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E ine Stunde später saßen wir im Sattel. Sie hatten Lupus einen Schecken gegeben, der so klein geraten war, dass die Füße meines Freundes fast über den Boden schleiften. Es sah aus, als würde er ein Steckenpferd reiten, aber das Tier erwies sich als ausdauernd und zäh. Es tat gut, wieder in Bewegung zu sein. Auch Sleipnir schien erleichtert, dass es vorwärtsging. Ich spürte, wie seine Muskeln unter mir arbeiteten, während wir Worms hinter uns ließen. Das Pferd begleitete mich seit dem Tag nach meiner Flucht aus Prüm. Die Dänen hatten es einem Bauern abgenommen, und ich hatte es den Dänen abgenommen. Es war von einer unglaublichen Ausdauer und hatte mich auf der Jagd nach Ivar getragen, ohne auch nur ein einziges Mal lahm zu werden.

«Ich durfte mich noch nicht mal von Agatha verabschieden», murrte Lupus.

«In Lotharingien gibt’s auch Mädchen.»

«Na, du musst es ja wissen.»

Kurz nachdem wir Mainz hinter uns gelassen hatten, setzte die Dämmerung ein. Wir ritten so lange weiter, bis wir die Hand vor Augen nicht mehr sahen, dann rollten wir uns in einer kleinen Birkenschonung in unsere Decken.

«Mein Gott, tut mir der Arsch weh», murmelte Lupus verschlafen.

«Morgen wird’s noch schlimmer sein», sagte ich.

«Untersteh dich», warnte er und rückte ein Stück von mir ab.

Am zweiten Tag tauchten schon gegen Mittag die Befestigungen von Koblenz mit ihren gedrungenen Türmen vor uns auf. Dort oben hatte ich wochenlang jeden Tag gestanden und Ausschau nach dänischen Schiffen gehalten. Es war merkwürdig, diese Mauern jetzt auf einmal von außen zu betrachten. Der Anblick war vertraut und befremdlich zugleich.

Auf dem Feld südlich der Stadt wuchs wieder das Gras, und bis auf ein paar Rußspuren von den Feuertöpfen, mit denen wir die Angreifer beworfen hatten, erinnerte dort nichts mehr daran, dass hier vor knapp zwei Monaten ein mörderischer Kampf getobt hatte. Ganz anders das von den Dänen beim Abzug niedergebrannte Kastorstift: Das zerstörte Gemäuer auf der Landzunge an der Moselmündung ragte in den Frühlingshimmel wie das Skelett eines riesigen Tieres, das vor Jahrhunderten hier verendet war.

Ich wusste, dass wir uns nicht lange aufhalten konnten, aber eine Frage ließ mir keine Ruhe: Was war aus meinem Freund Gauzbert geworden? Hatte er sich von seinem Bauchschuss erholt? War er am Ende noch in der Stadt und ließ sich von der Tavernenwirtin Emma den Kopf kraulen? Ich konnte unmöglich weiterreiten, ohne mich zumindest nach ihm erkundigt zu haben, also bat ich Lupus, am Ufer der Mosel zu warten, machte mich auf den Weg zum Tor und betrat die Stadt.

Als ich durch die Straßen ritt, war es, als hätte ich mein halbes Leben in Koblenz verbracht; jede Einzelheit war mir vertraut: der verwitterte Marmortorso, der als Eckstein in einem vornehmen Wohnhaus verbaut worden war, das moosbewachsene Fass, das vor einer Taverne als Stehtisch diente, die Messingglocke, die ein Bäcker an seine Tür gehängt hatte, damit niemand unbemerkt seinen Laden betreten konnte. Selbst die Gesichter einiger Menschen, die an mir vorbeieilten, kamen mir bekannt vor.

Der Schmied, in dessen Werkstatt Gauzbert und ich uns während der Belagerung der Stadt einquartiert hatten, war tatsächlich zurückgekehrt und hatte die Arbeit wieder aufgenommen. Er war gerade dabei, eine Beilklinge zu bearbeiten, und hatte offensichtlich nicht die Absicht, seine Tätigkeit auch nur einen Augenblick lang zu unterbrechen, um meine Fragen zu beantworten. Also schrie ich gegen seine Hammerschläge an, bis er mir endlich mürrisch und widerwillig Auskunft gab. Ja, er habe in der Werkstatt so einen Kerl angetroffen.

