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I n den folgenden Tagen konnte man sehen, dass die Ankündigungen des Kaisers am Tag der Huldigung keine leeren Versprechungen gewesen waren. Der Kriegszug stand bevor. Aus allen Himmelsrichtungen trafen die Aufgebote ein, die seinem Aufruf gefolgt waren. Die Ladeflächen der Packwagen bogen sich unter Ausrüstung, Werkzeugen und Vorräten. Pferdekoppeln wurden abgesteckt, Feuerholz zusammengetragen, Zelte aufgebaut und bezogen. Tagsüber übten die Männer mit Schwertern, Speeren, Lanzen und Bögen, abends luden sie sich gegenseitig ein, um ihre Ausrüstung zu begutachten und Wettbewerbe auszutragen, die dann in große Gelage übergingen. Die Bayern steuerten Bier bei und die Franken Wein, die Thüringer rösteten Unmengen von groben Würsten über der Glut, und die Alemannen schwenkten eifrig Kupferkessel mit einem gelblichen Gewimmel in geschmolzener Butter, das mit Speck vermischt wurde.

«Was soll das sein?», fragte Lupus, als er die Zubereitung zum ersten Mal sah. «Würmer?»

Einer der Alemannen gab etwas zur Antwort, das nach kleinen Spatzen klang; ein anderer widersprach und erklärte, es handele sich um kleine Knöpfe, ein dritter sprach von kleinen Nocken. Bald mischten sich weitere Männer ein, und ein leidenschaftlicher Streit über die korrekte Herstellung dieses Gerichts entbrannte, aus dem sich immerhin entnehmen ließ, dass es nicht aus lebenden Tieren, sondern aus Eiern und Mehl bestand. Ansonsten schien jedes alemannische Dorf dafür eigene Zubereitungsverfahren und eigene Bezeichnungen zu haben, deren einzige Gemeinsamkeit in der Verkleinerungsform bestand. Der Streit lockte einige Bayern von einem der benachbarten Feuer an. Unter Verweis auf ihre riesigen Bierhumpen merkten sie an, bei den Alemannen sei offenbar alles klein, was bei den Bayern groß sei, woraufhin die Alemannen drohend ihre Gürtel lösten, doch bevor zur Beweiserhebung geschritten werden konnte, wurden dampfende Holznäpfe herumgereicht. Die Würmer mit Speck schmeckten köstlich und bildeten überdies eine gute Grundlage für das von den Sachsen ausgeschenkte klare Gebräu aus geschrotetem Getreide, das eigentlich untrinkbar war und in der Kehle brannte.

Auf diese Weise trugen die Abende am Feuer dazu bei, dass das aus allen Teilen des Landes herbeiströmende Heer zusammenwuchs. Schon nach wenigen Tagen machte sich eine allgemeine Aufbruchsstimmung breit. Alle waren begierig darauf, es den Dänen zu zeigen. Lupus trug unter viel Beifall sein immer größeres Repertoire an Dänenwitzen vor, und wenn er in Stimmung war, setzte er dabei seine Bärenmaske auf. Die Nächte brachte er nicht mehr mit mir in unserer Kammer im Bischofspalast zu, sondern mit Agatha auf einem Heuboden.

 

So gingen die Tage dahin. Abends saß ich meistens mit den anderen an einem der Feuer, tagsüber machte ich Schwertübungen oder ritt am Rhein entlang. Erst in diesen ruhigen Stunden wurde mir klar, dass ich tatsächlich frei war. Ich stellte mir das Strahlen in den Augen von Fidis vor, wenn sie es erfahren würde. Wir hatten plötzlich eine Zukunft.

Der Anblick des unbeirrbar dahinströmenden Wassers erinnerte mich an meine Heimat. Ich bin ein Kind des Flusses, aufgewachsen am Ufer der Maas und getauft mit ihrem Wasser. Ich hatte als Junge darin Fische gefangen, Boote aus Baumrinde auf die Reise geschickt und schwimmen gelernt. Um ein Haar hatte der Fluss mir meine Schwester genommen, aber ich hatte sie aus dem Wasser gezogen und in Sicherheit gebracht. Immer wieder haben Flüsse in meinem Leben eine Rolle gespielt. Erst jetzt wurde mir klar, dass auch das dahinströmende Wasser zu den Dingen gehörte, die ich während meiner Verbannung in Prüm vermisst hatte. Der Anblick des Rheins erinnerte mich daran, dass auch in unserem Leben alles in Bewegung ist, auch wenn wir es manchmal nicht merken.

