.«
Marie drohte, ihr Honigbrötchen nach ihm zu werfen. Felix ging vorsichtshalber hinter der Kaffeekanne in Deckung.
»Also gut. Du hast gewonnen.« Marie schob ihr Brötchen in den Mund, biss ab und antwortete kauend: »Die Rechtsmediziner sind auf einen Verdacht gestoßen. Kann sein, dass der Mann nicht aus eigenem Verschulden zur Wasserleiche geworden ist.«
»Mord?« Felix Dorn war elektrisiert.
Seit sie den toten Mann im Watt entdeckt hatten, ging TammoEilers die Frage nicht aus dem Kopf, warum er die Leiche nicht als Erster gesehen hatte.
Er kannte das Watt wie kaum ein Zweiter, registrierte jede Veränderung, jede Verlagerung eines Priels, jede neue Vertiefung, der sie ausweichen mussten. Wenn Pricken fehlten oder geknickt waren, sprang ihm das ungewohnte Bild sofort ins Auge. Und doch hatte ein kleines Mädchen den seltsamen Gegenstand im Watt vor ihm gesehen. Das hätte nicht passieren dürfen. Wahrscheinlich war er unaufmerksam gewesen, weil er sich auf seine Rolle als Geschichtenerzähler konzentriert hatte.
Schon als er den Wattwagen über den Deich lenkte, wanderte andiesem Morgen sein Blick voraus. Er kniff die Lider zusammenundsuchte den Horizont ab, versuchte nicht nur, den Weg entlangderPricken im Auge zu behalten, sondern auch die Umgebung auf Veränderungen zu prüfen. Natürlich war es völlig ausgeschlossen, heute schon wieder auf einen Toten zu treffen. Wahrscheinlich würde er für den Rest seines Daseins nicht noch einmal in diese Situation kommen.
An diesem Morgen lag ein leichter Dunstschleier über dem Watt. Der Blick reichte nur knapp einen Kilometer weit, die Insel Neuwerk hielt sich noch vollständig verborgen. Das würde sich bald ändern. Tammo Eilers hatte im Gefühl, dass der Wind den Frühnebel verscheuchen würde; darin stimmte er mit dem Wetterbericht für das Elbe-Weser-Dreieck überein.
Als sie sich dem Deutschen Eck näherten, kam die erste der drei Rettungsbaken auf diesem Abschnitt in Sicht. Bake 5. Kurz darauf zeichnete sich undeutlich im Grau des Morgennebels die 6 ab. Eilers stutzte und zog unwillkürlich die Zügel an. Hastig tastete er nach dem Fernglas, ohne den Blick von der Rettungsbake zu wenden.
»Wat förn Schiet«, murmelte er ahnungsvoll und trieb die Pferdewieder an. »Mit den Dings stimmt wat nich.«
Der Mann hing wie ein nasser Sack an der Leiter der Rettungsbake.Seine blutig-bläuliche rechte Hand war mit einer Handschelle an einer Sprosse der Aufstiegsleiter befestigt. Aus Unterarm undHandgelenk schimmerten blanke Knochen hervor. Der Körper hingmit geknickten Beinen und hängendem Kopf an dem malträtiertenArm und schien sich jeden Augenblick von seiner Aufhängung lösen zu wollen. Mit hervortretenden Augen starrte derTote auf die Stelle, an der seine Füße hätten sein sollen. Als würdeer sie vermissen. Tatsächlich waren sie im Sand verschwunden, so dass es aussah, als wären sie abgeschnitten, und die Unterschenkel steckten direkt im Wattboden. In den Haaren des Totenhatte sich Seetang verfangen, am Hals klebten glibberige Teileeiner Qualle.
»Der sieht ja noch scheußlicher aus als der andere«, murmelte Konrad Röverkamp und umrundete die Rettungsbake.
»Mord oder Selbstmord?«, fragte er, als er zu Marie Janssen zurückkehrte, die voller Entsetzen auf die Leiche starrte.