Ob der Kerl gesund gewesen sei, fragte ich.

«Gesund genug, um sich mit diesem Tavernenluder zu amüsieren, als ich reinkam. Auf meiner Werkbank.»

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Emma hatte sich also bis zu seiner Genesung um Gauzberts Wohlergehen gekümmert. Was dann passiert sei, fragte ich.

«Hab sie mit einem Eimer kaltem Wasser getrennt wie die Hunde und dann rausgeschmissen. Ist doch kein Puff hier.»

Das ist der Dank dafür, dass wir deine Stadt verteidigt haben, während du dich Gott weiß wo rumgetrieben hast, dachte ich, aber ich sagte nichts. Stattdessen fragte ich den Schmied, ob er wisse, wo der Kerl nach dem Rauswurf hingegangen sei.

«Der wollte nach Indien.»

«Inda», korrigierte ich.

Der Schmied runzelte die Stirn, während er weiter auf der Beilklinge herumhämmerte. Mir taten schon die Ohren weh.

«Das war kein Inder. Die sehen ganz anders aus. Inder haben Hundeköpfe.»

Ich bezweifelte, dass der Schmied nach der Arbeit völkerkundliche Werke studierte. Die Geschichte mit den Hundeköpfen wird von Aulus Gellius kolportiert, aber der behauptet auch noch ganz andere Sachen: Menschen mit gefiederten Körpern, Einbeiner ohne Köpfe, Männer, die zu Frauen werden, und so weiter. So oder so wusste ich genug, also verzichtete ich darauf, mich auf eine Diskussion einzulassen, und verließ die Werkstatt. Gauzbert war gesund und munter nach Hause zurückgekehrt. Ich wusste, wo ich ihn finden konnte.

«Sag ihm, er soll sich hier nie wieder blicken lassen», rief der Schmied mir noch hinterher.

Als ich zum Moselufer zurückkehrte, stand Lupus an der Fährstation und verhandelte mit dem Fährmann. Als der mich sah, verengten sich seine Augen zu wütenden Schlitzen.

«Der schon wieder. Der kommt mir nicht mehr aufs Boot. Beim letzten Mal ist sein Gaul ins Wasser gesprungen und hätte uns fast zum Kentern gebracht.»

Nach einigem Hin und Her erklärte sich der Fährmann bereit, uns doch beide überzusetzen. Natürlich zum doppelten Preis.

Eine halbe Stunde später saßen wir wieder im Sattel, und gegen Abend trafen wir in Sinzig ein.

Von da an war unser Weg von Ruinen gesäumt. Remagen und Bonn waren immer noch fast völlig entvölkert; in Köln bewarf man uns von der Stadtmauer aus mit Steinen, weil kurz vor unserer Ankunft ein dänisches Schiff auf dem Rhein gesichtet worden war.

«Sehen wir vielleicht aus wie Dänen?», schrie Lupus nach oben.

«Ihr seht aus wie Spione!», schallte es zurück.

Nachdem wir bei der heiligen Ursula und den elftausend Jungfrauen geschworen hatten, keine Spione zu sein, ließ man uns ein und wies uns den Weg zu einer Herberge, sodass wir die dritte Nacht unserer Reise nicht unter freiem Himmel verbringen mussten.

«Wie kommt der denn auf so viele Jungfrauen?», fragte Lupus, während wir zwischen ausgebrannten Häusern entlangritten.

«Abkürzungsfehler», vermutete ich. «Ein Buchstabe zu viel, und schon werden aus elf gleich elftausend. Aber sag das bloß nicht laut, sonst fliegen wir hier sofort wieder raus.»

Doch Lupus war ohnehin zu müde, um sich noch auf Plaudereien mit irgendwem einzulassen. Kaum hatte der Wirt uns unsere Kammer gezeigt, fiel er auch schon auf seinen Strohsack und schlief ein.

Der Wirt, der keine anderen Gäste und offenbar noch Lust auf ein bisschen Gesellschaft hatte, wandte sich an mich: «Trink noch einen mit.» Ich gähnte unschlüssig. «Stell dich nicht so an», setzte er nach.

