6

Christopher Hansen wirkte nervös. »Kommen Sie bitte mit inmein Büro.« Er schien es eilig zu haben, die Besucher aus derHotelhalle zu bringen. Marie fragte sich, ob man ihr und ihrem Kollegen ansah, dass sie keine Kurgäste, sondern Kriminalbe­amte waren, die im Hotel ermittelten.

Noch während sie sich auf den Besucherstühlen niederließen, nahm Hansen ein vorbereitetes Schriftstück von seinem Schreibtisch und hielt es Röverkamp hin. »Das ist der Ausdruck der Buchungsdaten. Alexander Cohrs heißt der Mann. Kommt aus München. Hat am Freitag eingecheckt. Wollte bis Montag bleiben.«

Der Hauptkommissar überflog das Blatt. »Woher wissen Sie, dass es sich um diesen Gast handelt. Sie kannten ihn doch nicht. Oder?«

»Das Zimmer ... das Bett ... wurde nicht benutzt. Keiner von meinen Leuten hat ihn seit dem Einchecken gesehen. Ich nehme also an ... Hundertprozentig weiß ich es natürlich nicht.«

Röverkamp erhob sich. »Das Zimmer würden wir uns gerne ansehen.«

Hansen zögerte.

»Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind«, ergänzte Marie Janssen. »Aber vielleicht ersparen wir uns damit das große Aufgebot. Erkennungsdienst, Spurensicherung ... Sie wissen schon. Die Kollegen mit den weißen Anzügen.«

»Selbstverständlich.« Hansen eilte zur Tür. »Wenn Sie mir bittefolgen wollen.«

»Einen Moment noch.« Röverkamp gab Marie ein Zeichen.

Sie klappte ihr Handy auf und drückte eine Taste. »Ist dieser Mann ebenfalls Gast in Ihrem Hotel?«

Betroffen starrte Hansen auf das Display. »Ist der auch ...?«

Marie nickte. »Wurde heute Morgen im Watt gefunden. Tot.«

»Dann gehören die vielleicht zusammen«, vermutete Hansen. »Sind im Watt unterwegs gewesen und haben den Rückweg nicht rechtzeitig angetreten. Oder sie sind mit einem Boot ...«

»Das können wir ausschließen«, erklärte Röverkamp. »Aber würden Sie bitte die Frage meiner Kollegin beantworten?«

»Frage? Ach so. Ja. Nein. Ich weiß es nicht. Ich müsste erst jemanden beauftragen ...«

»Das wäre sehr freundlich, Herr Hansen.« Maries Stimme klang einschmeichelnd. »Sie würden uns damit sehr helfen.«

»Sie selbst kennen ihn also nicht?«, vergewisserte sich der Hauptkommissar.

Hansen hob die Schultern. »Nicht dass ich wüsste. Die Aufnahme ist ja etwas ... entstellt.«

Röverkamp nickte. »Wir bekommen sicher noch bessere Fotos. Aber nun würden wir gern das Zimmer sehen.«

»Selbstverständlich.« Der Hotelier öffnete die Tür. »Bitte nach Ihnen.«

Sandra trat rasch einen Schritt zurück, als sich die Tür des Chefbüros bewegte, und drückte sich in eine Nische. Hansen erklärte seinen Besuchern, dass sie den Fahrstuhl zur vierten Etage nehmen konnten. Sie ahnte nun, in welches Zimmer er sie führen würde. Sie wartete nur noch einige Sekunden und nahm dann die Treppe nach oben.

Vorsichtshalber rüstete sie sich mit Handtüchern aus, bevor sie den Gang betrat, auf dem das Zimmer 42 lag. Vor der Tür blieb sie stehen und lauschte. Gedämpfte Stimmen drangen an ihr Ohr, doch zu verstehen waren sie nicht. Dennoch verließ sie den Flur im Hochgefühl des Erfolgs. Die Besucher mussten Kriminal­beamte sein. Und wenn sie nicht ganz blöd waren, würden sie auf die richtigen Verdachtsmomente stoßen.

Das Zimmer des verstorbenen Gasts wirkte aufgeräumt. Bis aufeine Reisetasche und einen Aktenkoffer stand oder lag nichts herum.