Sie hob die Schultern. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand fähig ist, sich selbst in eine solche Lage zu bringen. Ermüsste, nachdem er sich angeschlossen hat, den Schlüssel wegwerfen, damit er sich nicht im letzten Moment befreien kann. Und dann ziemlich lange auf die tödliche Flut warten. Auf das Wasser, das ihn ertränken soll. Das ist doch ...«
»Kannst du dir vorstellen, dass sich jemand so anketten lässt?«
Marie schüttelte den Kopf. »Freiwillig jedenfalls nicht. Und unfreiwillig erst recht nicht. Der Mann ist groß und kräftig und im besten Alter. Mindestens zwei starke Männer wären nötig, um das Opfer in diese Lage zu bringen.«
Hauptkommissar Röverkamp wandte sich an die uniformierten Polizisten, die den Fundort diesmal gleich großräumig abgesperrt hatten. »Gibt es Hinweise auf die Identität?«
Die Beamten hoben bedauernd die Schultern. »Nicht mal ‘neVisitenkarte«, erklärte einer, der schon am Vortag dabei gewesen war.
Röverkamp nickte. »Ich glaube, mit der Spurensicherung können wir hier nicht viel anfangen. Aber nach dem Schlüssel für die Handschellen müssen wir suchen. Falls er selbst ... besorgt bitte ein Metallsuchgerät. So ein Ding, mit dem manche Leute abendsdie Strände abgehen, um nach Münzen zu suchen. Wir suchen einen Schlüssel für Handschellen.«
Er wandte sich wieder Marie zu und deutete auf den Toten. »Machst du wieder eine Aufnahme? Vielleicht kommt ein vorzeigbares Bild dabei heraus, und wir brauchen nicht auf die Aufnahmen des Fotografen zu warten.«
Marie griff automatisch in die Tasche. Doch dann schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube, ich kann das nicht, Konrad.«
Der Hauptkommissar streckte die Hand aus. »Gib mir dein Handy. Macht bessere Fotos als meins.«
Er winkte einem der uniformierten Beamten und deutete erst auf den Kopf der Leiche und dann auf das Mobiltelefon. Der Mann verstand, stellte sich an die Rettungsbake, griff durch dieLeitersprossen ins Haar des Toten und richtete den Kopf auf.Röverkamp drückte auf den Auslöser. Dann kehrte er zu Marie zurück und drückte ihr das Handy in die Hand.
Marie starrte auf das Gerät und blieb stumm.
»Nun werden wir etwas anderes erledigen und noch einmal beim HotelAlte Liebenachfragen. Vielleicht war der andere doch dort Gast.«
Als Marie Janssen und der Hauptkommissar an der Duhner Strandstraße aus dem Amphi-Ranger kletterten, klingelte Röverkamps Handy. Das Display zeigte den Staatsanwalt als Anrufer an. »Krebsfänger«, stöhnte er. »Möchte wissen, woher der schon wieder Wind von der Sache hat.« Er nahm das Mobiltelefon und meldete sich. Seine Hand zuckte zurück und vergrößerte den Abstand zum Ohr. Dabei wanderte sein Blick zum Himmel.
Marie grinste und lauschte ungeniert dem Gespräch. Die Stimme aus dem winzigen Lautsprecher war zwar zu hören, aber nicht zu verstehen.
»... Darf ich fragen, aus welchem Anlass Sie ... Selbstverständlich gehen wir rücksichtsvoll vor ... Ja, auch diskret. Wir haben noch keinen Kontakt zur Presse ... Herr Hansen wurde lediglich als Zeuge ... Das wird sich nicht vermeiden lassen. Wir müssen erfahren, ob der Tote Gast im Hotel war. Hansen hat selbst angeboten ... Natürlich mit der gebotenen Zurückhaltung. Aber es gibt inzwischen einen weiteren Toten. Und wenn ... Ja. Ein zweiter. Ebenfalls im Watt ... Selbstverständlich informieren wir Sie umgehend. Auf Wiederhören, Herr ...« Röverkamp steckte das Handyein. »Aufgelegt.«
»Und was wollte er? Anscheinend ging es gar nicht um den da.« Marie deutete zum Watt.
»Nein. Davon wusste er doch noch nichts. Es ging um Hansen.Und um Fingerspitzengefühl. Rücksicht auf die Position des Stadtrats. Diskretion gegenüber einem bedeutenden Geschäftsmann und Zurückhaltung gegenüber einer angesehenen Familie. Das Einfühlungsprogramm für den kleinen Kriminalisten.«
»Gut, dass er uns daran erinnert.« Marie öffnete die Tür des Dienstwagens. »Wer weiß, wie wir sonst mit dem Zeugen umspringen würden.«
»Du sagst es.« Röverkamp ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Fahr du! Ich rufe im Hotel an. Damit es nicht heißt, wir hätten den armen Mann überfallen.«
Während der Hauptkommissar telefonisch ihren Besuch imHotel ankündigte, starrte Marie durch die Windschutzscheibe auf ein Plakat, das für umsichtiges Verhalten bei Wattwanderungen warb und über die Wattrettung informierte. Im Hintergrund war eine der Rettungsbaken abgebildet. Sie vergaß, den Motor anzulassen.
