W orms platzte aus allen Nähten. So viele Menschen auf einmal hatte ich zuletzt einen Monat zuvor auf dem Schlachtfeld von Remich gesehen, doch damals hatten sie brüllend aufeinander eingeschlagen, und der Boden war von Toten und Verwundeten übersät gewesen. An diesem Tag aber standen gut zweitausend Leute friedlich beisammen und warteten auf den Kaiser.
Ich stand an einem der Fenster des Bischofspalastes und blickte auf den rechteckigen Platz hinab, der sich zwischen dem Palast, dem Dom und der königlichen Pfalz erstreckte, auf das bunte Meer von Mützen, Kappen, Hauben, Schleiern und unbedeckten Köpfen. Männer und Frauen standen zusammengedrängt wie eine Schafherde vor dem Spalier der Bewaffneten an der Treppe zum Eingang der Pfalz. Einige besonders vorwitzige Zuschauer waren auf die Baugerüste und sogar auf das offene Dachgebälk des Doms geklettert, der nach einem Blitzeinschlag vor zehn Jahren abgebrannt und inzwischen zumindest als Rohbau wiederhergestellt worden war.
Alle wollten sie den Mann sehen, der in diesem Augenblick im großen Saal der Pfalz die Huldigungseide der Herren des Ostfrankenreiches entgegennahm. Karl, Urenkel des großen gleichnamigen Kaisers, dem nach einer Reihe von Todesfällen ein riesiges Erbe zugefallen war: zuerst das bescheidene alemannische Teilreich, dann Italien und die Kaiserkrone und nun auch noch ganz Ostfranken, das zudem Bayern, Thüringen, Sachsen und Lotharingien einschloss. Damit reichte seine Herrschaft vom Apennin bis an die Nordseeküste, von der Elbe bis an die Maas und von der Donau bis an die Schelde. Entsprechend groß waren die Hoffnungen, die auf ihm ruhten.
Es war ein warmer Maitag. Die Luft war klar, und kleine vereinzelte Wolken hingen am Himmel. Die ganze Stadt hatte sich für den großen Tag herausgeputzt: Die Straßen waren von Mist und Abfällen gereinigt und sauber gefegt worden, die Fenster waren mit Mistelzweigen und Blumengirlanden geschmückt, und in den Wänden steckten Fackeln für das abendliche Fest.
Die Kämpfe und Verwüstungen der letzten Zeit hatten hier keine Spuren hinterlassen. Die dänischen Flotten, die seit einigen Jahren an den Küsten und zwischen den Oberläufen der großen Flüsse ganze Landstriche terrorisierten, waren nicht über Koblenz hinausgekommen, sodass die Gegend um Worms keinen Schaden genommen hatte. Nur die vielen in der Stadt und auf den Dörfern einquartierten Flüchtlinge zeugten davon, dass sie weiter im Norden immer noch wüteten. Unzählige Menschen waren heimatlos geworden und zogen durch das Land – auf der Suche nach einer Unterkunft und in der Hoffnung, eines Tages nach Hause zurückkehren und ihre abgebrannten Häuser wieder aufbauen zu können.
Obwohl Worms vorerst verschont worden war, wappnete man sich auch hier. Als ich am Tag zuvor angekommen war, um meinem Leben hier eine neue Wendung zu geben, hatte ich gesehen, wie die römische Stadtmauer instand gesetzt und die verschütteten und zugewucherten Gräben neu ausgehoben und freigeschaufelt wurden. Die Türme waren mit Bewaffneten besetzt, die Tore streng bewacht, als fürchtete man einen Überraschungsangriff. Nach der Schlacht von Remich hatten die Dänen sich zwar nach Asselt zurückgezogen, aber sie würden zurückkehren – es sei denn, es gelänge, sie auch von dort zu vertreiben. Genau das erwartete man jetzt vom neuen Herrscher. Der Krieg würde weitergehen.