Marie Janssen öffnete den Schrank, während HauptkommissarRöverkamp den Aktenkoffer untersuchte. Er blätterte einen Akten­ordner durch. »Offenbar war der Mann beruflich in Cuxhaven. Hier geht es um Materialprüfungen von Stahlproben. Scheint mit den Offshore-Windenergieanlagen zu tun zu haben. Wenn ich esrichtig verstehe, gibt es da Probleme bei der Festigkeit. Könnteeine kritische Angelegenheit sein.« Röverkamp sah Hansen an. »Nicht nur für die beteiligten Firmen.«

»Warum reist er dafür an einem Wochenende an?« Marie zog ein Notebook aus dem Schrank hervor. »Vielleicht finden wir hier drin die Antwort.«

Röverkamp klappte den Ordner zu. »Aktenkoffer und Computernehmen wir mit. Alles andere bleibt, wie es ist. Sie verschließen bitte das Zimmer und sorgen dafür, dass niemand es betritt.«

»Dürfen Sie das überhaupt?« Hansens Blick wanderte zwischen Notebook und Aktenkoffer hin und her. »Ich meine, Sie können doch die Sachen nicht einfach so ...«

»Wir werden einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss erwirken. Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Diese Unterlagen müssen wir sicherstellen, weil sie möglicherweise Hinweise auf ein Mordmotiv enthalten.«

»Mord?« Hansen schüttelte unwillig den Kopf. »Ich denke, der Mann ist ertrunken.«

»Das ist – medizinisch gesehen – die Todesursache.« Röverkamp musterte den Hotelier. »Es könnte aber sein, dass jemand nachgeholfen hat. Zumal es diesen zweiten Todesfall gegeben hat, bei dem wir von Fremdverschulden ausgehen müssen.«

Nachdem die Kriminalbeamten gegangen waren, zog Hansen sich in sein Büro zurück und öffnete die Flasche mit dem Cognac, den er für besondere Besucher bereithielt. Er schenkte sich ein Glas großzügig ein und stürzte die goldbraune Flüssigkeit hinunter. Wenn er den Toten auf dem kleinen Handy-Foto richtigerkannt und dieser Mann sich auch in seinem Hotel einquartiert hatte, befand Hansen sich inmitten eines ebenso unheimlichen wie rätselhaften Geschehens. Ob Rien auch mit einer falschen Einladung nach Cuxhaven gelockt worden war? Spielte hier jemand ein böses Spiel? Von Rien hatte er seit dem Ende der Schulzeit nichts mehr gehört. Er gehörte, wie Cohrs, wahrscheinlich zu den wenigen, die nichts von Katrins Tod mitbekommen hatten. Es wäre also leicht möglich, ihn mit einem Brief in die Heimatstadt zu locken, der ihren Absender und ihre Unterschrift trug.

Aber wer konnte hinter einer solchen rätselhaften Aktion ste­cken? War derjenige der Mörder von Alexander und Oliver?Hansen nahm einen zweiten Cognac. Er brauchte Gewissheit. Musste herausfinden, ob Rien auch im Hotel eingecheckt hatte.

Er schaltete den Computer ein, um die Buchungsdaten abzurufen.

Seine Frau sah ihm an, dass etwas nicht stimmte. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie und musterte ihn kritisch, als er die Wohnung betrat. »Du bist blass. Und du riechst nach Alkohol. Um diese Zeit!«

»Die Bullen waren wieder da«, stieß er hervor und ließ sich ineinen Sessel fallen. »Es hat noch einen Toten gegeben. Wieder einerunserer Gäste.«

Ungläubig schüttelte Susanne Hansen den Kopf. »Wenn das stimmt, haben wir ein Problem. Hoffentlich sind nicht noch mehr unserer Gäste in Gefahr.«

»Das ist unwahrscheinlich«, entfuhr es Hansen.

»Hast du es für wahrscheinlich gehalten, dass zwei unserer Gäste an zwei aufeinanderfolgenden Tagen ums Leben kommen? Warumsollte es keinen dritten Todesfall geben? Odergibt es etwas, das ich wissen sollte?«

Hansen gab einen unwilligen Laut von sich und presste die Lippen aufeinander.