In ihrem Kopf drängte sich das Bild der Bake mit dem angeketteten Toten in den Vordergrund. Ihr Magen begann zu rumoren.
»Ich muss noch mal an die frische Luft«, stieß sie hervor und verließ den Wagen. Sie rannte zur Deichkrone, stellte sich in den Wind und atmete tief durch. Während sie auf das Meer hinausschaute und die Spaziergänger einen Bogen um sie machten, ohne sie wirklich zu beachten, ebbte die Welle der Übelkeit ab.
»Alles in Ordnung?« Konrad Röverkamp hatte das Gespräch beendet, war ausgestiegen und ihr gefolgt. Er legte seinen Arm um ihre Schultern. »Das ist normal. Es geht vorbei. Wenn es wiederkommt, musst du darüber reden. Mit Felix. Mit mir, wenn du willst. Mit wem auch immer. Wichtig ist, dass du mit jemandem sprichst. Okay?«
Marie nickte stumm und lehnte sich an Röverkamps Schulter. Die Nähe des Kollegen tat ihr gut. Am liebsten hätte sie ihr Gesicht an seiner Brust vergraben und geweint. Wie als Kind beiihrem Vater. »Es geht schon«, murmelte sie.
Röverkamp drückte sie an sich und strich vorsichtig mit der Handüber ihr Haar. Drei Frauen mit kleinen Kindern blieben stehen und starrten sie böse an. »Komm, lass uns gehen!« Röverkamp führte sie zum Wagen zurück.
Samstag, 11. Juli 1987, 17:00 Uhr
Auf einem schmalen, asphaltierten Waldweg, abseits der großen Verkehrsadern, umrundeten die Fahrzeuge der kleinen KolonneSchlaglöcher und Frostaufbrüche. Hin und wieder wich ein Fahreraufspringenden Hasen aus oder trat erschreckt auf die Bremse, wenn ein Reh über die Fahrbahn wechselte. In den voll besetzten Klein- und Mittelklassewagen überwiegend älterer Baujahre herrschte Hochstimmung. Erwartungsfroh und ausgelassen überboten sich die jungen Leute in Phantasien über das vor ihnen liegende neue Leben. Einige würden ins Ausland gehen, die meisten würden studieren und malten sich das freie Leben in München oder Hamburg, Berlin oder Frankfurt in den schönsten Farben aus. Nur wenige würden in Cuxhaven bleiben. Suse vielleicht, um im Hotel ihrer Eltern eine Ausbildung zu beginnen. Und Chris würde in die Firma seines Vaters einsteigen. Aber vorher wolltensie feiern. Und nicht zu knapp. Es gab schließlich allen Grund dazu,seit man das Abi in der Tasche hatte.
Den Schluss der Kolonne bildete ein nagelneuer, feuerrot glänzender Porsche. Mühsam hielt der Sportwagen Anschluss, denn die Unebenheiten des Weges machten ihm mehr zu schaffen als den vor ihm schaukelnden vollbesetzten Klein- und Mittelklassewagen. Aus den Autoradios dröhnte der Hit des Sommers 1987.Madonna -La Isla Bonita. Lautstark begleitet aus Kehlen, derenBesitzer bei anderen Gelegenheiten behauptet hätten, Madonna zu verachten und auf AC/DC oder aber Phil Collins zu stehen.