Einer meiner Ausritte führte mich zur nahe gelegenen Abtei Lorsch. Es war nicht so, dass mir die Klosterluft fehlte. Ich hoffte, dort ein paar Antworten auf Fragen zu bekommen, die mich seit meiner Flucht beschäftigten: Waren die wertvollen Bücher, die ich im Glockenturm von Prüm verborgen hatte, nach der Rückkehr der Brüder geborgen worden? Oder waren sie verbrannt? Und hatte mein Freund Wolfhelm die Flucht überlebt? War er nach Prüm zurückgekehrt? Leider konnte man mir auch in Lorsch keine Auskunft dazu geben. Die Wege seien noch zu unsicher, die Boten trauten sich nicht durch die Wälder.

Während ich am Grab von König Ludwig stand, dessen Tod zu Anfang des Jahres seinem Bruder Karl den Weg auf den ostfränkischen Thron frei gemacht hatte, grübelte ich darüber nach, wie ich in der Sache mit Uta weiterkommen könnte. Liutward und der Kaiser hatten ja offenbar nicht die Absicht, weitere Schritte zu unternehmen, bevor das Dänennest in Asselt nicht ausgeräuchert war. Wenn ich mich dort bewährte, würde mir seine Unterstützung sicher sein.

Die Grabkirche war gerade fertiggestellt worden, es roch darin noch nach Putz und frischem Holz. Auf dem Grab lag eine Sandsteinplatte, in die ein Steinmetz schon die Linien für die Inschrift geritzt hatte, aber die Buchstaben fehlten noch. Aus der benachbarten Abteikirche hallte gedämpft das Stundengebet der Mönche herüber und weckte unangenehme Erinnerungen. Ich hatte den täglichen Ritualen des Klosterlebens nie viel abgewinnen können; für mich waren sie nur lästige Unterbrechungen meiner Studien gewesen. Seit Folchar mir in meiner Jugend die Augen für die Geheimnisse der Welt geöffnet hatte, war ich Gott immer dann nahegekommen, wenn mich beim Lesen, Beobachten oder Nachdenken eine Ahnung vom Wesen seiner Schöpfung gestreift hatte, von den Kräften, die sie zusammenhielten und von dem verborgenen Sinn, der ihren Abläufen zugrunde lag, aber niemals beim Absingen einer auswendig gelernten Liturgie.

Während ich auf die unbeschriftete Grabplatte starrte, sah ich plötzlich Franco von Lüttich vor mir: das gelangweilte Gesicht, mit dem dieser verwöhnte Schnösel sich beim Prozess gegen meine Mutter in seinem Sessel gelümmelt hatte, die scheuchende Handbewegung, mit der er den Schreiber angewiesen hatte, das Urteil auszufertigen, weil eine Jagdgesellschaft, eine Spielrunde oder ein Liebchen auf ihn wartete. Ich beschloss, ihm bei Gelegenheit einen Besuch abzustatten. Vielleicht fand sich etwas, was ich ihm anbieten konnte.

Bevor ich zurück nach Worms ritt, gab ich der Versuchung nach, der Bibliothek einen Besuch abzustatten. Der Krampfanfall des Kaisers hatte eine ganze Reihe von Fragen aufgeworfen. Das routinierte Eingreifen der Anwesenden deutete darauf hin, dass es nicht der erste Vorfall dieser Art gewesen war. Wenn die Anfälle sich häuften, konnten sie Karls Regierungsfähigkeit infrage stellen und zu Verwicklungen führen, die das ganze Reich erschütterten, denn natürlich würden seine Gegner sich die Krankheit zunutze machen und zum Beweis seiner Regierungsunfähigkeit heranziehen. Nicht auszudenken, welche Wirkung ein solcher Anfall vor dem versammelten Heer oder während einer Reichsversammlung haben könnte.

