8

N achdem ich mich in Gerwins Haus am Feuer aufgewärmt hatte, besprachen wir, was ich beobachtet hatte. Die Festung würden wir allein mit den Reitern nicht stürmen können; sie würden absitzen müssen und so den Vorteil verlieren, den sie im offenen Kampf hatten. Aber ein schneller Überfall auf den Landeplatz und das Lager würde eine verheerende Wirkung haben, auch wenn die Furt wegen des steinigen Untergrundes für die Pferde schwer zu durchqueren war. Nach kurzer Erörterung verwarfen wir die Idee, die Wachen mit ein paar Schüssen zu erledigen. Es würde kaum ohne Gebrüll und Geröchel abgehen, das von den Türmen aus bemerkt werden würde. Spätestens wenn die Reiter ins Wasser stürmten, wäre ohnehin das ganze Lager auf den Beinen, und auf die beiden Wachen am Feuer kam es dann auch nicht mehr an.

«Versuchen wir’s trotzdem?», fragte Lupus.

«Ich werd’s Arnulf und Heinrich vorschlagen, wenn sie hier sind», sagte ich.

«Was ist mit den Gefangenen? Wir brauchen ein Boot, um sie von der Insel zu holen.»

«Das ist das kleinere Problem. Ich weiß nicht, ob sie durch die Lichtschlitze passen. Wahrscheinlich sind Gitter davor. Ich muss mir das anschauen, aber in den nächsten Tagen sollten wir die Dänen in Ruhe lassen.»

«Du hättest sie nicht aufscheuchen dürfen. Jetzt sind sie gewarnt.»

«Ich weiß», sagte ich und ärgerte mich über meinen Übermut. Wenn ich nach der Entdeckung der Furt einfach zurückgeschwommen wäre, würden sie sich weiter in Sicherheit wiegen. Stattdessen waren sie jetzt noch vorsichtiger geworden. Wahrscheinlich würden sie die Wachen auf allen Seiten der Insel verstärken.

 

Wie sich am nächsten Tag zeigte, kam es noch schlimmer. Als ich in aller Frühe auf den Kirchturm stieg, sah ich wimmelnde Betriebsamkeit. Vielleicht vermuteten sie, dass mein nächtlicher Besuch ihren Schiffen gegolten hatte, jedenfalls machten sie sich abfahrbereit. Masten wurden aufgerichtet und Ruder eingeladen. Eine Menschenkette reichte Bündel zu den Schiffen durch. Ganz offensichtlich wollten sie sie in Sicherheit bringen. Wenn die Schiffe erst außer Sichtweite verschwunden waren, konnten sie jederzeit und überall wieder auftauchen und Hunderte von Männern an Land setzen, die uns in den Rücken fallen würden. Unser Vorhaben, die Schiffe in Brand zu stecken, war damit hinfällig. Und obwohl ich nicht wusste, ob das wirklich meine Schuld war, ärgerte ich mich über mich selbst.

Den ganzen Vormittag über pendelte die Fähre hin und her und brachte Männer, Pferde und Wagen auf die Insel, die wie ein nicht endendes Rinnsal von Norden über die Uferstraße herankamen. Auch wenn sie aus der Entfernung nur als ameisenkleine Gestalten zu erkennen waren, konnte es sich nicht ausschließlich um Händler und Lieferanten handeln, denn dafür waren es viel zu viele. Ganz offensichtlich holten die Dänen die in den weiter nördlich gelegenen Dörfern einquartierten Abteilungen zurück, um die Schiffe zu bemannen. Währenddessen zogen Wolken auf.

Am frühen Nachmittag war es so weit: Ein Schiff nach dem anderen wurde ins Wasser geschoben und drehte sich im leichten Südwind in die Strömung. Gestreifte Segel sackten nach unten und blähten sich zögerlich. Ruder wurden eingelegt, fanden ihren Takt und lenkten die Flotte auf beiden Seiten der Insel zügig stromabwärts. Nach einer halben Stunde lag der Strand an der Südspitze der Insel verlassen da.

