D en nächsten Morgen verbrachte Lupus mit Ausnüchtern, während ich wieder auf den Kirchturm stieg und das Lager beobachtete. Es war ein wolkenverhangener Tag. Ein böiger Westwind ließ die Luken am Glockenstuhl klappern. Auch heute herrschte reger Verkehr auf der Uferstraße, und die Arbeiten auf den Gerüsten gingen weiter. Die Schiffe lagen am Strand wie am Vortag. Konnte man statt der Pfalz vielleicht die Flotte in Brand stecken und die Dänen dann einfach auf ihrer Insel aushungern?
Als ich gerade wieder nach unten steigen wollte, sah ich einen Trupp von Reitern, der sich von Osten her näherte. Sie sprengten ein Stück hinter der Fähre in den Fluss, der dort bis zu den Bäuchen der Pferde reichte, und arbeiteten sich durch das Wasser auf die andere Seite vor. Dabei hinterließen sie eine Schaumspur, die von der Strömung davongetragen und aufgelöst wurde. Es gab also eine Furt. Gut, das zu wissen.
Lupus hatte gerade mit dem Händler abgerechnet, als ich wieder nach unten kam. Nachdem der Friese verschwunden war, ließ Gerwin sich Bericht erstatten, dann führte er uns in eine Kammer in seinem Haus, damit wir die nächsten Nächte nicht im Schuppen verbringen mussten.
«Kotzt mir bloß nicht die Bude voll», brummelte er, während er ein paar Strohsäcke auslegte.
Da wir am Vortag genug gesehen hatten, beschlossen wir, in Roermond zu bleiben und Pläne zur Eroberung der Pfalz zu erörtern, die wir Arnulf von Kärnten und Heinrich von Babenberg unterbreiten könnten. Lupus plädierte dafür, durch die Furt zu reiten, das Lager zu verwüsten und die Schiffe zu zerstören, bevor sie Gegenmaßnahmen ergreifen konnten.
«Wenn wir schnell genug sind, sind wir auf der Insel, bevor sie das Tor verrammeln können. Wir könnten einfach reinstürmen.»
«Dann sperren sie uns dort ein und nehmen uns von den Mauern aus von allen Seiten unter Beschuss», wandte ich ein.
«Meister Petz, der Bedenkenträger», sagte Lupus. «Da ist er wieder.» Dann hellte sein Gesicht sich auf. «Wie war das noch mal mit dem trojesischen Pferd?»
Ich begriff, worauf er hinauswollte, und schüttelte energisch den Kopf.
«Warum nicht?», fragte Lupus. «Wir schenken ihnen den Bären. Als kleine Aufmerksamkeit, weil der Auftritt ihnen so gut gefallen hat. Und in der Nacht steigst du aus dem Pelz, schleichst dich zum Tor und machst von innen auf.»
«Wieso ich?», sagte ich schnippisch. «Mach du es doch. Es ist deine Idee.»
Und schon gefiel der Plan ihm ein bisschen weniger gut. «Die haben wahrscheinlich überall Wachen aufgestellt.»
«Was du nicht sagst.»
«Gut, also nicht.»
Wir berieten weiter hin und her. Ich lieh mir von Gerwin eine Wachstafel und zeichnete einen groben Plan der Insel mit der Festung auf. Aber wie man es auch drehte und wendete: Mit ein paar Hundert Reitern würde es schwierig werden, sie einzunehmen. Sobald wir auf der Insel waren, würden wir von den Mauern aus beschossen werden. Es gab keine Stelle, an der der Landstreifen breit genug war, um außerhalb der Reichweite ihrer Bogenschützen zu gelangen, es sei denn, wir drängten uns am Ufer zusammen. Und auch wenn es uns gelang, an die Schiffe heranzukommen, konnten sie uns mit einem Ausfall den Rückweg zur Furt verlegen.
«Vielleicht gibt es noch eine zweite Furt an der Landspitze», sagte Lupus. «Wir wären sofort bei den Schiffen, und sie könnten uns nur von der Schmalseite der Festung aus beschießen, außerdem ist die Entfernung größer. Und wenn die Schiffe erst mal in Flammen stehen, sehen sie nichts mehr. Wenn sie rauskommen, hauen wir ab, ohne dass sie uns den Weg versperren können.»
Das klang besser.
«Und wie finden wir heraus, ob das Wasser flach genug ist?», fragte ich.