Ich konnte ein Lied von diesem Krieg singen: Monatelang hatte ich mich mit den Dänen herumgeschlagen. Im Januar war ich ihnen beim Überfall auf das Kloster Prüm in letzter Minute entkommen, dann hatte Ivar Forstyrret, einer ihrer Anführer, meine Schwester Judith aus Aachen verschleppt. Ich hatte ihn und seine Leute bis zum Rhein verfolgt und die Mauern von Koblenz gegen sie verteidigt. Danach war ich ihrer Spur an der Mosel gefolgt und hatte mitansehen müssen, wie sie Trier in Brand gesteckt hatten. Ich war ihnen im Gefolge des Trierer Erzbischofs Bertolf nachgejagt, hatte Ivar kurz darauf in der Schlacht von Remich getötet und Judith befreit. Kurz und gut: Mein Bedarf an Zerstörung und Gewalt war gedeckt.
Doch ich wusste, dass es weitergehen würde. Die Dänen würden wiederkommen, und ich würde nicht abseitsstehen können. Ich war hier, weil ich vom Kaiser einen Gefallen zu erbitten hatte, und den würde er mir wohl nicht ohne Gegenleistung gewähren.
«Was machen die Dänen, wenn sie ein Loch im Schiffsrumpf haben?», fragte Lupus, der neben mir am Fenster stand. Diese Art von Witzen hatten die Verteidiger von Koblenz erfunden, nachdem sie den Angriff der Dänen zurückgeschlagen hatten. Lupus und ich hatten dort Freundschaft geschlossen. Später hatten wir Seite an Seite bei Remich gekämpft. Er war flink und gewandt und durch nichts aus der Fassung zu bringen.
«Sie bohren noch ein Loch, damit das Wasser ablaufen kann», sagte ich.
Lupus wandte mir sein schmales Katzengesicht zu. «Den kanntest du schon.» Er dachte kurz nach, dann fiel ihm der nächste ein: «Wie viele Dänen braucht man, um einen Schafbock zu kastrieren?»
Ich versuchte, mir eine Horde dänischer Krieger beim Bändigen eines Bocks vorzustellen, aber bevor das Bild Gestalt annehmen konnte, geriet die Menge unten auf dem Platz in Bewegung. Das Gemurmel schwoll zu einem lauten Stimmengewirr an; alle reckten die Hälse, Rufe erklangen, Finger zeigten in Richtung der Pfalz.
Eine Gruppe von Männern war aus dem Portal auf den Treppenabsatz getreten: ein halbes Dutzend Soldaten mit Helmen und Kettenhemden, wahrscheinlich Leibwächter, dazu zwei Männer im Bischofsornat, einer davon mit Pallium, und einige prachtvoll gekleidete Herren in rot und blau leuchtenden Gewändern. Alle bis auf die Bischöfe trugen Schwerter, deren Beschläge in der Sonne aufblitzten.
Einen von ihnen kannte ich: Graf Ratwin, der die Verteidigung von Koblenz geleitet hatte. Ich hatte schon vermutet, dass er nach Worms gekommen war, aber ich hatte ihn noch nicht getroffen. Seine Anwesenheit auf der Treppe zeigte, dass er zum engeren Kreis um den Kaiser gehörte. Für mein Anliegen war das von Vorteil, denn zwischen Ratwin und mir war in den Wochen, in denen wir in Koblenz auf den Angriff der Dänen gewartet hatten, ein freundschaftliches Verhältnis entstanden. Einen Fürsprecher wie ihn konnte ich gut gebrauchen. Ich wusste nicht, wie lange der Kaiser in Worms bleiben würde, aber ich musste es schaffen, zu ihm vorgelassen zu werden, bevor er mit seinem Gefolge weiterzog. Mein ganzes weiteres Leben hing davon ab, wie er mein Anliegen aufnahm.
Zunächst aber war es der Palliumträger, der sich Gehör verschaffte. Er war groß und massig und überragte die anderen Männer auch ohne die glitzernde Mitra, die wie die Spitze eines Kirchturms auf seinem Kopf thronte. Es konnte sich nur um Erzbischof Liutbert von Mainz handeln, Erzkanzler und Erzkaplan von König Ludwig, dem verstorbenen Bruder des Kaisers, der diesem die ostfränkische Krone hinterlassen hatte.