Während ich den letzten Nachzüglern hinterherblickte, begann die Leiter unter mir zu knarren. Kurz darauf erschien Gerwins bärtiges Gesicht in der Bodenluke.

«Besuch», sagte er nur.

«Wer?», fragte ich.

«Dieser hochnäsige Babenberger und das Großmaul aus Kärnten.»

Das kam etwas überraschend, war aber zu erwarten gewesen. Die beiden hatten nur Reiter dabei, mussten also fast genauso schnell gewesen sein wie wir. Und wenn sie die ganze Vorhut mitgebracht hatten, dann mussten die dänischen Kundschafter sie bemerkt haben. Vielleicht war das der wahre Grund für die Eile, mit der die Dänen Verstärkung heranholten und die Schiffe in Sicherheit brachten. In diesem Fall würde man mir nicht vorwerfen können, sie durch mein unvorsichtiges Verhalten in der vergangenen Nacht gewarnt zu haben. So oder so würde es aber noch schwieriger werden, sie zu überrumpeln. Und für mich bedeutete die Ankunft der beiden Anführer, dass es mit den Eigenmächtigkeiten vorbei war. Von nun an würde ich Rechenschaft ablegen müssen.

Am Horizont verschwanden die letzten Segel hinter einer Flussbiegung, die von einer flachen Anhöhe verdeckt wurde. Ohne die Schiffe sah die Pfalz Asselt gleich mehr wie eine Festung aus und weniger wie ein geschäftiger Anleger. Die Mauerkrone und die Türme waren mit Wachen gespickt.

Ich löste mich von dem Anblick und folgte Gerwin in die Sakristei der Kirche, die im untersten Geschoss des Turmes untergebracht war.

Der Raum war spärlich eingerichtet und wurde an drei Seiten von Rundbogenfenstern erhellt, die durch eilig eingemauerte Ziegelsteine zu Schlitzen verengt waren – wohl eine verzweifelte Vorkehrungsmaßnahme aus der Zeit der Ankunft der Dänen im vergangenen Herbst. An den Wänden standen ein paar Schränke, die wahrscheinlich einmal Paramente, Gewänder und Messbücher enthalten hatten und inzwischen längst von den Plünderern geleert worden waren. Von der Decke hing ein kleiner Radleuchter aus Holz, auch er vielleicht nur Ersatz für ein schöneres Exemplar aus besseren Zeiten.

In der Mitte des Raumes stand ein schartiger Holztisch. Die beiden Männer, die an diesem Tisch saßen und mir erwartungsvoll entgegensahen, hätten sich nicht als Angehörige der kaiserlichen Entourage vorstellen müssen: Über den Kettenhemden trugen sie Überwürfe aus fein gewebtem Stoff, der bei dem einen in roten und weißen Streifen gemustert war und bei dem anderen in ineinandergreifenden blauen und weißen Rauten. Sie trugen Stiefel mit silbernen Sporen und Waffengürtel mit Goldbeschlägen, und ihre Schwerter hatten tauschierte Griffe. An den Fingern glänzten Edelsteine in verschiedenen Farben. Der Gestreifte war schmal und hoch aufgeschossen, sein Gesicht lang und rechteckig, mit einem sorgfältig gestutzten Schnurrbart; der mit den Rauten war stämmig und etwas krumm, hatte ein verquollenes Gesicht, das durch den breiten Kinnbart dreieckig wirkte. Ich fragte mich, ob die beiden wohl die Brücke mit den Wächtern passiert hatten und ob diese es gewagt hatten, den Brückenzoll zu fordern.

Nach allem, was ich über Arnulf von Kärnten und Heinrich von Babenberg gehört hatte, war Heinrich ein besonnener Taktierer und Arnulf ein ungestümer Rabauke. Es war nicht schwer zu erraten, wer von ihnen wer war. Es würde interessant sein, zu sehen, ob sie sich mit diesen Eigenschaften eher ergänzen oder einander in die Quere kommen würden.