Aus der Korrespondenz, die ich während meiner Zeit als Bibliothekar in Prüm geführt hatte, wusste ich, dass in Lorsch ein großer Sammelband mit Heilmitteln für alle möglichen Leiden aufbewahrt wurde, den die Mönche vor langer Zeit aus Fragmenten griechischer und lateinischer Werke zusammengestellt hatten. Was lag näher, als einen Blick in dieses Buch zu werfen, wo ich schon einmal hier war?

Der Bibliothekar war ein mageres Männlein mit Spinnenfingern, eingefallenen Wangen und grauen Bartstoppeln, das mich gleichgültig zur Kenntnis nahm, keine Fragen stellte und mich wortlos in die Bibliothek führte. Wegen seiner starken Kurzsichtigkeit kniff es die ganze Zeit die Augen zusammen. Mit einer Handbewegung wies es mir einen Platz an einem wackeligen Pult an, kramte in einem Regal herum und legte mir kurz darauf das gewünschte Werk vor. Ich schlug den steifen Einband auf. Der häufige Wechsel von Schriftbild und Tinte verriet, dass das Buch von verschiedenen Schreibern angefertigt worden war. Das Knistern der schon etwas brüchigen Blätter, ihr muffiger Geruch und die samtige Oberfläche des Pergaments lösten unwillkürlich jene freudige Erregung in mir aus, die ich jedes Mal beim Aufschlagen eines unbekannten Buches verspürt hatte und die mich daran erinnerte, dass in Prüm nicht alles schlecht gewesen war. Trotz meiner Erleichterung, dass dieses Leben voller Zwänge nun der Vergangenheit angehörte, wurde mir wieder einmal klar, dass die Faszination für das geschriebene Wort mich bis zu meinem letzten Atemzug begleiten würde.

Ich überblätterte eine in Versen verfasste Einleitung, ein paar allgemeine Einführungen zu Krankheitsverläufen und Grundregeln für die Verabreichung von Heilmitteln, arbeitete mich zügig durch das Inhaltsverzeichnis und stieß schließlich auf die Stelle, an der das Heilmittel gegen die Fallsucht beschrieben war. Es handelte sich um ein Pulver aus Wurzeln und Blättern von Odermennig, Spitzwegerich, Färberkrapp, Efeu, Nieswurz und Misteln, die aus einer Eiche geschnitten werden mussten, sowie zerstoßenem Elfenbein. Die ganze Zusammenstellung wirkte recht willkürlich. Ich erinnerte mich an vergleichbare Rezepturen, die wir in Prüm gegen die verschiedensten Krankheiten zubereitet hatten und deren Anwendung von mäßigem Erfolg gekrönt gewesen war, was Abt Ansbald zumeist nicht mit der Unzulänglichkeit der Heilmittel, sondern mit mangelnder Inbrunst bei den Gebeten während der Verabreichung erklärt hatte. Dennoch prägte ich mir die Zusammensetzung ein – weniger in der Hoffnung auf eine durchschlagende Wirkung beim Kaiser als darauf, mir mit meinen Kenntnissen am Hof zu gegebener Zeit eine bessere Stellung zu verschaffen. Die Pflanzen würden sich leicht beschaffen lassen, und was das Elfenbein betraf, würde Liutward seine Anhänglichkeit gegenüber dem Kaiser beizeiten beweisen können, indem er den Schmuckeinband von einem seiner Messbücher oder den Knauf seines Bischofsstabes opferte.

Ich gab das Buch ab und ritt zurück nach Worms. Schon von Weitem wehte mir der Geruch von Würsten und Speck entgegen.

Lupus traf ich im Lager der Bayern an. Zur Begrüßung reichte er mir einen der riesigen Humpen mit Bier, die dort jeder in die Hand gedrückt bekam.

«Wo hast du den ganzen Tag gesteckt?», fragte er.

«Lexikons gelesen», antwortete ich. So hatte er das immer genannt, wenn ich meine Nase in die Bücher steckte.

«Und? Noch schlauer geworden?»

«Ein bisschen.»