»Sieh mich an, Christopher! Weißt du mehr als ich?«

Hansen stöhnte. »Wir kennen die beiden Toten. Von früher. Oliver Rien und Alexander Cohrs.«

»Olli und Alex? Aus unserem Schuljahrgang?« Susanne schlugdie Hand vor den Mund. »Das kann doch kein Zufall sein! Warumsind die hier? Was wollen sie ... wollten ... sie ... bei uns? Undwarumwussten wir nichts davon?«

»Das Beste kommt noch«, knurrte Hansen grimmig. »Jemand hat sie eingeladen. Zu einem angeblichen Jahrgangstreffen.«

»Jemand?«

»Katrin Peters.«

»Das kann nicht sein!« Susannes Stimme wurde schrill. »Katrin ist tot! Wieso lassen die sich von einer Toten einladen?«

»Sie leben doch schon lange nicht mehr hier, sie haben wahrscheinlich von ihrem Tod gar nichts mitbekommen«, antwortete Hansen. »Jedenfalls steht ihr Name auf der Einladung. Und sie hat sogar unterschrieben. Sieh dir das an!« Er zog ein gefaltetes Blatt aus der Innentasche seines Jacketts und hielt es hoch.

Seine Frau riss ihm das Papier aus der Hand und faltete es mit fliegenden Fingern auseinander. Ungläubig starrte sie auf den Schriftzug. »Das könnte ihre Handschrift sein.« Sie ließ das Blatt sinken. Es entglitt ihr, segelte zu Boden und landete vor Hansens Füßen.

Er nahm es auf. »Vielleicht ist sie gar nicht tot. Vielleicht war das eine Verwechslung. Es sind doch damals mehrere Frauen ... ermordet worden.«

»Verwechslung! Red’ keinen Unsinn! Du weißt, dass sie tot ist. Wenn selbst die Eltern ... Der Vater lebte ja schon nicht mehr. Aber die Mutter wird die Leiche ihrer Tochter erkannt haben. Und die Polizei lässt Untersuchungen durchführen. Blut, DNA, was weiß ich.« Susanne Hansen hob die Stimme. »Katrin Peters ist tot. Diesen Brief hat jemand anderes geschrieben. Wir müssen herausfinden, wer das war.« Sie zeigte auf die Einladung. »Woher hast du den Brief?«

»Aus dem Zimmer von Alexander Cohrs.«

»Weiß die Polizei davon?«

Hansen schüttelte stumm den Kopf.

»Dann müssen wir nachsehen, ob bei Rien auch so eine falsche Einladung zu finden ist. Bevor die Kripo wiederkommt. Welches Zimmer hat er?«

»Neunzehn«, murmelte Hansen. »Aber das geht jetzt nicht. Wenn uns jemand sieht ...«

»Lass mich das machen. Ich muss ohnehin den Zimmerservice kontrollieren. Bei der Gelegenheit sehe ich mich in der Neunzehn um.«

Ergeben hob Hansen die Hände. »Wenn du meinst ...«

»Allerdings meine ich«, erklärte Susanne bestimmt. Sie wirkte gefasst und entschlossen. »Wir, und damit das Hotel, dürfen da nicht mehr als nötig hineingezogen werden. Die Polizeibeamten müssen von dieser seltsamen Einladung nichts erfahren. Es ist besser, wenn sie die Zusammenhänge nicht kennen. Vielleicht finden sie den Mörder, vielleicht auch nicht. Vielleicht war es auch gar kein Mord. Vielleicht verlaufen die Ermittlungen im Sande.«

»Vielleicht, vielleicht, vielleicht.« Hansen hatte unterdrückte Wut in der Stimme. »Früher oder später werden sie herausbekom­men, dass wir uns kannten.«

»Von kennen kann überhaupt keine Rede sein«, widersprach Susanne. »Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Na und? Vor über zwanzig Jahren. Das ist alles. Seitdem hatten wir keinen Kontakt. Wir wussten ja nicht einmal, wo Cohrs und Rien leben ... gelebt haben. So ist es doch, oder? Und weil es so ist, wie es ist, kann die Polizei auch nichts anderes herausfinden.«

»Hoffentlich«, murmelte Hansen. Doch seine Frau verließ bereits das Zimmer.

»Der Hotelier hat uns belogen.« Marie Janssen deutete auf den Bildschirm des Notebooks, das ein Kollege aus der Kriminaltechnik zurückgebracht hatte. »Cohrs hat vor Kurzem offenbar einen Brief an Hansen geschrieben.« Sie überflog die Zeilen. »Und was für einen. Das musst du dir ansehen, Konrad! Er hat ihn als Datei abgespeichert.«

Röverkamp umrundete den Schreibtisch und kniff die Augenlider zusammen, um die Schrift auf dem kleinen Monitor besser entziffern zu können.