Gerwin stellte mich vor, dann zog er sich zurück, als hätten sie ihn zuvor angewiesen, uns allein zu lassen. Viel Wert schien er ohnehin nicht auf ihre Gesellschaft zu legen.

Als ich mich verbeugt und gesetzt hatte, schenkte Arnulf mir aus einer großen Kanne Bier ein, hob seinen eigenen Krug und trank mir zu, ohne irgendeine Höflichkeitsgeste abzuwarten. Dann rülpste er und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. Er schien nicht viel Wert auf Förmlichkeiten zu legen. Heinrich dagegen wirkte leicht pikiert. Vielleicht hatte er mehr Ehrerbietung erwartet.

«Wir hören», sagte Arnulf. Die Stimme schien nicht aus seinem Mund zu kommen, sondern aus den Tiefen seines voluminösen Brustkorbs.

Ich erstattete Bericht über die Beobachtungen, die ich vom Kirchturm aus und im Lager gemacht hatte, beschrieb den Flussverlauf, die Form der Insel, den Landeplatz, die Fähre und vor allem die Lage, die Größe und die Beschaffenheit der Festung. Ich machte Angaben über Stärke und Bewaffnung der Dänen und die Anzahl ihrer Schiffe sowie die dafür erforderliche Besatzung. Während ich sprach, zog Arnulf einen Dolch hervor und begann, nach meinen Angaben einen Lageplan in die Tischplatte zu ritzen. Ab und zu stellte er eine Zwischenfrage, was Heinrich jedes Mal mit einem leichten Anflug von Unmut quittierte, der sich wohl weniger auf die Frage selbst bezog als auf den Umstand, dass Arnulf sich zum Wortführer aufgeschwungen hatte und ihm, Heinrich, nur die Rolle des Zuhörers blieb.

Als ich mit meiner Beschreibung der örtlichen Gegebenheiten fertig war, ließ Arnulf sich einen genauen Bericht von unserem Besuch auf dem Fest im großen Saal der Pfalz geben. Mein Auftritt als zählender, rechnender und tanzender Bär belustigte ihn so sehr, dass er laut und kehlig zu lachen begann und mir auf die Schulter schlug.

«Zurück zur Sache», sagte Heinrich schmallippig. «Wer sind ihre Anführer?»

Ich nannte die Namen der sechs Dänen, die auf dem Podest gesessen hatten, und beschrieb, wie sie auf mich gewirkt hatten. Als ich bei Sven Knurhår mit seinem Hörnerhelm angekommen war, lachte Arnulf wieder sein lautes, kehliges Lachen.

«Was für ein Depp», sagte er kopfschüttelnd.

Nachdem ich geendet hatte, hieb Arnulf seinen Dolch in die Tischplatte und sagte: «Schauen wir uns das doch mal von oben an.» Wieder traf ihn ein ärgerlicher Blick von Heinrich.

Wir stiegen auf den Turm. Weil die Nordluke des Glockenstuhls zu schmal für uns drei war, ließ ich ihnen den Vortritt und begnügte mich damit, über ihre Schultern zu spähen. Es war ein merkwürdiger Anblick: Die beiden mächtigsten Anführer des kaiserlichen Heeres drängten sich gebückt an die schmale Öffnung wie Kinder, die auf die Ankunft des Milchwagens warten. Heinrich roch nach Duftwasser, Arnulf nach Bier.

Immer noch pendelte die Fähre, und immer noch liefen viele Gestalten herum. Doch etwas hatte sich verändert: Das Zeltlager wirkte ausgedünnt. Ich kniff die Augen zusammen, um die aus der Entfernung winzigen Farbtupfer besser zählen zu können. Tatsächlich, es waren weniger geworden. Sie hatten nicht nur die Schiffe abgezogen, sie bauten auch das Lager ab. Als ich Arnulf und Heinrich darauf aufmerksam machte, kniffen auch sie die Augen zusammen.