Liutbert hob beide Hände und rief der Menge etwas zu. Das Stimmengewirr verebbte; Mützen, Kappen und Hauben wurden abgenommen, Kinder auf den Boden gestellt, dann fielen die ersten Zuschauer auf die Knie. Das allgemeine Niederknien, Nackenbeugen und Händefalten pflanzte sich durch die Reihen fort, und nach wenigen Augenblicken verharrte der ganze Platz schweigend und demütig in Erwartung des kaiserlichen Auftritts.
Liutbert stimmte das Tedeum an, und die Menge fiel ein.
Das Rundbogenfenster, an dem wir standen, befand sich an einem Gang, der die ganze Breite der Fassade im oberen Stockwerk des Bischofspalastes einnahm. Rechts und links von uns lagen weitere Fenster, hinter denen sich Zuschauer drängelten, zumeist gut genährte Geistliche in blütenweißen Feiertagsgewändern, aber auch ein paar festlich gekleidete Gäste und sogar Bedienstete des Bischofs in Schürzen und Kitteln. Kaum schallte der Gesang vom Platz herauf, sanken auch rechts und links von uns alle auf die Knie. Lupus und ich folgten ihrem Beispiel, um nicht hochmütig oder verstockt zu wirken. Dummerweise waren die Fenster so weit oben in die Wand eingelassen, dass man kniend nicht mehr sehen konnte, was unten passierte.
Als der Jubel aufbrandete, erhoben wir uns wieder. Es war wie in der Messe.
Und da stand er, der Kaiser.
Sein Gesicht war aus der Entfernung nicht zu erkennen, aber seine Gestalt überstrahlte die Bischöfe und Grafen, die um ihn herum standen, auf kaiserliche Weise. Er trug einen Purpurmantel mit Pelzborte, Stiefel mit goldenen Sporen und ein Schwert, dessen Scheide vor Edelsteinen glitzerte. Auf dem Kopf hatte er nicht die übliche Bügelkrone, sondern einen goldenen Lorbeerkranz nach der Art römischer Imperatoren. Wahrscheinlich hatte er diesen Brauch in Italien kennengelernt und übernommen, um seinen Vorrang vor den westfränkischen Königen zu unterstreichen. Ich sollte bald erfahren, wer dem Kaiser derlei Ideen einflüsterte.
Karl badete eine Weile im Jubel der Menge, die immer wieder seinen Namen rief und ihm ein langes Leben und glorreiche Siege wünschte. Womit das Thema genannt war, das allen auf den Nägeln brannte.
Nachdem der Kaiser mit einer Handbewegung Ruhe geboten hatte, hob er zu einer Ansprache an. Er hatte eine schwache Stimme, sodass seine ersten Sätze nur bruchstückhaft bei mir ankamen. Immerhin verstand ich, dass Karl seine kaiserlichen Vorfahren beschwor, an ihre Taten und Verdienste erinnerte und auf den göttlichen Auftrag verwies, die Gläubigen aufzurichten, die Ungläubigen zu bekehren und die Feinde der Christenheit zu bekämpfen, die derzeit an den Küsten und auf den Flüssen ihr Unwesen trieben.
Im Verlauf seiner Rede gewann er an Sicherheit und auch an Stimmkraft. Er habe, so fuhr er fort, aus allen Ländern seines Reiches die tapfersten Männer zusammengerufen. Just in diesen Tagen sammle sich ein Heer, wie die Welt es noch nicht gesehen habe.
Bei diesen Worten zog er sein Schwert und reckte es in die Luft. «Franken, Alemannen, Lotharingier, Bayern, Sachsen, Thüringer und Langobarden!», rief er über den Platz. «Wir werden die Nordmänner jagen, wo immer sie sich blicken lassen! Wir werden sie aufstöbern und ausräuchern, wo immer sie sich verstecken! Wir werden diese Teufel mit Gottes Hilfe in die Hölle zurückjagen, aus der sie gekommen sind!»
Die Formulierung kam mir bekannt vor. Genauso hatte der Anführer eines Bauernhaufens in Prüm sich ausgedrückt, bevor er mit seinen Leuten von den Dänen abgeschlachtet worden war.
Doch natürlich wollte die Menge genau solche Worte hören, und der Jubel auf dem Platz war unbeschreiblich. Als der Lärm sich endlich gelegt hatte, stimmte Liutbert das Kyrie Eleison an, und wieder sanken alle auf die Knie und fielen ein.