 

Als sei die Sammlung des Heeres vor den Mauern von Worms ein Schöpfungsakt gewesen, hielt Karl am siebten Tag nach der Huldigung eine Heerschau ab, um seine Streitmacht zu begutachten. Mit den aus Italien herbeigerufenen Langobarden war inzwischen die letzte Abteilung im Lager eingetroffen, sodass dem Aufbruch nichts mehr im Weg stand. Die Männer konnten es kaum noch erwarten.

Mittlerweile trafen auch fast täglich Kundschafter aus dem Norden ein, die meldeten, dass die Dänen die Festung Asselt weiter ausbauten. Es handelte sich um eine kleine Pfalz zwischen dem Hauptstrom der Maas und einem seichten Nebenarm. Über den Fluss schafften die Dänen ständig Nachschub heran. Die Plünderungen im Umland hatten sie eingestellt, um die verbliebenen Bewohner mit ihrer letzten Habe nicht auch noch zu vertreiben, denn irgendjemand musste ja die Felder bestellen. Es klang unglaublich, aber sie waren tatsächlich dazu übergegangen, Bier und Getreide bei den Bauern zu bezahlen. Offenbar waren ihre Anführer zu der Erkenntnis gelangt, dass sie eine so große Zahl von Männern nur verpflegen konnten, wenn es im Land einigermaßen geordnet zuging und keine Hungersnot ausbrach. Das deutete darauf hin, dass sie die Absicht hatten, sich für längere Zeit in Asselt festzusetzen, und dass sie vielleicht sogar versuchen würden, ihre Herrschaft dauerhaft auf ein größeres Gebiet auszudehnen, wie sie das in den Jahren zuvor in England getan hatten. Sogar Händler wurden in das Lager gelassen. Sie berichteten von der Verstärkung der Befestigungen mit Aufstockung der Mauern und zusätzlichen Wehrtürmen. Wie sich diese Anlage am besten stürmen ließ, würde man vor Ort sehen müssen. Wenn wir duldeten, dass sie sich in solchen Stützpunkten festsetzten, würden wir sie vielleicht nie wieder loswerden.

Es waren fast viertausend Männer, die in langen Reihen am Rheinufer östlich der Stadt Aufstellung genommen hatten. Fast alle waren gut ausgerüstet und bewaffnet: Kettenhemden, Schwerter und Helme glitzerten. Bauern mit Knüppeln und Sensen sah man nur vereinzelt. Es war offensichtlich, dass die Grafen, Bischöfe und Äbte ihre besten Leute zu diesem Heerzug geschickt hatten, um dem Kaiser zu zeigen, dass er sich auf sie verlassen konnte, und um ihren Rang und ihre Stellung im Gefüge des Reiches zu demonstrieren. Niemand wollte sich lumpen lassen, denn nach dem siegreichen Ende dieses Krieges würde man sich am Hof selbstverständlich daran erinnern, wer welchen Beitrag geleistet hatte.

Lupus und ich waren Ratwin zugeteilt worden, der neben etwa hundert Männern zu Fuß auch zwanzig Berittene aufgeboten hatte. Als die Reihen sich entlang des Flusses hinter ihren Anführern formiert hatten, schwang ein Tor nahe der Nordostecke der Stadtmauer auf, und eine Gruppe von Reitern auf prachtvollen Pferden trabte heraus. Ihre farbigen Überwürfe bauschten sich.

Alle streckten sich. Der Tag war wie geschaffen, um die Kampflust zu steigern: Ein stetiger Wind wehte von Westen her über die Stadt, kräuselte die Wellen des Flusses und ließ die Behänge der Standarten flattern und klimpern. Helme, Lanzenspitzen, Kettenhemden und Pferdegeschirre glitzerten in der Sonne. Das auseinandergezogene Heer säumte das grasbewachsene Ufer über eine Länge von fast einer Meile. Die Demonstration von bewaffneter Macht war überwältigend, die Siegeszuversicht stand auf allen Gesichtern. Wenn uns in diesem Augenblick die Dänen gegenübergetreten wären, hätten wir sie einfach überrollt.

Die Gruppe der Reiter hatte den Anfang unserer Formation erreicht, war abgesessen und hatte begonnen, die Reihen abzuschreiten. Der Kaiser, diesmal demonstrativ in einem schweren Kettenhemd und mit auf den Rücken geschnalltem Schild, ging voran. Auf seinem Helm leuchtete ein prachtvoller Busch aus purpurrot gefärbtem Rosshaar. Die Herren in seinem Gefolge waren mir unbekannt bis auf Liutward, der ebenfalls in voller Rüstung erschienen war.