Vielleicht war ein Bier eine gute Gelegenheit, ihn etwas auszufragen, also folgte ich ihm in den Schankraum und erkundigte mich nach Neuigkeiten und Gerüchten. Bis auf das eine Schiff hatten sie schon seit Wochen keine Dänen mehr zu Gesicht bekommen, aber vor einigen Tagen war jemand aus der Gegend von Asselt da gewesen, der berichtet hatte, dass sie dort ganze Bauernhöfe abrissen, um Baumaterial für die Verstärkung ihres Lagers zu gewinnen. Die Zeit drängte also. Auf meine Frage nach dem kürzesten Weg zur Maas riet der Wirt mir, dem Rhein bis kurz vor Neuss zu folgen und dann nach Westen abzubiegen.

Als ich schon auf dem Weg zur Kammer war, rief er mir noch eine Warnung hinterher: Wir sollten auf keinen Fall das braune Bier trinken, das sie dort oben aus dem Wasser der Düssel brauten.

«Flüssige Kacke», sagte er. «Lasst euch das bloß nicht andrehen.»

 

Wir verbrachten zwei weitere Tage im Sattel und zwei weitere Nächte auf moosigem Waldboden. Nachdem wir am Morgen des sechsten Tages unserer Reise ein kleines Gehölz durchquert hatten, trafen wir auf ein Flüsschen, das sich zwischen Buschwerk und Feldern durch die Landschaft schlängelte. Wir folgten seinem Lauf eine halbe Stunde lang auf einem Feldweg, dann kam ein Kirchturm in Sicht.

Zweihundert Schritte vor uns verschwand das Flüsschen hinter einer Baumgruppe; dahinter zog sich eine lockere Reihe von Weiden am Horizont entlang, über die ein Reiher strich.

Ich fühlte die Maas, bevor ich sie sah. Große Flüsse haben eine merkwürdige Präsenz, die ich immer gespürt, aber nie begriffen habe. Vielleicht hat ihr Wasser einen eigenen Geruch, vielleicht strahlt es eine Kühle ab, die sich unbemerkt auf die Haut legt, vielleicht ist es ein beständiges Rauschen, das man wahrnimmt, bevor man es wirklich hört. Was auch immer es ist: Beim Anblick der Bäume wusste ich, dass dahinter der Fluss meiner Kindheit dahinströmte.

Und so war es. Im Näherkommen sah ich das graublaue Glitzern zwischen den Stämmen, und dann hörte ich das Plätschern, mit dem der kleine Fluss sich in den großen ergoss. Kurz darauf schmatzten die Hufe unserer Pferde im Uferschlamm. Ich konnte nicht anders: Ich saß ab, riss mir die Stiefel von den Füßen, watete ins Wasser und schaufelte mir ein paar Hände voll ins Gesicht. Nach mehr als zwölf Jahren stand ich zum ersten Mal wieder am Ufer dieses Flusses. Es fühlte sich an, als gehörte er mir. Ich lachte laut.

«Wenn Asselt stromaufwärts liegt, hast du dir gerade mit Dänenpisse das Gesicht gewaschen», kommentierte Lupus, der neben mich getreten war und im knöcheltiefen Wasser stand. Vor lauter Übermut gab ich ihm einen Tritt, dass er bäuchlings in den Fluss klatschte. Im Fallen riss er mich mit sich.

Nachdem wir uns eine Weile wie zwei junge Hunde im Wasser gebalgt hatten, kehrten wir zum Feldweg zurück und beschlossen, triefnass, wie wir waren, zu der Kirche zu reiten, deren Turm wie ein Wegweiser hinter einer kleinen Geländeerhebung aufragte.

Kaum hatten wir die Anhöhe hinter uns gelassen, kamen Gehöfte in Sicht. Und eine Brücke. Und zwei Männer, die davor Wache hielten. Meine Hand tastete nach dem Schwertknauf. Waren das Dänen?

Etwas an der Brücke war merkwürdig.

Es handelte sich um eine sehr einfache Holzkonstruktion, und während wir uns näherten, begriff ich: Es gab weder einen Bach noch einen Graben, den sie überspannte. Die Brücke stand einfach mitten auf dem Weg zwischen zwei Getreidefeldern. Als wir sie fast erreicht hatten, rückten die Wachen zusammen und senkten ihre Speere. Beide waren ziemlich dick und verschwitzt. Rüstungen und Helme trugen sie nicht. Sie wirkten, als hätte man sie hier postiert, weil sie sonst zu nichts zu gebrauchen waren. Diese Vermutung sollte sich bald erhärten.