Hallo Christopher,

außer dir wissen nur zwei Menschen, was 1987 geschehen ist. All die Jahre haben wir das kleine Geheimnis bewahrt. Das soll auch so bleiben. Dein Ansehen sollte nicht in Gefahr geraten. Aber jetzt brauche ich Deine Hilfe. Du bist nicht nur ein angesehener, sondern auch ein einflussreicher Mann in Cuxhaven. Deine Stimme hat Gewicht und dürfte für ein bestimmtes Projekt sehr nützlich sein. Darum werde ich Dich demnächst aufsuchen und um einen kleinen Freundschaftsdienst bitten.

A. C.

»Sieh mal einer an! Der saubere Herr Hotelier, Stadtrat undPräsident. Trägt ein kleines Geheimnis mit sich herum.« Röverkamp gab sich keine Mühe, seine innere Befriedigung zu verstecken. »Hört sich nach Erpressung an. Wer so hoch steigt wie Hansen, hat viel zu verlieren.«

»Traust du ihm einen Mord zu?« Marie klang skeptisch.

Ihr Chef hob die Arme. »Nicht mehr und nicht weniger als jedemanderen. Leider wissen wir nicht, was hinter dieser Andeutung steckt. Aber wenn die Aufdeckung dieses kleinen Geheimnisses seine Existenz gefährden würde, hätten wir ein klassisches Mordmotiv.«

»Ich weiß nicht«, zweifelte Marie. »Hansen ist ein unangenehmer Mensch. Mein Vater würde sagen, er ist ein Arschloch. Aber er ist kein Mörder.«

Röverkamp lächelte. »Dann weißt du mehr als jeder andere. Mich eingeschlossen. Aber ob er ein Mörder ist, hat ohnehin ein Gericht zu entscheiden. Und bis dahin ist es noch ein langer Weg. Als Erstes sollten wir ihn mit diesem Schreiben konfrontieren. Und dann soll er uns auch gleich sagen, ob es im HotelAlte Liebenoch einen Gast gibt, der länger nicht gesehen wurde und sein Bett nicht benutzt hat. Ich habe das Gefühl, dass wir fündig werden.«

»Da könntest du Recht haben.« Marie schloss das Notebook an ihren Drucker an und drückte ein paar Tasten. Die Seite mit demkurzen Text erschien im Ausgabefach. Sie reichte das Blatt an Röverkamp weiter, klappte das Notebook zu und stand auf.»Gehen wir?«

Jetzt schickt er seine Frau vor, dachte Sandra, als sie Susanne Hansen in Zimmer 19 verschwinden sah. Sie packte Handtücher und Bettwäsche auf den Servicewagen und näherte sich der angelehnten Tür. Offenbar durchsuchte die Chefin den Schrank. Dann hörte sie, wie die Schublade des kleinen Schreibtischs geöffnet wurde. Heiß, dachte sie. Ganz heiß. Jetzt findest du, waseigentlich dein Alter finden sollte. Aber egal. Du wirst es ihm schon unter die Nase reiben.

Zufrieden schob sie den Wagen weiter bis zum nächsten Zimmer, um dort die Wäsche zu wechseln. Als sie hörte, dass dieTür der Neunzehn geschlossen wurde, warf sie einen Blick aufden Flur. Am Ende des Ganges verschwand die Chefin geradeim Treppen­haus. In der Hand hielt sie einen großen Briefumschlag.

»Kannst du mir erklären, was das bedeutet?« Susanne Hansen warf ihrem Mann den Umschlag entgegen. »Das lag in der Schreibtischschublade von Riens Zimmer.«

Achselzuckend schüttelte Hansen den Inhalt heraus und breitete ihn vor sich auf dem Tisch aus.