«Die schaffen alles in die Festung», sagte Arnulf. «Sie wissen, dass wir da sind.»

«Wenn deine Reiter heute Morgen nicht so einen Heidenlärm veranstaltet hätten ...»

«Schmarrn», unterbrach ihn Arnulf. «Wir haben ein paar Dörfer gesäubert. Dafür sind wir hier.»

«Wie viele Reiter habt ihr denn?», fragte ich.

«Dreihundert», antwortete Heinrich.

«Und wo sind die?»

«Südlich von hier.»

Wieder blickten wir eine Weile auf das Treiben im Lager. Wenn man länger hinschaute, sah man, wie die Zelte Stück für Stück verschwanden. Währenddessen zog sich der Himmel immer weiter zu. Der Wind schwoll an, und von Süden schoben sich dunkle Wolken heran. Ferner Donner rollte über uns hinweg. Es begann, in dicken Tropfen zu regnen.

Arnulf legte die Stirn in Falten und hieb mit der Faust gegen den Holzladen. Ich sah ihm an, dass es ihn in den Fingern juckte, sofort anzugreifen, aber bis die beiden ihre dreihundert Reiter zusammengerufen hatten, würde die ganze Insel bis auf die Festung geräumt sein. Die Gelegenheit zu einem Handstreich hatten wir um einen Tag verpasst; es sah ganz danach aus, als würden wir auf die Ankunft des Heeres warten müssen. Arnulf machte keinen Hehl daraus, dass ihm das nicht passte. Er hätte wohl am liebsten auf eigene Faust versucht, die Festung Asselt zu stürmen, um die Lorbeeren dafür allein einzuheimsen.

«Wir schießen den Kasten in Brand», knurrte er.

«Im Keller sind mehrere Dutzend Gefangene», gab ich zu bedenken.

Arnulf drehte sich um und musterte mich ungehalten. Mein tollkühner Einsatz im Bärenkostüm hatte mir seinen Respekt eingetragen, aber dieser Blick zeigte mir, dass ich seine Gunst auch schnell wieder verlieren konnte, wenn ich ihm in die Quere kam.

Heinrich sprang mir bei. «Wir können nicht alles niederbrennen, solange die Gefangenen da drin sind», sagte er barsch.

Arnulf wandte sich jetzt wieder ihm zu, halb belustigt und halb verärgert. «Warum nicht? Im Keller ist es kühl. Die werden das schon überleben, wenn es oben zwischendurch mal ein bisschen heißer wird. Was sind das überhaupt für Gefangene? Sollen wir wegen irgendwelcher Bauern ...»

«Angeblich ist ein Sohn des Bischofs von Lüttich dabei», unterbrach ihn Heinrich.

Zum Glück stand ich hinter ihm, sodass er nicht sah, wie ich die Augen aufriss. Franco von Lüttich hatte einen Sohn? Und der saß im Kellerverlies der Pfalz von Asselt? Wenn das wirklich stimmte, dann eröffneten sich für mich ganz neue Möglichkeiten.

«Oho, ein Sohn des Bischofs von Lüttich», spottete Arnulf. «Und weil der Bischof von Lüttich zu geizig war, das Lösegeld zu bezahlen, dürfen wir die Dänen nicht ausräuchern? Sollen wir den ganzen Krieg vielleicht nach den Vorstellungen des Bischofs von Lüttich führen?»

«Es sind Christen», sagte Heinrich ungehalten.

«Und wie viele Christen werden wohl noch sterben, wenn die Dänen uns entkommen, weil wir Rücksicht auf den depperten Sohn des depperten Bischofs von Lüttich nehmen mussten?» Je lauter Arnulfs Stimme geworden war, desto stärker war sein Akzent durchgekommen. Doch jetzt schien er sich zu besinnen, warf einen Blick über die Schulter zu mir und sprach leiser weiter: «Wir wissen doch beide, dass es hier nicht um ein paar Christen mehr oder weniger geht. Es darum, dass der Kaiser es sich mit den lotharingischen Bischöfen nicht verscherzen will. Aber mir ist es wurscht, wie die hier oben ihre Familienangelegenheiten regeln!»