«Indem wir in der Nacht rüberschwimmen.»
«Kannst du denn schwimmen?»
«Nein, aber du, wie wir wissen.»
Gegen Abend hatten die Wolken sich verzogen. Als es völlig dunkel geworden war, machten wir uns zu Fuß auf den Weg. Es war nicht schwer, der Uferstraße zu folgen, denn trotz der Dunkelheit glänzte der Fluss im Sternenlicht.
Nach einer halben Stunde kamen, halb verborgen von den Zelten, die Lagerfeuer auf der Insel in Sicht. Auch an der äußersten Landspitze brannte ein Feuer. Das mussten die Schiffswachen sein.
Stimmen wehten herüber, aber kein Geschrei. Wahrscheinlich waren die Dänen vom Gelage des Vorabends noch angeschlagen, oder sie hatten ihre Biervorräte vollständig geleert. Betrunken wären sie mir lieber gewesen.
Ein Pferd schnaubte. Es platschte, als jemand etwas ins Wasser warf. Ein paar Enten flatterten schnatternd auf.
Ein paar Hundert Schritte vor der Insel schlugen wir uns am Ufer in die Büsche und beobachteten, was sich drüben tat. Die meisten von ihnen schienen sich schon hingelegt zu haben. Ab und zu stapfte ein Schatten vor einem der Feuer hin und her. Die Schiffe lagen am Ufer wie riesige Amphibien, die im Schutz der Dunkelheit aus dem Wasser gekrochen waren, um zu fressen. Von den Ecktürmen warfen ein paar Fackeln schimmernde Flecken auf den Fluss.
Ich riss einen Zweig von einem der Büsche ab und warf ihn ins Wasser, um die Geschwindigkeit der Strömung abzuschätzen. Sehr langsam schwebte er davon, aber das musste nicht viel heißen, denn weiter zur Mitte hin floss das Wasser wahrscheinlich schneller. Der Rückweg würde anstrengend werden. Falls sie mich entdeckten, würde ich lange brauchen, bis ich außer Sicht gelangte, und wenn sie schnell genug waren, konnten sie herüberkommen und das Ufer nach mir absuchen. Aber ich musste es riskieren.
Während ich mich auszog, bereute ich es, dass wir die Pferde nicht mitgenommen hatten. Wir hatten sie in Roermond im Stall gelassen, weil wir befürchtet hatten, dass sie uns durch Schnauben und Wiehern verraten könnten.
Ich setzte den ersten Fuß ins Wasser. Der Uferschlamm quoll zwischen meinen Zehen durch und umfasste meinen Knöchel wie eine kühle Hand.
Plötzlich quakte dicht neben mir eine Ente. Es klang so echt, dass ich eine Sekunde brauchte, um zu begreifen, dass es Lupus war. Dieses Talent hatte ich noch gar nicht an ihm gekannt. Seine Zähne schimmerten auf, als er grinste.
«Damit du zurückfindest», sagte er.
Und wenn an der falschen Stelle eine richtige Ente quakt, dann kann ich mit einer Horde Dänen auf den Fersen nackt nach Roermond zurückrennen, dachte ich. Aber ich sagte nichts, sondern nickte nur und machte einen weiteren Schritt, dann noch einen. Meine Füße ertasteten Wasserpflanzen und glitschige Steine. Das Wasser war kühl, aber lange nicht so kalt, wie die Mosel kurz nach Ostern gewesen war. Langsam und tastend bewegte ich mich voran, immer auf das Lagerfeuer an der Landspitze zu. Das Ufer fiel an dieser Stelle flach ab und reichte mir auch nach zehn Schritten nur bis zu den Knien. Die Maas beschrieb vor der Gabelung in zwei Arme einen leichten Knick nach rechts, sodass ich mich an der Innenseite der Biegung befand. Das war ein Vorteil: Flüsse sind an den Außenseiten solcher Biegungen meistens tiefer, weil das Wasser den Uferbereich an den Prallhängen stärker auswäscht. Mit etwas Glück war der rechte Nebenarm tatsächlich so seicht, dass man nicht nur unterhalb der Fähre hindurchreiten konnte, sondern auch hier.