»Kopien von Zeitungsausschnitten«, stellte er fest. »Ich verstehe nicht ...«

»Artikel über Katrin Peters«, unterbrach ihn Susanne und deutete auf die Blätter. »Ihre Todesanzeige ist auch dabei.«

Hansen zog die ausgeschnittene Anzeige aus dem Stapel. »Daran kann ich mich noch erinnern. 13. August 1990. An dem Tag ist sie ... Das sind ja die Zeitungsartikel von damals. Berichte von der ... von ihrem Tod. Und von der Festnahme des Mörders. Sommer 2005. Und das hier. Artikel über den Prozess.Lebenslänglich für Frauenmörder. Ehemaliger Polizist geständig.Ja, das haben wir doch seinerzeit alle verfolgt.«

»Zwischen den Zeitungsartikeln ist auch noch was anderes.« Einunbekannter Ton in Susannes Stimme ließ Hansen zusammenzucken.

»Meinst du das hier?« Er hielt ein Blatt Papier hoch, die Kopie einer mit Hand beschriebenen Seite, die offenbar aus einem Schreibheft herausgerissen war.

»Allerdings.« Seine Frau deutete mit dem Zeigefinger auf das Blatt. »Lies!«

... geht es mir wieder besser. Das verdanke ich Anja. Sie hat mich zu einem Arzt gebracht und mir diesen Job besorgt. Wenigstens kann ich jetzt ein paar Stunden arbeiten und etwas zu unserem Lebensunterhalt beitragen. Gestern habe ich eine Gruppe Obdachloser gesehen, die eine Rotweinflasche kreisen ließ. Darunter eine junge Frau mit Kleinkind.

Mir ist ein eiskalter Schreck durch die Glieder gefahren, denn mir wurde klar, dass ich nicht weit davon entfernt war, mit meinem Kind in Parks und unter Brücken zu leben und zu schlafen. In der Nacht hatte ich schreckliche Albträume.

Anja will, dass ich C. an seine Pflichten erinnere. Aber das kann ich nicht. Ich bin nicht einmal in der Lage hinzufahren. Wenn ich daran denke, kommen die Erinnerungen hoch. Schon gar nicht will ich C. wiedersehen. Und ich müsste ihn ja ansprechen. Ihm sagen, dass er ein Kind hat. Von ihm Unterhalt verlangen. Natürlich nicht für mich. Aber das Kind hat ein Anrecht darauf, sagt Anja. Wenigstens auf die Grundlage für eine gute Ausbildung. Natürlich würde er alles abstreiten. Dann müsste ich zum Gericht. Wegen eines Vaterschaftstests. Ich weiß nicht, ob ich ...

Hansen drehte das Blatt. Die Rückseite war leer. »Und? Scheinteine Seite aus einem Tagebuch zu sein. Beziehungsweise die Kopiedavon.«

»Mehr fällt dir dazu nicht ein?« Susannes Stimme wurde eine Spur schärfer. »Wenn diese Tagebucheintragung von Katrinstammt, bedeutet das, sie hatte ein Kind. Ich kann mich nicht daranerinnern, dass irgendjemand das jemals erwähnt hat. Und sie war doch lesbisch, verstehst du das? Trotzdem muss sie in den Jahrenzwischen Abitur und ihrem Tod 1990 ein Kind auf die Welt gebrachthaben. In der Zeit wussten nicht einmal ihre Eltern, wo sie war.«

»Alte Geschichten.« Hansen winkte ab. »Wen interessiert das heute noch?«

»Mich interessiert vor allem eins«, fauchte Susanne. »Wer ist mit diesem C. gemeint?«

Mit einer abwehrenden Handbewegung erhob sich Hansen, ging zum Schrank und öffnete die Tür, hinter der die Getränke standen. Wortlos nahm er ein Glas und öffnete die Cognacflasche.

Plötzlich stand Susanne neben ihm und legte die Hand auf das Glas. »Ich will eine Antwort!«

Hansen hob die Schultern. »Damit kann nur Cohrs gemeint sein. Wir wissen aber nicht einmal, wer das geschrieben hat. Es könnte auch jemand anders gewesen sein. Zum Beispiel derjenige, der auch die falsche Einladung zum Jahrgangstreffen verfasst hat. Und wie es in Olivers Besitz geraten ist und warum er es hierhergeschleppt hat, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Das ist doch alles ... unerklärlich.« Er entzog ihr das Glas und goss sich ein. »Und jetzt nehme ich einen Cognac. Willst du auch einen?«