Darauf gab Heinrich zunächst keine Antwort. Offenbar hatte Arnulf einen wunden Punkt getroffen. Und wieder einmal fragte ich mich, ob die Sache etwas mit der Annullierung von König Lothars Ehe zu tun hatte, bei der die lotharingischen Bischöfe eine wichtige Rolle gespielt hatten. Franco hatte auf den Synoden die Partei des Königs ergriffen und damit dazu beigetragen, dass Lothars unehelicher Sohn Hugo überhaupt Anspruch auf das Erbe seines Vaters erheben konnte. Falls Arnulf wirklich seinen Onkel beerbte, würde er sich mit Hugo herumschlagen müssen, und nicht nur mit ihm, sondern auch mit Bernhard, einem unehelichen Sohn des Kaisers, der in einem alemannischen Kloster aufgezogen wurde und vielleicht früher oder später auch noch auf die Idee kam, dass eine Krone ihm gut stehen würde. Andererseits war Arnulf selbst ein uneheliches Kind und würde im Fall eines Thronstreits möglicherweise von der Aufwertung des Konkubinats profitieren. So oder so war es ihm, anders als er behauptete, sicherlich alles andere als gleichgültig, wie man hier oben die Familienangelegenheiten zu regeln pflegte. Wahrscheinlich war er einfach darauf bedacht, sich einen schnellen Sieg auf die Fahnen schreiben zu können.

Und Heinrich? Hatte er selbst irgendwelche Ambitionen? Oder war er nur darauf aus, Arnulf aus Prinzip zu widersprechen und hinterher besser dazustehen, wenn es Ärger gab, weil Arnulfs Plan fehlgeschlagen war? Eitel und machtbewusst, wie er angeblich war, konnte ich mir kaum vorstellen, dass das Leben der Gefangenen ihn wirklich interessierte.

All das ging mir durch den Kopf, während die beiden verdrossen durch die Luke auf das Lager der Dänen starrten und das Unwetter mit Macht über uns hereinbrach. Der Wind steigerte sich zum Sturm, der Regen zum Wolkenbruch. Der Himmel hatte sich in kurzer Zeit so sehr verdunkelt, dass man meinen konnte, die Dämmerung sei hereingebrochen. Ein Blitz leuchtete auf, und der Donner krachte mir in die Ohren wie ein Faustschlag. Es klang, als würde ein großes Gebäude genau über uns zusammenstürzen.

«Wir sollten ein paar Reiter hinter den Schiffen herschicken», schrie Heinrich gegen das Heulen, Prasseln und Klappern an. «Vielleicht schlagen sie irgendwo ein neues Lager auf.»

Arnulf sagte nichts, sondern starrte fasziniert zur Insel hinüber, die nun mitten im Zentrum des Gewitters lag. Schleier aus Wasser wurden von den Böen hin und her geweht und zeichneten Muster auf den Fluss, der unter Millionen von einschlagenden Tropfen die grauschwarze Farbe von Glimmerschiefer annahm. Der Sturm zerzauste Bäume und Büsche, riss ganze Äste heraus und fegte sie über den Strand. Die verbliebenen Zelte im Lager waren in wogende Bewegung geraten, und einige Planen flogen als Fetzen davon. Winzige Gestalten rannten wimmelnd umher und verschwanden im Gemäuer.

Wieder dachte ich an die Gefangenen. Konnte es sein, dass der Keller des Saalbaus volllief, wenn die Sturzbäche von den Dächern und aus dem Hof stundenlang dem tiefsten Punkt zuströmten?

Ein erneuter Blitz durchschnitt meinen Gedankenfaden. Wie ein verästelter Riss aus bläulichem Licht ging er senkrecht durch den Himmel, schlug in den Turm an der Südostecke der Mauer von Asselt ein und sprengte die Gerüste in einem Feuerball auseinander, dass die Balken in alle Richtungen flogen.