Nachdem der Kaiser und seine Getreuen sich zurückgezogen hatten, begann die Menge, sich zu verlaufen. Ein großes Schwatzen und Flanieren setzte ein. Aus einem Nebeneingang der Pfalz wurden Fässer auf den Platz gerollt. Bedienstete stellten Tische und Bänke auf. Feuerschalen wurden herangeschleppt, Holz aufgestapelt, Fackeln in Halterungen gesteckt. Gaukler errichteten ein Podest. Musikanten bliesen probeweise in ihre Flöten. Es sollte ein Fest werden, an das man sich noch lange erinnern würde. Und sicherlich würden die Leute für eine Nacht vergessen, welche Sorgen sie plagten. Doch am Ende würde der Kaiser sich daran messen lassen müssen, ob es ihm gelang, die Dänen aus dem Land zu vertreiben oder nicht.
Ein paar Stunden später saß ich mit Lupus an einem der langen Tische und trank Bier, das überall aus großen Fässern ausgegeben wurde. Die Sonne war untergegangen, und der Platz wurde von einem halben Dutzend Feuern und Fackeln erhellt. Hunderte von Menschen hatten sich eingefunden, um die Huldigung und damit die Hoffnung auf bessere Zeiten zu feiern. Wenn es gelang, die Dänen zu vertreiben, würden vielleicht endlich wieder Frieden und Sicherheit einkehren.
Die Stimmung war so ausgelassen, dass ich die Befürchtungen über meine Zukunft zwischenzeitlich vergaß. Lupus unterhielt unsere Tischnachbarn mit Dänenwitzen und schielte immer wieder nach einem der Mädchen, die die Humpen nachfüllten. Aus den Rufen der Männer war zu erfahren, dass sie Agatha hieß. Sie war keine besonders auffällige Schönheit; mit ihren aschblonden Haaren und dem eher kräftigen Körperbau sah sie aus wie eine robuste Bauerntochter, aber sie strahlte eine reizende Unverfrorenheit aus, hatte ein loses Mundwerk und schäkerte viel herum. Lupus war wohl nicht der Einzige, der sich Hoffnungen machte.
Bier und Wein flossen in Strömen.
Wir saßen direkt neben dem Podest, das in der Mitte des Platzes aufgebaut worden war. Ein Akrobat jonglierte mit Fackeln und ließ Teller an Stangen kreisen, die er auf allen möglichen Körperteilen balancierte. Ein Zauberkünstler zog lebende Hasen aus den Falten seines Umhangs und ließ sie wieder darin verschwinden, dann breitete er den Umhang aus, zeigte ihn von allen Seiten, knüllte ihn zusammen und warf ihn in die Luft, woraufhin eine weiße Taube daraus hervorflatterte. Es folgte eine Sängerin, die ein Lied über die Sehnsucht nach dem in der Ferne weilenden Geliebten vortrug.
Lupus, der inzwischen ziemlich betrunken war, blickte mich mitleidig an. «Sie fehlt dir, mein Freund.»
«Ja», sagte ich, obwohl ich wenig Lust hatte, mich mit dem betrunkenen Lupus über meine Sehnsüchte zu unterhalten, Freund hin, Freund her. Und überhaupt: Welche Sehnsüchte denn? Ich hatte im Lauf der letzten Monate so viele Menschen verloren, wiedergefunden und erneut zurückgelassen, dass man fast den Überblick verlieren konnte. Natürlich meinte er Fidis, meine Vertraute und Geliebte, die früher die dunkelsten Stunden meines Lebens mit mir geteilt hatte, dann verschwunden war und schließlich vor einem Monat in Trier plötzlich wieder vor mir gestanden hatte. Nach Judiths Befreiung hatte ich die beiden nach Aachen gebracht, damit meine Schwester sich von den Strapazen der monatelangen Gefangenschaft erholen konnte. Dort warteten sie nun auf mich, und natürlich fehlten mir beide, jede auf ihre Weise. Mir fehlte auch Wolfhelm, mein Vertrauter aus Prüm, von dem ich noch nicht einmal wusste, ob er noch lebte. Mir fehlte Folchar, mein Lehrer aus Aachen, ohne den ich ein anderer Mensch geworden wäre. Und mir fehlte Gauzbert, mein Reisebegleiter aus Inda, der beim Angriff der Dänen auf Koblenz schwer verwundet worden war und den ich hatte zurücklassen müssen, weil Judiths Rettung keinen Aufschub geduldet hatte. Ja, Fidis war von all diesen Menschen derjenige, der mir am meisten fehlte. Aber wenn mein Anliegen beim Kaiser kein Gehör fand, dann war es fraglich, ob ich sie überhaupt jemals wiedersehen würde. Denn wenn man es genau nahm, war ich ein entflohener Häftling. Und es gab durchaus Leute, die es genau nahmen.