»So ignorant kannst noch nicht einmal du sein.« Susanne sprachjetzt sehr leise. »Wenn die Polizei diese Unterlagen gefunden hätte,würdest du einige Fragen beantworten müssen. Verstehst du denn nicht, in welche Lage du gerätst, wenn die rauskriegen, dass es zwischen Alex und Oliver und dir eine Verbindung gibt? Und dass diese Verbindung Katrin Peters heißt? Jeder halbwegs in­telligente Kriminalist würde auf die Idee kommen, diese Zusam­menhänge genauer zu untersuchen.«

»Du siehst Gespenster.« Hansen kippte den Cognac hinunter. »Erstens haben sie diese Unterlagen nicht. Zweitens ist Katrinschon lange tot. Der Mörder sitzt hinter Gittern. Und wenn siedamals wirklich ein Kind bekommen haben sollte, braucht uns das nicht zu interessieren. Wir kennen es nicht. Es kennt uns nicht.Ende.« Er deutete auf die ausgebreiteten Unterlagen. »Das da lassen wir verschwinden. Dann gibt es keine Fragen.«

»Ich fürchte, es wird doch Fragen geben.« Susanne Hansen ging zum Telefon. »Vorsichtshalber werde ich Vater informieren. Er weiß am besten, was zu tun ist. Außerdem kann er bei Roland Krebsfänger mehr erreichen als ich über Cornelia.«

Bevor sie eine Taste drücken konnte, klingelte das Telefon. Es war der Empfang. »Hier sind ein Herr ... Röverkamp und ... eine junge Dame, die den Chef sprechen möchten.«

»Begleiten Sie die Herrschaften zum Büro meines Mannes. Wir kommen dorthin.« Sie legte das Telefon ab und wandte sich an Hansen. »Es geht bereits los. Die Kriminalpolizei ist da. Geh schon mal vor. Ich kümmere mich um die Unterlagen und rufe Vater an.«

»Sie haben uns nicht die Wahrheit gesagt, Herr Hansen.« Der Hauptkommissar schob den Ausdruck über den Schreibtisch. »Diesen Brief haben wir im Computer des Toten gefunden. Offen­bar kannte er Sie recht gut. A. C. steht für Alexander Cohrs. Sagt Ihnen der Name etwas?«

Hansen nickte vage, zögerte mit der Antwort. »Ein ... ehemaliger ... Mitschüler. Ich habe ihn aber seit ... über zwanzig Jahren ... nicht gesehen. Deswegen konnte ich ihn auch nicht erkennen. Aber dieser Brief ... diesen Brief ... habe ich nie bekommen.«

»Worauf bezieht sichdas kleine Geheimnis?Was ist 1987geschehen?«

»Ich habe keine Ahnung. Wer immer diesen Brief geschrieben haben mag, hat sich einen Scherz erlaubt.«

»Nach einem Scherz sieht das aber nicht aus«, warf MarieJanssen ein. »Im Gegenteil, es scheint um eine ziemlich ernsteSache zu gehen. Fest steht, dass der Brief auf Cohrs’ Computergeschrieben wurde. Offenbar brauchte er dringend Ihre ... Unterstützung bei einem seiner Projekte.«

Hilfesuchend wanderte Hansens Blick zur Tür. »Wie gesagt, ich habe einen solchen Brief nicht bekommen.«

»Lassen wir das mal dahingestellt.« Hauptkommissar Röverkamp lehnte sich zurück. »Wo waren Sie in der Nacht zum Samstag und in der Nacht zum Sonntag?«

Hansen fuhr auf. »Was soll diese Frage? Verdächtigen Sie mich?«

»Wir müssen die Frage stellen. Sie gehört zu den berühmten Routinefragen. Also?«

»Ich war zu Hause. Meine Frau kann das bestätigen.«

Röverkamp nickte, als sei der Punkt zu seiner Zufriedenheit erledigt und wechselte das Thema.

»Wir haben herausgefunden, dass Herr Cohrs Inhaber einesInstituts für Materialprüfung und Werkstofftechnik war und ein großes Cuxhavener Unternehmen als Kunden gewinnen wollte. Offenbar hat er sich Ihrer Unterstützung versichern wollen. Aus dem vorhandenen Schriftverkehr geht hervor, dass man sich nicht hatte einigen können. Ein bisschen Druck von politischer Seitekann in einer solchen Situation bekanntlich Wunder wirken.Meinen Sie nicht auch?«

»Sie überschätzen meine Möglichkeiten. Alexander hat das offensichtlich auch falsch ...«

»Für den Versuch einer Erpressung wäre diese Fehleinschätzung kein Hindernis«, stellte der Hauptkommissar fest.