Karl blieb vor jedem der angetretenen Aufgebote stehen, begrüßte den Anführer und wechselte ein paar Worte mit ihm. Als er sich näherte, saß Ratwin ab und übergab die Zügel seines Pferdes einem neben ihm stehenden Bediensteten. Dann trat er vor den Kaiser und beugte das Knie. Die beiden sprachen miteinander, dabei deutete Ratwin mehrmals auf mich. Der Kaiser nickte, die anderen musterten mich prüfend und nickten schließlich auch, dann schritten sie weiter.

«Komm nachher zu mir in mein Zelt», raunte Ratwin mir zu, und bevor ich ihn noch fragen konnte, was sie da besprochen hatten, schwang er sich wieder in den Sattel.

«Der hatte ja schon in Koblenz einen Narren an dir gefressen», murmelte Lupus.

Den Rest der Heerschau bekam ich kaum noch mit, so sehr arbeitete es in meinen Gedanken. Was hatten sie da gerade besprochen? An den Gesichtern war noch nicht einmal abzulesen gewesen, ob mich eine gute oder eine schlechte Nachricht erwartete.

Plötzlich brüllte jemand etwas, und ein Schrei aus Tausenden von Kehlen war die Antwort. Ich blickte irritiert in die Runde. Um mich herum zogen alle ihre Schwerter und ließen den Kaiser hochleben.

«Was hat er gesagt?», fragte ich.

«Morgen ist Abmarsch», antwortete Lupus. «Und heute Abend lassen wir es noch mal richtig krachen.»

Wie sich bald zeigen sollte, war das ein Irrtum.

 

Ratwin schien eine Vorliebe für Blau zu haben, denn auch sein Zelt war in dieser Farbe gehalten, wenngleich der Stoff ein wenig verblichen war, als hätte es ihn schon oft begleitet. Dafür, dass wir zu einem Kriegszug aufbrachen, war es erstaunlich komfortabel eingerichtet. Offenbar hatte er genügend Packtiere zur Verfügung, die ihm allerlei Annehmlichkeiten hinterherschleppten: ein mit Fellen bezogenes Bett, einen Tisch und mehrere Stühle, die sich zusammenklappen ließen, sowie eine große Truhe und einen Kerzenleuchter mit einem Dutzend Armen. Der Boden war mit Matten ausgelegt.

«Setz dich.» Ratwin goss Wein aus einer Karaffe in zwei Pokale. «Erdbeeren dazu? Sind früh dran in diesem Jahr.»

Wir setzten uns an den Tisch, auf dem tatsächlich eine Schale mit frischen Erdbeeren stand.

«Stoßen wir noch mal auf deine Begnadigung an», sagte Ratwin.

Wir tranken. Ratwin wirkte nicht, als hätte er eine schlechte Nachricht zu überbringen. Allerdings kannte ich ihn nicht anders. In Koblenz hatte ihn seine gute Laune auch dann nicht verlassen, als eine sechsfache Übermacht aus mordgierigen Dänen gegen die Mauern seiner Stadt angestürmt war.

Ratwin blickte eine Weile versonnen auf seine Truhe. «Du hast bei Liutward einen guten Eindruck hinterlassen», sagte er dann.

Fast musste ich lachen. Ich hatte während der ganzen Audienz kein einziges Wort gesagt. Liutward und Karl hatten nicht mit mir geredet, sondern über mich, und wenn ich einen guten Eindruck hinterlassen hatte, dann nur deshalb, weil ich durch mein schnelles Eingreifen die kaiserliche Zunge gerettet hatte. Ich fragte mich, ob Ratwin über den Vorfall in der Audienzhalle informiert war, ob er überhaupt von der Krankheit wusste.

«Ich bin im Bilde», sagte Ratwin. Seine Fähigkeit, die Gedanken anderer Menschen zu erraten, war wirklich beeindruckend.

«Kommt das öfter vor?», fragte ich.

«Ein paarmal im Jahr», antwortete Ratwin. «Leider kündigen die Anfälle sich nicht an. Es passiert ganz plötzlich.»