«Brückenzoll!», rief der Rechte, als wir vor ihnen standen.

Lupus gab einen Laut von sich, der halb Räuspern und halb Lachen war.

«Und was soll das kosten?», fragte er.

«Einen Denar pro Nase», sagte der Linke.

«Zwei Denare dafür, dass wir beide diese Brücke überqueren dürfen, anstatt außen dran vorbeizureiten?», fragte ich ungläubig.

«Vier Denare», erwiderte der Wächter ungerührt.

«Wieso denn jetzt vier?», fragte Lupus gereizt.

«Pferdenasen sind auch Nasen. Seid lieber froh, dass wir nicht nach Beinen abrechnen.»

«Oder nach Ohren», ergänzte der Rechte.

«Blödsinn», sagte der Linke ungehalten. «Dann wär’s ja wieder billiger.»

«Wieso das denn? Die haben doch mehr Ohren als Nasen und genauso viele Ohren wie Beine!»

«Herrgott, ja, aber die Pferde haben mehr Beine als Ohren. Zähl doch mal durch.»

Während die beiden begannen, Körperteile an den Fingern abzuzählen, gab Lupus seinem Pferd die Sporen und ritt rechts an der Brücke vorbei, wobei das Tier ein paar Pferdeäpfel fallen ließ.

«Spart euch das Zählen!», rief er. «Wir verzichten auf die Brücke!»

«Geht nicht», sagte der linke Wächter. «Alle müssen die Brücke nehmen.»

«Und bezahlen», ergänzte der Rechte.

Lupus brach in lautes Lachen aus. Die Sache fing an, ihm Spaß zu machen. Er ritt zurück und baute sich wieder vor den Wächtern auf.

«Wer hat sich das überhaupt ausgedacht?», fragte er.

«Das hat sich niemand ausgedacht», sagte der linke Wächter, der jetzt leicht verunsichert wirkte. «Für Brücken zahlt man Brückenzoll. Das war schon immer so.»

«Und wer kriegt das Geld?», fragte Lupus.

«Gerwin. Dem gehört das hier schließlich alles.»

Lupus und ich tauschten einen Blick.

«Wie heißt denn der Ort?», fragte ich.

«Das wisst ihr nicht? Roermond.»

«Da wollten wir sowieso gerade hin», sagte Lupus. «Wir regeln das mit eurem Gerwin.»

Und bevor sie weiter protestieren konnten, ritt Lupus rechts an der Brücke vorbei und ich links.

«Halt!», schrie der linke Wächter hinter uns her und fuchtelte mit seinem Speer.

«Steckt euch eure dämliche Brücke doch in den Arsch!», rief Lupus.

Die Antwort war nicht mehr zu verstehen.

Roermond war etwas zu groß für ein Dorf und etwas zu klein für eine Stadt. Bauernhöfe, Werkstätten und Häuser mit Dächern aus Ziegeln und Stroh gruppierten sich um einen kleinen Platz. Wir fragten einen Bauern nach Gerwin und erfuhren, dass er nicht nur der Besitzer des ganzen Ortes war, sondern auch der Priester der Kirche, deren Turm wir vom Flüsschen aus gesehen hatten und die dem heiligen Servatius geweiht war. Schon allein dieser Umstand ließ heimatliche Gefühle in mir aufwallen. Es war ein Steinbau mit dicken Mauern und einem imposanten Glockenturm, in dem man sich zur Not auch verschanzen konnte. Vielleicht war es ganz gut, das schon einmal zu wissen.

Wir fanden Gerwin in der Kirche. Er war gerade dabei, ein paar neue Kerzen aufzustecken, ein kräftiger Kerl mit krausen schwarzen Haaren und einem wilden Bart, der kein Priestergewand trug, sondern ein Hemd und eine Hose aus grobem Leinen. Es war leichter, ihn sich mit einer Axt in der Hand vorzustellen als mit einem Messbuch.