Bei dem WortErpressungzuckte Hansen kaum merklich zusam­men. »Aber ich habe diesen Brief nie bekommen. Deswegen hat es auch keinen Erpressungsversuch gegeben. Falls Sie glauben ...«

Röverkamp hob die Hand. »Es geht nicht darum, was wir glauben. Wir ermitteln in zwei Todesfällen und halten uns an die Fakten. Dazu gehört zweifelsfrei, dass Sie Alexander Cohrs kanntenund er Gast in Ihrem Hotel war. Und nun haben wir einen zweitenToten. Und auch dieser hat ein Zimmer in diesem Haus gebucht und ist Ihnen persönlich bekannt.«

»Woher wissen Sie ...?« Der Hotelier klang plötzlich kleinlaut.

»Wie heißt er?«

Hansen zögerte. Schließlich murmelte er den Namen. »Oliver Rien. Zimmer neunzehn.«

Marie Janssen notierte den Namen. »Und diesen Herrn Rien kannten Sie ebenfalls von früher?«

»Du sagst jetzt nichts mehr!« Susanne Hansen stand in der Tür und fixierte ihren Mann mit kaltem Blick. Dann trat sie in den Raum und wandte sich an die Kriminalbeamten. »Und Sie gehenjetzt bitte! Oder Sie müssen sich eine Weile gedulden. Bis meinVater hier ist. Mit Doktor Lindhorst. Unserem Anwalt.«

»Guten Tag, Frau Hansen.« Röverkamp erhob sich, um eine Begrüßung nachzuholen. »Glauben Sie, dass Ihr Mann einen Anwalt benötigt?«

Susanne Hansen antwortete nicht. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

»Wir würden uns jetzt gerne Zimmer neunzehn ansehen.« Mariewar ebenfalls aufgestanden und verstaute ihren Notizblock.

»Tun Sie das!« Die Frau des Hoteliers hatte sich gefangen. Sie lächelte sogar. »Dort werden Sie nichts finden. Jedenfalls nichts, was meinen Mann belasten könnte.«

»Ich zeige Ihnen das Zimmer.« Christopher Hansen kam hinter seinem Schreibtisch hervor und strebte zur Tür. »Kommen Sie!«

Samstag, 11. Juli 1987, 20:00 Uhr

Die jungen Leute trudelten nach und nach im Speiseraum ein,wo die Festtafel vorbereitet war. Durch die geöffneten Terrassentüren drangen das Quaken der Frösche und Gezwitscher der Vögelherein. Anja eröffnete die Tafelrunde: »Im Namen der Vorbereitungsgruppe wünsche ich uns allen viel Vergnügen. Aber bevor wir uns auf die Köstlichkeiten stürzen, möchte ich den Sponsoren des heutigen Abends danken, den Eltern von Susanne und Chris, denen wir diesen Abend verdanken. Suse und Chris, bitte grüßt eure Eltern von der gesamten Gruppe und sagt ihnen ein herz­liches Dankeschön. Zum Wohl.« In den Beifall der Abiturienten servierten zwei Mädchen den ersten Gang: Lachswürfel auf Blätterteig.

Die Menüfolge wurde durch kleine Darbietungen unterbrochen. Noch einmal wurden die Lehrerinnen und Lehrer durch den Kakao gezogen, noch einmal anwesende Mitschüler auf die Schippe genommen.

Zum Essen floss reichlich Alkohol, die Stimmung stieg und erreichte nach Mitternacht den Höhepunkt, als Suse zu RolandKaisers SchnulzeSanta Mariaeinen gekonnten Strip hinlegte. Anlass für einen erregten Wortwechsel zwischen Katrin und ihren Tischnachbarn. Doch die Mehrheit der Anwesenden ignorierte die Auseinandersetzung und übertönte sie mit Beifall und anfeuernden Zurufen für Suse. Außer Olli nahm niemand von Katrins wütendem Abgang Notiz. Er folgte ihr, als sie den Raum verließ und nach draußen eilte.