«Das habe ich gemerkt.»

Ratwin lehnte sich zurück. «Bedauerlicherweise hast du dem Kaiser einen Dienst erwiesen, über den niemand reden darf.»

«Daran hat Liutward keinen Zweifel gelassen.»

Ratwin lachte auf. «Dabei weiß eigentlich jeder, dass der Kaiser unter Fallsucht leidet.»

«Wann hat es denn angefangen?»

«Vor fast zehn Jahren. Den ersten Anfall hatte er in Frankfurt, als er gerade dabei war, eine Palastrevolte gegen seinen Vater anzuzetteln. Die Sache ging schief, und sein Leiden war eine gute Ausrede, aber es wirft natürlich bei jedem neuen Anfall die unangenehme Frage auf, ob Gott noch auf seiner Seite ist, wenn er ihm eine solche Krankheit auf den Hals schickt. In unserer derzeitigen Lage wäre es fatal, wenn die Sache die Runde machte. Man würde es als schlechtes Vorzeichen für den bevorstehenden Kriegszug deuten.» Er trank einen Schluck und blickte mich über den Rand seines Pokals hinweg an. «Womit wir beim Thema wären. Der Kaiser hat eine Aufgabe für dich.»

«Lass mich raten, wer mich dafür empfohlen hat.»

«Deine Fähigkeiten haben dich empfohlen.»

«Welche Fähigkeiten denn? Schlampig abgeschriebene Texte auf Grammatikfehler durchforsten?»

Er lachte. «Stell dich nicht dumm. Die Fähigkeiten, die du in Koblenz gezeigt hast: verfolgen, anschleichen, auskundschaften, einsteigen.»

Ich ahnte, worauf das hinauslief, sagte aber nichts, sondern ließ Ratwin weiterreden.

«Du hast selbst gesehen, wie groß unser Heer ist», sagte er. «Wir haben Hunderte von Packwagen dabei, die unseren Vormarsch aufhalten werden. Unterwegs muss für Verpflegung und Quartier gesorgt werden. Wir werden uns aufteilen müssen. Flüsse müssen überquert werden. Die Dänen schicken ständig Kundschafter durchs Land, und wahrscheinlich wissen sie längst, was wir vorhaben. Es wird Wochen dauern, bis das Heer vor Asselt versammelt ist und mit der Belagerung anfangen kann.»

«Sie haben also viel Zeit, um sich vorzubereiten», fasste ich zusammen.

«Zu viel. Wie man hört, arbeiten sie jetzt schon an den Befestigungen. Also haben wir beschlossen, ein paar Hundert Reiter ohne Wagen nach Asselt vorauszuschicken, die in etwas mehr als einer Woche dort sein könnten. Vielleicht können wir sie überrumpeln.»

Ich fragte mich, wie das gelingen sollte. In Asselt saßen mindestens tausendfünfhundert gut bewaffnete Dänen auf einem Berg aus Silber, das sie sich nicht von einem Stoßtrupp abjagen lassen würden, selbst wenn wir es schafften, unbemerkt in ihre Nähe zu kommen.

Ratwin verstand meine Bedenken. «Ihr sollt ihnen ja keine Schlacht liefern. Ihr sollt Verwirrung stiften und das Lager in Brand stecken. Am besten so, dass nicht die ganze Beute mit verbrennt.»

«Wenn’s weiter nichts ist.»

Ratwin grinste. «Und wenn ihr schon mal da seid, wär’s natürlich schön, wenn ihr noch einen oder zwei von ihren Anführern erstechen und die Gefangenen befreien könntet.»

«Sie haben Gefangene?»

«Ein paar Dutzend angeblich. Als wir das im Rat besprochen haben, musste ich sofort an dich denken.» Ratwin nahm einen Schluck und schenkte sich nach. «Außerdem kennst du dich in der Gegend aus und sprichst die Sprache der Leute dort. Wir brauchen jemanden, der sich als Händler ausgibt und sich im Lager umsieht. Du würdest nicht weiter auffallen.»

«Es sind doch schon Kundschafter vor Ort.»