«Nehmt das!», schrie Arnulf.

Obwohl der Sturm mit beängstigender Heftigkeit am Kirchturm rüttelte, konnte ich mich nicht vom Anblick der Landschaft lösen, die unter mir im Regen lag. Ein kleiner Wasserlauf, der kurz hinter Roermond in den Fluss mündete, war zu einem schäumenden Sturzbach angeschwollen, der Zweige und Erdschollen mitriss, übereinanderschob, ineinander verkeilte und darüber hinwegspülte. Das brachte mich auf einen Gedanken.

In der Schrift des Vegetius über das Militärwesen findet sich der Ratschlag, Flüsse durch das Ausheben von künstlichen Nebenläufen passierbar zu machen. Ich blickte auf den aufgewühlten Fluss unter mir, und in meinem Kopf begann eine wahnwitzige Idee, Gestalt anzunehmen: Wenn es gelang, knapp außerhalb der Reichweite der auf den Mauern vor der Südspitze der Insel postierten Bogenschützen einen Damm aufzuschütten und damit den Nebenarm abzusperren, dann würde der ganze Strom in den Hauptarm gezwungen. Durch den Wegfall der Strömung würde sich auf der gesamten Länge der Insel bis zum Zusammenfluss weiter nördlich ein lang gestreckter Tümpel bilden, der sich durch einen zweiten Damm auf Höhe der Nordspitze absperren und trockenlegen ließe, indem man das Wasser in eine Senke leitete, die sich ein paar Hundert Schritte weiter östlich erstreckte. Die Insel wäre keine Insel mehr, und die Festung würde auf der gesamten Ostseite ihren Flankenschutz einbüßen, sodass man das Belagerungsgerät ohne Hindernis vor die Mauern bringen konnte. Ein zusätzlicher Vorteil bestand darin, dass wir durch die Sperrung des Flussarms an unserer verwundbarsten Stelle vor den Schiffen der Dänen geschützt wären.

Der nächste Blitz ging schon ein ganzes Stück weiter nördlich nieder, der Donner folgte in einigem Abstand.

Arnulf und Heinrich hatten genug gesehen. Sie wandten sich von der Luke ab und stiegen wieder nach unten.

Während der Regen nachließ und der Himmel langsam wieder heller wurde, überlegte ich, ob mein Plan tatsächlich durchführbar wäre. Ich rechnete aus, wie viel Material für einen ausreichend breiten Damm gebraucht würde, was nicht besonders schwierig war, weil ich seit der vergangenen Nacht ja immerhin wusste, wie tief der Fluss an dieser Stelle war. Das größere Problem war wahrscheinlich die Strömung, denn je weiter wir den Damm vorantrieben, desto stärker würde das Wasser daran reißen. Erde, Kies und Sand würden weggespült werden, wir brauchten also möglichst große Steine, die schwieriger heranzuschaffen sein würden. Aber einen Versuch schien es mir wert zu sein. Eine Belagerung der Festung auf ihrer Insel konnte Wochen oder Monate dauern, und wenn die Männer in dieser Zeit ohnehin nur herumsaßen, dann konnten sie genauso gut Steine verladen und Fuhrwerke lenken. Entschlossen, Arnulf und Heinrich meinen Vorschlag zu unterbreiten, schlug ich die Luke zu und stieg hinunter.

Als ich die Sakristei betrat, saßen die beiden wieder hinter ihren Bierkrügen und schnitzten auf der Tischplatte herum, um ein paar Einzelheiten der Zeichnung an ihre Beobachtungen anzupassen. Draußen rauschte weiter der Regen herab. Das Donnergrollen war inzwischen weit entfernt.

