10

A ls ich einige Tage darauf in Lüttich eintraf, hatte die Dämmerung bereits eingesetzt. Die Sonne war hinter den steilen Hängen im Nordwesten der Stadt untergegangen, und das restliche Licht des Himmels spiegelte sich rot, violett und blau schillernd im Wasser der Maas, die sich an dieser Stelle in viele Seitenarme und Nebenläufe verzweigte und unzählige Inseln bildete.

Während ich die Holzbrücke über den Hauptstrom passierte, dachte ich darüber nach, was ich Franco eigentlich anzubieten hatte. Wenn es uns gelang, die Festung in Asselt zu stürmen, würden die Gefangenen in unsere Hände fallen, aber das würde mir nicht viel nützen, solange ich nicht selbst derjenige war, der Franco seinen Sohn zurückbrachte. Die sicherste Möglichkeit, seine Dankbarkeit zu gewinnen, bestand darin, den Jungen auf eigene Faust zu befreien. Ich hatte noch keine Idee, wie das zu bewerkstelligen war, aber ich beschloss, Franco genau das anzubieten. Wenn er sich darauf einließ, würde sich ein Weg finden lassen.

Nach dem Überfall der Dänen im letzten Herbst hatte man wie an so vielen anderen Orten auch in Lüttich begonnen, eine Befestigung zu errichten. Besonders weit war die Anlage allerdings noch nicht gediehen: Der Wall war noch nicht einmal mannshoch, und sowohl die Palisade als auch die Tore fehlten. Überall lagen Werkzeuge, Karren und Bauholz herum, aber die Arbeiter waren schon nach Hause gegangen. Als ich mich näherte, flatterte ein Schwarm Krähen auf und flog krächzend davon.

Das letzte Mal hatte ich die Stadt vor fünfzehn Jahren betreten, als hier der Prozess gegen meine Mutter stattgefunden hatte. Selbst bei Tageslicht hätte ich mich nicht zurechtgefunden. Angesichts der Erinnerungen hatte ich Mühe, die erneut in mir aufflackernde Wut auf Franco niederzukämpfen, dem ich in den vergangenen fünfzehn Jahren ungezählte Male in Gedanken an die Gurgel gegangen war. Doch jetzt brauchte ich ihn als Verbündeten. Und ich musste ihn davon überzeugen, dass auch er mich brauchte.

Inzwischen war es fast völlig dunkel, aber ich wusste noch, wo eine Herberge zu finden war. In den Straßen war kaum jemand unterwegs. In den Häuserzeilen klafften breite Lücken, und im letzten Licht des Tages sah ich ausgebrannte Dachstühle in den Himmel ragen. Die Brandruinen verströmten auch nach Monaten noch einen letzten Hauch des Gestanks von kaltem Rauch.

Die Herberge war eins der wenigen Häuser, in denen noch Leben war. Schon aus der Ferne hörte ich die lauten Stimmen von Betrunkenen. Durch die geöffneten Läden wehte der Geruch von Bier, und ein schwacher Lichtschein fiel auf das Pflaster.

Ich stieg ab und betrat den Schankraum. Im Schummerlicht der Kerzen sah ich ein halbes Dutzend leere Tische. Nur ganz hinten in der letzten Ecke saßen vier alte Männer in langen weißen Gewändern und mit Zipfelmützen auf den Köpfen. Sie redeten laut in einer Sprache, die ich nicht kannte, und brachen zwischendurch immer wieder in schallendes Gelächter aus.

Der Wirt, ein muskulöser Kerl mit hängendem Schnauzbart und langen, im Nacken zusammengebundenen Haaren, stand hinter dem Tresen und füllte mit schnellen und geübten Handgriffen Krüge nach. Er sah aus, als würde er sich Gäste, die sich danebenbenahmen, ohne Verwarnung unter den Arm klemmen und auf die Straße werfen.

Als ich an den Tresen trat, blickte er kurz auf, um sich dann wieder seinen Krügen zu widmen. Ich dachte zuerst, er würde mich absichtlich nicht beachten, aber er hatte seine eigene Art, die Bestellungen seiner Gäste aufzunehmen.

«Bier?», fragte er.

«Ja», sagte ich und dachte: Wenn du’s einsilbig willst, kannst du’s einsilbig kriegen.

«Zimmer?»

«Ja.»

«Für eine Nacht?»

«Weiß ich noch nicht.»

«Egal. Pferd dabei?»

«Ja.»

Er wischte mit dem Handrücken die Schaumkrone von einem der Krüge und stellte ihn vor mich hin, dann füllte er weitere Krüge nach.

«Gaul kannst du in den Hof bringen, Zimmer macht meine Alte fertig. Hunger?»

«Was gibt’s denn?»