Der Porschefahrer fluchte, während er sich auf dem halsbrecherischen Straßenbelag voranquälte. Als die Asphaltbahn in einenSandweg überging, schlug er ungeduldig auf das Lenkrad. »Wenndas man stimmt«, knurrte er, »wer weiß, ob die verdammte Hüttehier überhaupt zu finden ist. Warum müssen wir eigentlich nachBederkesa an diesen See fahren? Wir hätten doch bei euch im Hotel feiern können. Bestimmt besser als in einer Jagdhütte. Hoffentlich ist da überhaupt genug Platz.«
Seine blonde Begleiterin hatte die Sonnenblende heruntergeklappt, um sich die Lippen nachzuziehen. Doch das Gesicht in dem kleinen Spiegel tanzte derart hin und her, dass sie seufzend aufgab. Sie ließ den Lippenstift in ein Krokoledertäschchen fallen und lehnte sich zurück. »Anja weiß, was sie tut«, verkündete sie mit einem Seitenblick auf den Fahrer. »In der Alten Liebe wären wir total unter Aufsicht gewesen. Hier sind wir unter uns. Außerdem kennt uns keiner. Anja, Katrin und Olli waren schon malda und haben sich alles angesehen. Es gibt Strom und Wasser und allen Komfort in der Hütte. Eine Küche mit Koch und sogar Angestellte für den Service.«
»Die Lesben? Mit Olli?« Der Fahrer schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, um zu einer Bemerkung anzusetzen. Doch plötzliche Helligkeit blendete das Paar im Porsche. Vor ihnen öffnete sich ein malerisches Seepanorama. Auf der Wasseroberfläche spiegelten sich der blaue Himmel und weiße Wolken. Begeistert klatschte die Blondine in die Hände. »Geil! Das muss es sein!« Siedeutete auf ein Holzhaus, das sich nur wenige Meter vom Seeufer entfernt unter die Bäume duckte. »Sieh mal, ein richtiges Haus.«
Im blauen Wasser des schilfgerahmten Sees glühte das Spiegelbild der Sonne. Ihr Licht schlug tausendfach Schneisen in den Blätterwald. Über dem See kreiste ein Kormoran, im Wasser zog ein Schwan sanfte Wellen hinter sich her, dicht oberhalb der Baumwipfel flog eine Formation Wildgänse davon, als wolle sieden Neuankömmlingen entfliehen. Unter den Zweigen einerKastanie, neben den anderen Wagen, fand der Porsche Schatten. Mit dem ersterbenden Motorenton drangen die Geräusche der Natur an die Ohren der Ankömmlinge. Die Luft schien zu schwirren: Insekten summten, Grillen zirpten, Wildgänse riefen, und zahllose andere Vogelarten gaben ihren Beitrag zum Konzert. »Ist das geil hier«, seufzte die blonde Frau, als sie sich aus dem niedrigen Sportwagen wand und ihren allzu engen Rock ein wenig tiefer zupfte.
Ihr Begleiter brummte etwas, das wie Zustimmung klang, ohne ihr einen Blick zu gönnen. Seine Augen klebten an der Szene vorder Hütte, genauer: an der jungen Frau in Jeans und blauer Bluse,die gerade ihre Freundin umarmte. Katrin. Sie würde unerreichbar für ihn bleiben, sie war Anjas Freundin. Er griff die Reisetasche vom Rücksitz, ließ die Tür ins Schloss fallen und strebte dem Eingang zu, ohne sich um seine Mitfahrerin zu kümmern, die auf ihren Pumps mühsam folgte.
Kurz darauf drängten sich die Gäste auf der Terrasse. Mit beifälligen Gesten und Kommentaren nahmen sie die Worte des Verwalters auf, der ihnen erklärte, dass das gesamte Haus heute für die Gruppe reserviert sei. »Damit andere Gäste Sie nicht stören«, lieferte er als Begründung.
»Ist wohl eher umgekehrt gemeint«, murmelte der Porschefahrer. Was ihm einen Ellenbogenstoß seiner Mitfahrerin eintrug.
Katrin und Olli erschienen mit Tabletts. In beschlagenen Gläsern perlte Champagner. Angesichts der stilvollen Begrüßung brandete Beifall auf. Anja hob ihr Glas und wandte sich an die Gruppe: »Wie ihr wisst, haben Katrin, Olli und ich die Organisation unserer Feier übernommen. Wir hoffen, dass es euch allenhier gefällt und dass der Abend ein voller Erfolg wird. Einigehaben ein paar Beiträge zur Unterhaltung vorbereitet, und dieKüche des Hauses wird uns mit einem ausgezeichneten Menüverwöhnen. Wir treffen uns um acht Uhr im Speisesaal. Es ist also noch Zeit für einen Sprung ins Wasser.«
»Oder ins Bett«, rief der Porschefahrer und erntete anzügliches Gelächter.
»Auch richtig«, reagierte Anja, »wer’s nötig hat, sollte noch ‘ne Runde schlafen.« Diesmal gehörten die Lacher ihr.