Nach zwanzig Schritten hatte der Wasserstand meine halben Oberschenkel erreicht, dann wurde es plötzlich tiefer, sodass ich die Richtung etwas änderte und ein Stück parallel zum Ufer watete. Der Winkel zum Feuer wurde steiler. Ich erkannte mehrere Männer, die dort hockten. Der Feuerschein schillerte auf dem Wasser, und ich fürchtete, sie könnten mich sehen. Gebückt arbeitete ich mich bis zu einer Stelle vor, an der ein Bootsrumpf den Lichtschein verbarg. Auch das Lager war jetzt näher gekommen, aber die vielen Zelte verdeckten die Sicht für mich wie auch für die Dänen, die dort wahrscheinlich noch saßen oder lagen.
Auf Höhe der Landspitze angekommen, wandte ich mich in Richtung Flussmitte. Wieder fiel der Grund ab, und das Wasser stieg mir bis zum Bauchnabel, dann bis zur Brust. Auch die Strömung wurde stärker, sodass ich viel Kraft aufwenden musste, um mich dagegenzustemmen. Ich schwamm ein paar Züge, tastete nach dem Boden, berührte ihn, schwamm weiter. Als ich die Mitte des Seitenarms erreicht hatte, strichen meine Füße nur noch über große Steine, was die Durchquerung zu Pferd auch nicht einfacher machen würde, doch immerhin hatte ich die tiefste Stelle offenbar passiert und fand bald wieder festen Halt. Über das leise Gluckern hinweg hörte ich die Stimmen der beiden Wächter.
Noch etwa zwanzig Schritte trennten mich vom Ufer. Ich hätte umkehren können, doch der Reiz, sie eine Weile zu beobachten, war größer. Vielleicht würde ich noch etwas in Erfahrung bringen, was uns von Nutzen sein könnte, etwa die genaue Anzahl der Wachen; immerhin bestand ja die Möglichkeit, ein paar Bogenschützen vorauszuschicken, um sie aus der Deckung der Schiffe heraus zu erledigen und damit den Alarm zu verzögern. Doch wenn ich ehrlich bin, war es vor allem das Wagnis, das mich reizte, das Bedürfnis, mir selbst zu beweisen, dass ich geschickt genug war, an sie heranzukommen, wann immer ich das wollte. Ja, vielleicht war ein bisschen Eitelkeit im Spiel, als ich beschloss, im Schatten der Schiffsrümpfe noch einen Blick auf die Wachen und das Lager zu riskieren.
Also watete ich weiter. Doch als das Wasser mir nur noch bis zum Bauchnabel reichte, blieb ich an einer Schlingpflanze hängen, stolperte nach vorn und landete bäuchlings im Fluss, dass es platschte. Ich ging in die Hocke, sodass nur noch mein Kopf herausragte. Hielt den Atem an. Lauschte.
Das Gespräch war verstummt. Einer rief etwas, das wie eine Frage klang. Stille. Noch einmal die gleiche Frage, drängender diesmal. Vorsichtig schob ich mich voran, um in den toten Winkel hinter den Schiffsrümpfen zu kommen.
Auf der Insel stand jemand auf. Ich hörte Schritte auf Kies, die sich allerdings nicht näherten, sondern entfernten. Eine Weile herrschte wieder Stille. Ich erreichte einen der Rümpfe, dessen letztes Viertel im Wasser lag, drückte mich eng an das Holz und lauschte wieder. Platschende Schritte verrieten, dass jemand in den Fluss stapfte. Schließlich nahm ich meinen Mut zusammen, richtete mich auf und spähte über die Bordwand.
Am Feuer saß, eingehüllt in eine Decke, ein Däne, der mit gerecktem Hals zur Spitze der Insel blickte. Dort stand ein anderer im knietiefen Wasser und zerrte an einer der Fischreusen. Ich tauchte wieder ab und atmete auf.
Erneut die Schritte des Dänen im Wasser, dann auf Kies, dann ein Ächzen, als er sich niederließ, und ein paar gemurmelte Sätze. Jemand rief etwas vom Turm herab. Eine Antwort schallte von irgendwoher. Im Lager wurde gelacht.
Gab es eine Möglichkeit, die Gefangenen aus dem Keller zu befreien? Das Verlies befand sich unter dem Saalbau, und es hatte auf beiden Seiten Fensterschlitze. Da das Gebäude bündig mit der Umfassungsmauer abschloss, mussten zumindest die Öffnungen auf der einen Seite direkt nach draußen münden. Vielleicht gab es irgendwo eine Stelle, die breit genug war, um sich dort hindurchzuzwängen, die Verschläge zu öffnen und die Gefangenen mit einem Seil ins Freie zu ziehen. Der Saalbau lag auf der vom Lager abgewandten Seite. Wenn dort keine Feuer brannten, wäre es dunkel genug, sich bis an die Mauer zu schleichen. Vielleicht lohnte es sich, einmal auf die andere Seite der Insel zu schwimmen. Ich beschloss, es zu versuchen. Allerdings würde ich einen weiten Bogen um die Insel schlagen müssen, um außerhalb des Feuerscheins an der Landspitze zu bleiben.