Gerwin wusste gleich, was unser Besuch zu bedeuten hatte. «Gehört ihr zu den Leuten, die Graf Heinrich schicken wollte?», fragte er. Er sprach langsam und hatte eine sehr tiefe Stimme. Offensichtlich war er ein Mensch von der Sorte, die durch nichts aus der Ruhe zu bringen war.

Wir bestätigten es und erklärten kurz, wie unser Auftrag aussah und wie wir hergefunden hatten. Gerwin begann zu grinsen, als wir mit unserem Bericht bei seiner Brücke angekommen waren.

«Und? Habt ihr bezahlt?», fragte er.

«Natürlich nicht», sagte Lupus. «Wie kommen die denn dazu?»

«Na ja», sagte Gerwin. Es schien ihm fast ein bisschen peinlich zu sein. «In der Nähe gab es mal eine richtige Brücke über die Roer. Seit den Zeiten meines Urgroßvaters hat meine Familie das Recht, dort den Zoll zu kassieren. Das war immer recht einträglich, in Friedenszeiten geht ja viel Verkehr an der Maas entlang. Vor ein paar Jahren wurde die Brücke bei einem Hochwasser weggespült. Ich hatte nicht die Mittel, um sie wiederaufzubauen. Und weil in dem Privileg nur von einer Brücke an der Roer die Rede ist, aber nicht von einer Brücke über die Roer ...»

«... dachtest du, du versuchst es mal», vollendete ich. «Warum lässt du die Brücke nicht einfach weg und nennst es Wegezoll?»

«Weil im Privileg ausdrücklich von Brückenzoll die Rede ist. Für Wegezoll habe ich kein Recht.»

«Gut, dass ich nicht lesen kann», murmelte Lupus kopfschüttelnd. «Bei diesen Haarspaltereien wird man ja wahnsinnig.»

«Ich muss auch sehen, wo ich bleibe», wehrte sich Gerwin. «Seit die Dänen hier ihr Unwesen treiben, kommt sowieso fast kein Geld mehr rein.»

Womit wir wieder beim Thema waren.

«Wie weit ist denn die Festung in Asselt?», fragte ich.

«Man kann sie von hier aus sehen. Kommt mit.»

Gerwin führte uns durch eine Tür in den Kirchturm und dann über steile, enge Treppen und wackelige Leitern in den Glockenstuhl. Es war dunkel und roch nach Staub. Lupus stieß sich den Kopf so heftig an einer Glocke an, dass sie einen Ton von sich gab. Dann klappte Gerwin einen Holzladen auf. Sonnenlicht flutete herein.

Ich trat an die Luke. Was ich sah, war überwältigend. Unter uns floss die Maas dahin. Roermond lag an ihrem rechten Ufer, auf der anderen Seite erstreckten sich bis zum Horizont Felder und Wälder. Kurz hinter dem Ort teilte der Fluss sich in zwei Arme, die eine halbe Meile weiter nördlich wieder zusammenfanden. Und auf dieser kleinen Insel, in etwa zwei Meilen Entfernung, befand sich eine burgartige Anlage mit mehreren Türmen und Nebengebäuden. Aus einigen Schornsteinen stieg Rauch auf. Überall waren Gerüste zu sehen, und ich glaubte, von ferne sogar Hammerschläge zu hören. Der Ausbau war offenbar in vollem Gange.

Beeindruckender als die Pfalz selbst war der Betrieb, der im Heerlager herrschte: Das Ufer der Insel war mit Schiffen geradezu gespickt, mindestens drei Dutzend Rümpfe lagen dort auf dem Strand. Zwischen dem Wasser und den Mauern der Pfalz standen Zelte in langen Reihen, dazwischen kreuz und quer abgestellte Wagen und aufgeschichtetes Feuerholz. Auf einer Weide grasten Pferde. Hunderte von Gestalten liefen auf den Mauern, auf den Türmen und am Strand herum. Was sich innerhalb der Mauern abspielte, war von hier aus nicht zu sehen, aber es war klar, dass es noch viel mehr Männer sein mussten, die diese Anlage im Ernstfall verteidigen würden – erst recht, wenn sie die Trupps zurückriefen, die sich in der weiteren Umgebung noch herumtrieben, oder wenn sie Verstärkung über den Fluss heranholten.

«Habt ihr keinen Ärger mit den Dänen hier, wenn sie so nah sind?», fragte ich.