Ratwin machte eine wegwerfende Handbewegung. «Das sind nur Bauern, die sich ein paar Münzen dazuverdienen. Einer von denen hat uns erzählt, die Dänen hätten hunderttausend Männer im Lager, ein anderer hat behauptet, er hätte ein Pferd mit acht Beinen gesehen.»

«Das würde bedeuten, dass Odin persönlich in ihren Reihen kämpft.»

«Papperlapapp. Es bedeutet, dass unsere Kundschafter sich nur so betrunken ins Lager trauen, dass sie nicht mehr bis vier zählen können. Wir brauchen jemanden, der uns zuverlässige Auskunft über die Anzahl der Verteidiger und ihre Bewaffnung geben kann. Jemanden, der einen Blick für die Schwachstellen der Befestigung hat. Mir fällt keiner ein, der dafür besser geeignet wäre als du.»

«Sehr schmeichelhaft», sagte ich. Und in der Tat gefiel mir das Vorhaben. Wenn es gelang, würde mein Name am Hof einen ganz anderen Klang bekommen, und für meine weiteren Pläne war das natürlich von Vorteil. Außerdem reizte mich der Gedanke, sofort etwas tun zu können, ohne dass mir jemand hineinredete, anstatt mich wochenlang den Entscheidungen anderer unterzuordnen. Tatendrang ergriff mich. Genauso hatte ich mich gefühlt, als ich in Prüm beschlossen hatte, nicht mit den anderen Brüdern zu fliehen, sondern mich allein durchzuschlagen; genau dieses Gefühl hatte mich angespornt, als ich Ivar von Koblenz aus über die Mosel verfolgt hatte.

«Wer soll diese Vorhut denn anführen?», fragte ich und hoffte, dass Ratwin selbst dafür bestimmt worden war.

«Arnulf von Kärnten und Heinrich von Babenberg.»

Ich muss die Augen wohl ziemlich weit aufgerissen haben, denn Ratwin blickte mich amüsiert an. «Du verstehst, welche Bedeutung das Unternehmen für uns hat.»

Allerdings verstand ich das. Die beiden waren die versiertesten Anführer, die der Kaiser hatte. Heinrich befehligte das fränkische Kontingent und Arnulf das bayerische. Wenn sie bei der Sache umkamen oder in Gefangenschaft gerieten, würde das Heer empfindlich geschwächt sein. Andererseits würden die beiden sich kaum die Gelegenheit entgehen lassen, sich vor Karl zu profilieren, vielleicht sogar jeweils auf Kosten des anderen. Arnulf war ein unehelicher Spross der ostfränkischen Königsdynastie und ein Neffe des Kaisers. Es hieß, er schiele nach der Krone seines Onkels, der keine legitimen Nachkommen hatte.

Während Ratwin seine Ausführungen wirken ließ und seinen Schwertknauf streichelte, wurde mir klar, dass sich hier schon die nächsten Verwicklungen anbahnten. Wenn Arnulf die Lorbeeren für den Überfall auf das Lager der Dänen einheimste, bevor der fallsüchtige Kaiser seine eigene Führungsstärke unter Beweis stellen konnte, rückte er dem Thron ein kleines Stück näher. Zog hier schon wieder die nächste Familienfehde am Horizont herauf, von der am Ende nur die dänischen Invasoren profitieren würden?

«Wann reiten wir los?», fragte ich.

«Noch heute», antwortete Ratwin.

Ich zog die Augenbrauen hoch. «Sind die anderen denn schon abmarschbereit?»

«Nein, du reitest allein. In Roermond erwartet dich einer unserer Männer, Gerwin, der wird dir alles Weitere erklären. Ich will, dass du dich in Asselt umsiehst, bevor die Dänen Verdacht schöpfen. Wenn erst ein paar Hundert Reiter im Umland herumstreifen, werden sie niemanden mehr reinlassen.»

Die Aussicht auf einen so schnellen Aufbruch überrumpelte mich dann doch. Ratwin betrachtete mich lächelnd wie einen wohlgeratenen Sohn. Und schon wieder erriet er meine Gedanken.

«Ja, deinen Freund kannst du mitnehmen. Und den holst du jetzt mal besser aus dem Lager, bevor die Bayern ihn vollständig abgefüllt haben.»