Ich richtete mich wieder auf, um über die Bordwand einen letzten Blick auf das Feuer und die Wachen zu werfen.
Leider genau im falschen Augenblick.
Als ich den Kopf hob, sah der Däne, der die Fischreusen kontrolliert hatte, in meine Richtung. Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke; ich zog den Kopf sofort zurück, aber es war zu spät. Er schrie etwas, und ich hörte, wie die beiden aufsprangen und auf die Reihe der Schiffe zuliefen.
Ich rannte los, ohne noch darauf zu achten, keinen Lärm zu machen. Das Wasser spritzte in alle Richtungen, und als es meine Oberschenkel erreicht hatte, stürzte ich mich kopfüber hinein und begann, von der Insel wegzuschwimmen. Mit einem Blick über die Schulter sah ich, dass die beiden in eins der Schiffe gesprungen waren und mit einer Fackel ins Wasser leuchteten; wahrscheinlich vermuteten sie, dass ich nicht allein war. Auch im Lager erhoben sich Rufe, noch mehr Fackeln erschienen und bewegten sich schwankend und hüpfend zum Ufer.
Ich war im rechten Winkel von der Insel weggeschwommen, um schneller Abstand zu den Dänen zu gewinnen, und dabei war ich schon ein ganzes Stück abgetrieben worden. Es würde zu lange dauern, gegen die Strömung bis zu Lupus zurückzuschwimmen, also entschied ich, flussabwärts zu verschwinden, um so schnell wie möglich für sie unsichtbar zu werden. Doch sie begriffen es sofort und rannten zur Fähre, von der mich noch etwa zweihundert Schritte trennten. Wenn es ihnen gelang, den Kahn in die Mitte des Flusses zu bugsieren, würden sie ihn am Seil einfach an die Stelle ziehen können, an der sie mich aus dem Wasser fischen konnten. Und wenn ihnen das nicht gelang, würden sie übersetzen, sich mit ihren Fackeln am Ufer verteilen und mich am Strand verfolgen. Meine einzige Chance bestand darin, bis zu der Stelle zu kommen, an der die beiden Flussarme wieder zusammenfanden, an der anderen Seite an Land zu klettern und zu hoffen, dass sie von der Insel aus nicht schnell genug dort hinkamen.
Ich schwamm um mein Leben. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie mindestens ein Dutzend Männer mit Fackeln am Ufer entlangrannten. Als mich noch hundert Schritte von der Fähre trennten, sprangen sie schon an Bord.
Achtzig Schritte. Hektisches Hantieren mit Seilen auf der Fähre.
Sechzig Schritte. Immer noch setzte der Kahn sich nicht in Bewegung. Stattdessen wurde jetzt gestikuliert und geschrien.
Vierzig Schritte. Sie schienen ein Problem zu haben. Vor mir peitschte im Fackellicht etwas über die Wasseroberfläche.
Zwanzig Schritte. Die Fähre bewegte sich immer noch nicht. Fäuste wurden geschüttelt und Flüche gebrüllt.
Dann war ich vorbei. Mit ein paar schnellen Schwimmstößen hielt ich auf das andere Ufer zu und war bald von Dunkelheit umgeben. Nur das Geschrei verfolgte mich weiter.
Dann hatte ich wieder Boden unter den Füßen: Steine, Schlingpflanzen, Schlamm und Sand. Keuchend taumelte ich an Land und ließ mich auf das Ufergras fallen.
Neben mir quakte eine Ente. Lupus lachte und warf mir ein Bündel hin. «Zieh dich an und dann nichts wie weg, bevor sie die Pferde holen.»
Das Geschrei auf der Insel wurde immer lauter. Wahrscheinlich war inzwischen das ganze Lager auf den Beinen. Immer mehr Fackeln erschienen.
«Warum kommen sie nicht rüber?», fragte ich.
«Weil ich das Fährseil gekappt habe», sagte Lupus.
Dann rannten wir los.