Wenn in diesem Augenblick nicht der Bärenführer auf den Plan getreten wäre, wäre ich, angetrunken, wie ich war, wahrscheinlich für den Rest der Nacht in Schwermut versunken.
Während Lupus also nach tröstenden Worten suchte und ich trübe vor mich hin starrte, ging ein Raunen durch die Menge. Die Leute gerieten in Bewegung, ich sah eine Mischung aus Furcht und Bewunderung in den Gesichtern, und eine Gasse öffnete sich, an deren Ende ein merkwürdiges Paar im Licht des Feuerscheins auftauchte: ein etwas irre dreinblickender, vollständig in Leder gekleideter Kerl mit fettig glänzender Halbglatze, der einen Bären am Nasenring mit sich führte. Das Tier watschelte täppisch neben ihm her und blickte dabei scheu nach rechts und links. Obwohl der Bär nicht angriffslustig wirkte, war seine schiere Größe beeindruckend. Ein paar Zuschauer sprangen von den Bänken auf, und als die beiden das Podest erreicht hatten, bildete sich ein großer Kreis um sie herum. Die Gespräche verstummten.
Der Bärenführer breitete die Arme aus und drehte sich einmal im Kreis. Der Bär brummte ein paarmal verwirrt und ließ sich auf alle viere fallen.
«Männer und Frauen von Worms!», rief der Bärenführer.
«Und von Speyer!», schrie einer dazwischen.
«Und von Mainz!», kam es aus einer anderen Ecke.
«Ist ja gut jetzt», murmelte jemand.
«Männer und Frauen von Worms, Speyer und Mainz», wiederholte der Bärenführer bereitwillig und hob den Zeigefinger. «Vor euch steht Bruno, das beißwütige Biest aus dem bayerischen Bergland, gefangen und gezähmt von mir, Balduin, dem beharrlichen Bestienbezwinger aus Bamberg!»
«In Bayern gibt’s überhaupt keine Bären!», rief jemand von weiter hinten.
«Natürlich gibt’s da welche», widersprach jemand anders.
Balduin ließ sich nicht beirren. «Bruno kann singen, rechnen und tanzen!», versicherte er und schüttelte die Kette, dass sie klirrte.
So ging es eine Weile hin und her. Balduin pries die Fähigkeiten seines Bären an, die Zuschauer riefen ihm launige Bemerkungen zu, der Bär tapste brummend auf dem Podest herum. Schließlich schritt der Bestienbezwinger zum Beweis der außergewöhnlichen Fähigkeiten seines Bären. Er pfiff ihm ein paar einfache Melodien vor, die Bruno mehr schlecht als recht brummend wiederholte, und stellte ihm einfache Rechenaufgaben, die durch Kopfnicken und Tatzenschlagen korrekt, aber schleppend gelöst wurden. Als es ans Tanzen ging, holte Balduin eine Flöte hervor und spielte eine einfache Melodie. Der Bär wiegte und drehte sich gemächlich wie ein betrunkener Bauer, ohne groß auf den Rhythmus des Liedes einzugehen.
«Kann er auch kämpfen, dein beißwütiger Bruno?», fragte einer, der ein paar Plätze weiter an unserem Tisch saß, ein breitschultriger Kerl mit Lederweste und Armen, die fast so dick waren wie meine Oberschenkel.
«Natürlich kann er das», sagte Balduin. «Er ist schnell wie Achilles und stark wie Herkules. Will jemand gegen ihn antreten?»
Bruno fletschte die Zähne. Der Kerl winkte ab. «Lass mal.»