Wie erwartet, war Arnulf gleich Feuer und Flamme für meine Idee. Sein Unmut über die von Heinrich geforderte Rücksichtnahme gegenüber den Gefangenen war verflogen. Wahrscheinlich witterte er die Möglichkeit, dem Kaiser meinen Einfall als seinen eigenen zu verkaufen. Vielleicht begann er, das sogar selbst schon zu glauben. Angesichts des hohen Ansehens, das Arnulf genoss, würde es schwierig werden, das richtigzustellen, ohne ihn gegen mich aufzubringen. Während ich redete, schob er mir einen vollen Krug zu.

Zum Abschluss meiner Ausführungen rechnete ich ihnen vor, wie viele Wagenladungen mit Steinen erforderlich sein würden, um zwei stabile Dämme über die ganze Breite des rechten Flussarms zu errichten. Als ich zum Ende kam, war der ganze Rand des Tisches voll mit eingeritzten Zahlen. Ich war nicht sicher, ob sie mir gänzlich hatten folgen können, aber das Ergebnis schienen sie nicht in Zweifel zu ziehen.

«Sakrament», sagte Arnulf anerkennend. «Wie hast denn du so rechnen gelernt?»

«Mit der Arithmetik von Boethius», antwortete ich.

«Ah, der Boethius», sagte Arnulf. Er hatte augenscheinlich keine Ahnung, von wem ich sprach, aber es kümmerte ihn auch nicht weiter. Ihn interessierte die praktische Seite des Plans. Er tippte auf die letzte Zahl in meiner Rechnung.

«Achthundert Wagenladungen?»

«Ungefähr», bestätigte ich. «Wenn wir vierzig am Tag schaffen, sind wir in drei Wochen fertig mit dem oberen Damm. Der untere geht schneller, weil es keine Strömung mehr gibt. Den können wir hauptsächlich aus Erde aufschütten. Und dann müssen wir noch das Wasser abgraben und die Dämme mit Grassoden abdichten, damit nichts nachsickert. Insgesamt vielleicht sechs Wochen.»

«Sechs Wochen? Kruzifix! Geht das nicht schneller?», fragte Arnulf ungehalten.

«Das kommt auf das Wetter an. Wenn der Juni trocken wird, sinkt der Wasserstand und die Strömung wird schwächer, sodass wir schneller vorankommen. Wenn es weiterregnet, steigt der Pegel an.»

«Und wenn wir mehr Männer einsetzen?»

«Das bringt nicht viel. Die treten sich auf die Füße.»

«Außerdem müssen wir erst mal so viele Steine heranschaffen», warf Heinrich ein.

Arnulf sah ihn verächtlich an wie einen Spielverderber. «Das ganze Flussufer besteht aus Steinen, und die Feldränder liegen voller Findlinge. Und wenn das immer noch nicht reicht, reißen wir einfach ein paar verlassene Bauernhöfe ab.»

Heinrich blickte ihn skeptisch an, beharrte aber nicht auf seinem Einwand. Wahrscheinlich wollte er abwarten, ob der Plan gelang oder nicht. Je nachdem, wie es lief, würde er hinterher behaupten können, von Anfang an dafür oder dagegen gewesen zu sein.

Arnulf aber hatte sich entschieden. Er stieß seinen Krug gegen meinen und trank ihn in einem Zug aus.

«Du gefällst mir. Wie heißt du noch mal?»

«Tankred.»

«Gut, Tankred, hör zu. Das Heer braucht noch mindestens zwei Wochen, bis es hier ist. Die sind das Marschieren ja nicht mehr gewohnt heutzutage. Wenn du willst, mach dir ein paar schöne Tage, während wir ein wenig auf die Jagd gehen.» Er schlug mir auf die Schulter. «Du bist doch aus der Gegend. Hast du kein Dirndl in der Nähe?»

«Kein was?»

Er zwinkerte mir zu und machte eine obszöne Geste. Ich grinste und erhob mich.

«Schleich dich! Und steck einen schönen Gruß mit rein!», rief er mir nach und lachte dröhnend.

«Also ehrlich», hörte ich Heinrich noch sagen.

Eine Stunde später war ich im Galopp nach Aachen unterwegs, dass der Schlamm in alle Richtungen spritzte.