«Nicht, solange wir bezahlen», antwortete Gerwin. «Wir liefern jeden Tag eine Wagenladung Getreide und zwei Fässer Bier, und dafür lassen sie uns in Ruhe. Das machen alle in der Gegend so. Sie pressen uns nur so weit aus, dass uns gerade noch genug zum Leben bleibt. Sie entführen keine Kinder und vergewaltigen keine Frauen. Das ist schon mal eine Verbesserung gegenüber der ersten Zeit. Außerdem lassen sie die Händler rein. Für die lohnt sich das richtig. Die Dänen zahlen gute Preise.»

«Warum bezahlen sie überhaupt?», fragte Lupus.

«Weil sonst keiner mehr kommen würde. Im Umland kriegen sie nur das, was hier auch hergestellt wird. Aber Getreide, Obst, Gemüse, Käse, Fleisch und Fisch reichen ihnen nicht. Die Herren haben es gern komfortabel, und Geld haben sie ja genug. Also kaufen sie Federbetten, Seidenkleider, Jagdhunde, Moselwein, Gewürze und Schmuck für ihre Frauen. Einer ihrer Anführer hat neulich einen Zwerg gekauft. Zur Belustigung.»

«Moment», unterbrach ihn Lupus. «Die haben Frauen im Lager?»

«Natürlich. Die sind seit einem halben Jahr hier. Die Frauen haben sie nachkommen lassen. Sie kaufen übrigens nicht nur, sie verkaufen auch», fuhr Gerwin fort. «Alles, womit sie nichts anfangen können. Vor allem Beute aus den Klöstern, also Altargeräte, Messgewänder und Bücher.»

Diesmal wurde ich hellhörig. Doch bevor ich nachfragen konnte, sprach Gerwin schon weiter: «Manchmal verkaufen sie auch Gefangene als Sklaven. Neulich ist eine ganze Ladung auf der Maas nach Verdun abgegangen. Den christlichen Händlern ist es natürlich streng verboten, die zu kaufen, aber derzeit nimmt das keiner so genau. Angeblich schneiden sie den Gefangenen die Zungen raus, damit sie nicht mehr bezeugen können, dass sie Christen sind. Und bevor jemand genauer hinschauen kann, sind sie schon in Spanien.»

Seine mitleidlos dahergesagten Worte jagten mir einen Schauer über den Rücken. Genau das hätte auch meiner Schwester passieren können. Beim Anblick des Lagers kochte wieder die Wut in mir hoch, mit der ich Ivar, ihren Entführer, drei Monate lang verfolgt hatte. Wir mussten dieses Pack aus dem Land jagen.

«Also», schloss Gerwin. «Ihr geht da rein und gebt euch als Händler aus. Ich besorge euch einen Wagen und ein paar Waren, die sie interessieren könnten. Die fühlen sich völlig sicher in ihrem Lager. Ihr könnt euch in Ruhe umschauen. Vielleicht laden sie euch sogar zu einem Gelage ein.»

Lupus warf mir einen Blick zu. «Das wäre doch was für uns, oder? Saufen und Weiber. Wie damals in Trier.»

Ich nickte zögerlich. Es gab noch ein Problem, das mir schon seit Tagen nicht aus dem Kopf ging: Als ich in Koblenz mit Ratwin ins Kastorstift gegangen war, um mit Ivar zu verhandeln, hatten Hunderte von Dänen uns gesehen, und viele von ihnen trieben sich jetzt hier herum. Zwar hatte ich mir auf der Reise den Bart wachsen lassen, aber es war nicht ausgeschlossen, dass einer von ihnen mich trotzdem wiedererkennen würde.

«Kein Problem», sagte Lupus, nachdem ich meine Bedenken dargelegt hatte. «Ich weiß schon, wie wir’s machen.» Er grinste mich an und gab ein tiefes Brummen von sich.

Ich blickte ihn entsetzt an und schüttelte den Kopf. «Nein.»

Lupus schlug vor Vergnügen die Faust in die flache Hand. «Doch. Tankred, der tanzfreudige Tatzenträger aus Tongern, und Lupus, der lustige Liedersänger aus dem lieblichen Lüttich. Mein Gott, werden wir denen einheizen!»