«Drückeberger!», kam es aus der Menge.
«Mach’s doch selber!», rief der Breitschultrige.
Bevor ich ihn daran hindern konnte, stand Lupus plötzlich auf. «Ich mach’s!», rief er.
Ich hätte es ahnen können. Lupus war für jeden Spaß zu haben, kannte keine Angst und zeigte gern, was er konnte. Das Bier hatte ihn noch ein bisschen tatenlustiger, furchtloser und eitler werden lassen. Die Aussicht auf einen Bärenkampf vor großem Publikum kam ihm da gerade recht.
Applaus und Gejohle.
Balduin hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass sich tatsächlich ein Freiwilliger finden würde. Er blickte kurz irritiert in die Runde, als erwartete er, dass irgendjemand Lupus zurückhalten würde, was ich gern getan hätte, denn Lupus hatte sich offensichtlich nur aus betrunkenem Übermut gemeldet, um die Zuschauer zu beeindrucken und vor allem Agatha, die hinter ihrem Fass stand und ihn nicht aus den Augen ließ.
«Tu das nicht», zischte ich Lupus zu, aber es war zu spät. Alle Augen waren auf uns gerichtet. Weiter hinten standen sie schon auf den Bänken, um besser sehen zu können, welcher Wahnsinnige sich da gleich vom Bären zerfleischen lassen würde.
«Was kriege ich dafür?», fragte Lupus, mehr an die Umstehenden gerichtet als an Balduin.
Während der noch überlegte und der Bär brummend die Zähne zeigte, schrie der Breitschultrige: «Die Haut des Bären! Was sonst?»
«Genau!», rief ein anderer. «Wer den Bären besiegt, bekommt sein Fell! So gehört sich das!»
Balduin rang um eine Antwort, aber die Menge hatte ihr Stichwort. Die Männer schlugen die Humpen auf die Tische und skandierten: «Die Haut des Bären! Die Haut des Bären!»
«Einverstanden», knurrte Balduin. «Wie heißt du?»
«Lupus.»
«Soso, Lupus. Wolf gegen Bär. Aber ohne Schwert!»
«So ist’s recht!», schrie einer aus der Menge. «Mit bloßen Händen!»
Ohne ein weiteres Wort des Protests schnallte Lupus seinen Schwertgurt ab und legte die Waffe auf den Tisch. Seine Augen glitzerten im Fackelschein.
«Das ist doch Wahnsinn», murmelte ich. Doch anstatt weiter zu versuchen, Lupus zurückzuhalten, tastete ich nach meinem eigenen Schwertgriff, um nötigenfalls einzuschreiten.
Lupus ging unter großem Applaus zum Podest und nahm Aufstellung. Der Bär stellte sich auf die Hinterbeine. Ich war nicht sicher, ob er begriff, was hier vor sich ging, doch dann holte er unversehens aus und verpasste Lupus einen Schlag ins Gesicht, sodass dieser zurücktaumelte. Die Krallen hatten vier blutige Striemen auf seiner Wange hinterlassen, aber anstatt zu Boden zu gehen, fing Lupus sich sofort wieder und ging erneut in Stellung, geschmeidig und sprungbereit wie eine Raubkatze. Eine Weile umkreisten sie sich lauernd.
Die Zuschauer teilten sich nun in zwei Lager: Die einen feuerten Lupus an, die anderen den Bären.
Lupus, dessen nietenbeschlagener Lederpanzer im Feuerschein glitzerte, schlug nach dem Kopf des Bären, verfehlte ihn aber. Seine Unterstützer stöhnten auf. Der Bär hob die Tatzen und machte einen Schritt nach vorn, doch Lupus wich mit katzenhafter Schnelligkeit aus. Die Unterstützer des Bären stöhnten auf.
Der Bär setzte Lupus nach. Seine Bewegungen kamen mir gar nicht mehr bärenhaft und behäbig vor, sondern gezielt und geschmeidig. Wieder umkreisten sie sich. Die Anfeuerungsrufe ebbten ab. Die Spannung stieg.