Unterdessen hatte Suse ihre Vorstellung beendet. »Und jetzt alle!«,schrie Chris in den abklingenden Beifall und wies auf den im Mondlicht glänzenden See. »Wir gehen baden!« Sofort stürmten einige junge Männer auf die Terrasse, warfen ihre Kleidung vonsich und stürzten ins Gewässer. Die Mädchen zögerten, einigekicherten verlegen, andere schüttelten den Kopf.

Doch dann rannte Suse splitternackt an allen vorbei und warf sich ins Wasser, wo sie von den planschenden Kameraden mit Gejohle begrüßt wurde. Spontaner Beifall vom unschlüssig zwischen Terrasse und Strand verharrenden Rest der Gruppe. Aber keiner tat es ihr nach. Da ließ Anja ihr Kleid von den Schultern gleiten, streifte die Schuhe ab und entledigte sich ihres Slips. Ohne Hast ging sie zum Strand hinunter. Dort prüfte sie mit einem Zeh die Wassertemperatur, dann tauchte sie langsam in die nicht zu kühle Flut. Die Jungen genossen den Anblick, keiner hatte zu hoffen gewagt, die lesbische Anja jemals nackt sehen zu können, viele hatten davon geträumt. Bei den Mädchen war der Bann nun gebrochen. Kaum eine Minute später tollte fast die gesamte Gruppe im seichten Wasser herum. Nur Olli und Katrin fehlten.

Ein lauter Ruf ließ alle die Köpfe wenden: »Seht mal, da sind sie!« Seitlich, halb vom Schilf verdeckt, schaukelte ein Ruderboot. Im fahlen Mondlicht waren die Silhouetten von Olli und Katrin zu erkennen.

Sofort kraulte eine Gruppe Jungen unter Chris’ Führung auf das Boot zu. Olli erkannte die Gefahr zu spät, versuchte, davonzu­rudern, aber die anderen waren schon am Boot. Sie begannen an der Bordwand zu ziehen, um es zum Kentern zu bringen. »Lasst den Blödsinn!«, rief Olli. Katrin schlug mit dem Ruder nach Chris, doch der entriss es ihr. Schließlich entwanden die Jungen Olli das zweite Paddel. Chris zog sich an dem Kahn hoch, packte Ollis Bein und zerrte mit aller Kraft daran. Olli schwankte in dem schaukelnden Boot, schließlich stürzte er über die Bordwand in den See. Sein Bein schrammte über den Bootsrand.

Chris und Alex begannen, von den Seiten ins Boot zu klettern. Mit einem Paddel wehrte Katrin sie ab. Fast gelang es ihr, die Jungen vom Boot fernzuhalten, doch dann schwangen sich plötzlich beide gleichzeitig über die Bordwand.

Feixend und johlend paddelten sie auf den See hinaus. Katrin schwankte zwischen Wut und Empörung. Kurz dachte sie daran, über Bord zu springen, um ans Ufer zu schwimmen. Aber weil sie vor Chris und Alex ihr Kleid nicht ausziehen wollte, zögerte sie zu lange. Dann war es zu spät. Der Weg bis zum Ufer erschien ihr zu weit für ihre Schwimmkünste. Sie ließ ihrem Ärger freien Lauf und beschimpfte die Jungen wegen ihres höchst albernen und unreifen Verhaltens. Was Chris und Alex mit Gelächter quittierten.

Unterdessen erreichte Olli mühsam das Ufer, wo er erschöpft niedersank. Nur schemenhaft waren das Boot und seine Insassen noch zu erkennen.

Aus der Ferne beobachteten die Übrigen, wie die Jungen eine Landzunge ansteuerten. Doch in der Dämmerung war nicht zu erkennen, ob sie sie erreichten. Einer nach dem anderen wandte sich ab. Nach und nach verließen die Gäste das Wasser, denn der See hatte seine Kühle bewahrt.

Olli verharrte an seinem Platz. Wie gebannt starrte er in die Dunkelheit in Richtung Landzunge. Was sollte er tun? Hoffentlich, dachte er, werden sie ihres dummen Spiels bald überdrüssigund kehren zurück. In seiner nassen Kleidung begann er zu frieren.Er sollte ins Haus gehen und sich umziehen. Und seine Wunde versorgen.

Doch etwas hielt ihn fest, kämpfte in seinem Inneren. Er wollte wissen, was auf der Landzunge geschah. Und gleichzeitig fürchtete er sich davor.