Plötzlich machte der Bär einen Satz nach vorn, stürzte sich auf Lupus und riss ihn zu Boden. Ich schoss hoch und zog mein Schwert, doch Lupus wand sich unter dem Bären hervor und sprang sofort wieder auf die Füße. Auch der Bär richtete sich auf, doch ehe er zu einem weiteren Angriff ansetzen konnte, tat Lupus etwas vollständig Unerwartetes: Er holte mit dem rechten Fuß aus und trat seinem Gegner mit aller Kraft zwischen die Beine. Die Wirkung war überwältigend: Der Bär sackte zusammen, griff sich mit beiden Tatzen in den Schritt und knurrte ein gepresstes «Scheiße!».
Dann kippte er zur Seite und rollte fluchend auf dem Boden hin und her. Balduin fluchte auch, aber seine Worte gingen im Geschrei der Zuschauer unter.
Lupus ballte die Fäuste und wandte sich triumphierend zur Menge um. Der Bär griff sich mit beiden Tatzen an den Hals und riss sich selbst den Kopf ab. Die Kette fiel klirrend zu Boden. Was blieb, war ein mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht am Boden kniender Mann im Bärenpelz, dessen dicker Hals eine kraftvolle Statur verriet. Sein Schädel war vollständig rasiert, was ihn älter aussehen ließ, als er vermutlich war. Er tat mir ein bisschen leid.
Die Menge raste. Trotz der wenig ehrenhaften Kampftechnik waren fast alle auf der Seite von Lupus und forderten mit sichtbarem Vergnügen den Siegespreis für ihn ein: «Die Haut des Bären! Die Haut des Bären!» Es klang wie ein unerbittlicher und gleichzeitig belustigter Schlachtruf. Es war klar, dass sie Balduin nicht ziehen lassen würden, ohne dass er seine Zusage eingelöst hatte.
Der Glatzköpfige mühte sich stöhnend und schimpfend auf die Beine, riss sich die Tatzen von den Händen, schälte sich aus dem Fell und schleuderte alles auf den Boden. Dann verließ er das Podest und suchte das Weite. Balduin folgte ihm wie ein geprügelter Hund.
Unter begeisterten Zurufen raffte Lupus das Bärenkostüm zusammen und nahm wieder an unserem Tisch Platz, als wäre nichts geschehen. Agatha stellte ihm einen neuen Humpen hin und tätschelte ihm den Kopf.
«Tankred», sagte eine vertraute Stimme hinter mir. «Wie ich sehe, amüsiert ihr euch.»
Ich wandte mich um. Es war Ratwin. Er trug wieder sein blaues Gewand mit der silbernen Knopfleiste, das ich noch von Koblenz her kannte, und strahlte vor Wiedersehensfreude. Er setzte sich neben mich auf die Bank und legte mir einen Arm um die Schulter. Es tat gut, ihn zu sehen. Ohne Kettenhemd und Helm wirkte das Schwert an seiner Seite eher wie ein Zeichen seines Ranges als wie eine Waffe.
Ratwin griff sich den Humpen von Lupus und stieß ihn gegen meinen. Wir tranken uns zu, als wäre unser letztes Zusammentreffen erst gestern gewesen. Die alte Vertraulichkeit zwischen uns war sofort wiederhergestellt. Er hatte in Koblenz viel Wert auf mein Urteil gelegt, und ich hatte ihn als einen umsichtigen und unerschrockenen Anführer kennengelernt. Im Kastorstift waren wir zusammen dem Entführer meiner Schwester gegenübergetreten, umlagert von Hunderten bis an die Zähne bewaffneter Dänen. Ratwin hatte sich nicht einschüchtern lassen, und die Rettung von Koblenz war vor allem sein Verdienst.
«Ich wusste, dass du es schaffen würdest», sagte er und meinte natürlich die Befreiung meiner Schwester. Ich hatte sie vor den Augen der aufgebrachten Dänen aus Ivars brennendem Schiff gerettet und war mit ihr durch die Mosel geschwommen.
«Weißt du auch, was danach passiert ist?», fragte ich.
«Nein», sagte er. «Aber ich weiß, warum du hier bist. Und am Hof weiß man es auch. Bertolf hat deinen Fall vorgetragen. Um deine Sache steht es gut. Komm morgen Mittag zur Pfalz. Man wird dich zum Kaiser vorlassen.»
«Wird er mich begnadigen?», fragte ich und versuchte, mir die Beklommenheit nicht anmerken zu lassen, die mich trotz der anscheinend guten Aussichten befallen hatte. Mein ganzes weiteres Leben hing von dieser Begnadigung ab.
«Davon gehe ich aus. Aber es gibt eine Bedingung.»
Ich konnte mir denken, welche Bedingung das war: «Ich soll an seinem Kriegszug teilnehmen.»
«Richtig. Wir brauchen Leute wie dich. In zehn Tagen brechen wir auf, um dem Spuk in Asselt ein Ende zu machen.»
Wie gesagt, vom Krieg hatte ich eigentlich genug. Aber Asselt sagte mir zu. Die Festung lag auf einer Insel in der Maas, nur einen Tagesritt von meiner Heimatstadt Maastricht und ebenso weit von Aachen entfernt. In Aachen warteten Fidis und Judith auf mich, in Maastricht wahrscheinlich jede Menge Ärger. Aber diesem Ärger würde ich mich stellen müssen, je früher, desto besser.
Ratwin erriet meine Gedanken. «Du kannst anfangen, deine Familienangelegenheiten zu regeln.»
«Das werde ich wohl», sagte ich finster.
Ratwin legte mir wieder den Arm um die Schulter. «Wenn du dich in den Diensten des Kaisers bewährst, steigen deine Chancen, dir dein Erbe zurückzuholen.»
Agatha saß inzwischen bei Lupus auf dem Schoß und hatte die Bärenmaske auf, was für allerhand mehr oder weniger schlüpfrige Zurufe sorgte.
Ratwin blickte belustigt zwischen uns hin und her, dann wurde er kurz wieder ernst.
«Es gibt noch jemanden, mit dem du dich gut stellen solltest, wenn du weiterkommen willst», sagte er.
«Liutbert von Mainz?», fragte ich.
«Eben nicht», antwortete Ratwin. «Liutbert hat abgewirtschaftet. Liutward von Vercelli ist der neue Stern am Firmament des Hofes. Und der neue Erzkanzler.»
«War das der andere Bischof auf der Treppe?»
«Ja. Niemand mag ihn, aber er ist der Ohrenbläser des Kaisers, und ohne seine Zustimmung passiert gar nichts. Sei auf der Hut. Er ist gierig, rücksichtslos und falsch wie die Schlange im Paradies, aber er verbirgt es hinter vollendeten Umgangsformen und geschliffener Rede. Er wurde auf der Reichenau ausgebildet und kennt den ganzen Cicero auswendig.»
Die Reichenau. In Prüm hatte ich eine Abschrift des Reichenauer Bibliothekskatalogs gesehen. Sie hatten dort Schätze, von denen andere Klöster nur träumen konnten. In Prüm hatte mir jahrelang die Bibliothek unterstanden, und ich konnte nicht aus meiner Haut, so als gälte es immer noch, seltene oder verloren geglaubte Werke aufzuspüren und zu beschaffen. Und ein weiterer Gedanke schlich sich in meinen Kopf: Wenn Liutward ein Mann der Bücher war, dann verband uns etwas, ganz gleich, was für einen Charakter er haben mochte. Dann hatte ich ihm etwas zu bieten, das vielleicht eine Gegenleistung wert war.
Ratwin grinste mich an. Er erriet meine Gedanken. «Da wirst du hellhörig, was?»
«Allerdings», bestätigte ich. Wenn ich mich richtig erinnerte, hatten sie auf der Reichenau das einzige vollständige Exemplar der Komödien von Terenz. Ich hatte es von Prüm aus einmal angefordert, aber sie hatten es zu meinem großen Missbehagen nicht rausgerückt.
«Ich warne dich», sagte Ratwin. «Liutward schätzt kluge Männer nur, solange sie nicht klüger sind als er selbst. Tu bescheiden. Ich weiß, dass dir das schwerfällt.»
«Ich werde mir Mühe geben», sagte ich.
«Gut. Und jetzt erzählst du mir mal genau, wie du Ivar nach Walhallo befördert hast.»
«Walhalla.»
«Auch gut. Ich bin ganz Ohr.»