Er blickte mich entgeistert an. «Was darf’s denn sein? Gefüllte Wachtelbrust unter der Mandelkruste an Salbeimöhrchen? Pasteten von der Wildente mit Spitzmorcheln und Weißweinsahne? Oder vielleicht in Butter geschwenkte Pfifferlinge statt der Spitzmorcheln? Sind die ersten der Saison!» Eine Weile sah er mich an, als wollte er mich zu einem Zweikampf auffordern, und ich fragte mich, ob noch mehr kommen würde, aber er sagte nur: «Du willst mich verarschen, oder? Hier gibt’s Eintopf mit Speck, fertig, aus.»

«Danach wollte ich gerade fragen», sagte ich.

Endlich grinste er.

«Wann kommt das Bier?», schrie jemand vom letzten Tisch.

«Holt’s euch selber!», rief der Wirt zurück. Und dann, mit einem Ton, dem zu entnehmen war, dass er die Antwort schon kannte: «Bei wem soll ich das anschreiben?»

«Bei Franco!», brüllten alle.

«Na dann.» Vier Krüge krachten auf den Tresen.

Ich verließ die Herberge und brachte das Pferd in den Hof, wo eine Tränke und ein Futtertrog standen.

Als ich in den Schankraum zurückkehrte, stand eine Holzschale mit Eintopf und Speck auf dem Tresen, dazu ein paar Brotscheiben auf einem Blechteller und ein Löffel. Ich begann zu essen. Der Wirt war schon wieder damit beschäftigt, Krüge nachzufüllen.

«Schmeckt’s?», fragte er, ohne aufzublicken. Die Frage fiel in einen zufälligen Moment der Stille hinein.

«Der Hunger treibt’s rein und der Ekel treibt’s runter!», antwortete einer der vier Gesellen vom letzten Tisch, bevor ich etwas sagen konnte. Er hatte einen merkwürdigen Akzent, es klang, als drückte er die Laute unter der Zunge hindurch.

«Dich hatte ich nicht gefragt, Finnan!», rief der Wirt.

Ich aß mit großem Appetit. Der Eintopf war stark gewürzt, und mit dem Speck war nicht gegeizt worden. Während ich löffelte, hatten die vier Zipfelmützenträger ihre Krüge schon wieder geleert.

«Nächste Runde!», schrie einer von ihnen.

«Wer zahlt?», fragte der Wirt routinemäßig.

«Franco!», schallte es zurück.

«Was sind das denn für welche?», fragte ich.

«Das ist die Literatengarde des Bischofs. Schwätzen Tag und Nacht schlaues Zeug daher und halten sich für Dichter, Gelehrte und Philosophen. Die fressen und saufen sich auf Francos Kosten durch. Ab und zu liefern sie ein paar Verse ab, und dafür zahlt er die Zeche. Die haben schon dem alten Bischof Hartgar auf der Tasche gelegen. Man wird sie nicht mehr los. Als ich den Laden vor zwanzig Jahren von meinem Vater übernommen habe, waren sie auch schon da.»

Besonders unglücklich schien er über diesen Umstand nicht zu sein. Wenn die vier immer in diesem Tempo tranken, dann musste er glänzend an ihnen verdienen.

«Die hatten damals so einen Leithammel. Hartgar fütterte den als Berater an seinem Hof durch, und Franco hat ihn übernommen. Der lief immer in diesem lächerlichen Aufzug durch die Stadt, sprach grundsätzlich nur in Versen und ließ sich als Vergil anreden. Offenbar hat es sich irgendwann bis zur Insel der Oberschlauen rumgesprochen, dass man hier wie die Made im Speck leben kann, wenn man eine alberne Zipfelmütze trägt und sich als Dichter ausgibt, und dann kamen die da hinterher. Dieser Vergil ist vor acht Jahren gestorben, und so wie die saufen, müssten sie eigentlich auch längst tot sein, aber manchmal glaube ich, die leben ewig.»

Als mir klar wurde, von wem der Wirt da sprach, wäre mir fast der Löffel aus der Hand gefallen. Dort hinten saß der von Sedulius Scotus gegründete irische Dichterzirkel, von dem in Gelehrtenkreisen seit Jahrzehnten mit größter Ehrfurcht geredet wurde. Ich hatte mir diese Männer immer als würdige Greise vorgestellt, die über Schreibpulte gebeugt in Studierstuben saßen, nicht als krakeelende Zecher in einer Kneipe.

«Hieß dieser Vergil zufällig mit richtigem Namen Sedulius?», fragte ich.

Der Wirt blickte erstaunt auf. «Ja, so hieß der. Kanntest du den? Dann kannst du dich ja gleich dazusetzen.»

Kaum hatte er das gesagt, da brüllte einer vom Tisch der Iren: «Wo bleibt das Bier?»

Der Wirt stellte vier volle Krüge auf den Tresen. Und weil ich meinen Teller inzwischen geleert hatte, schnappte ich mir die vier Krüge und meinen eigenen und trug alles zu ihnen an den Tisch. Sie schienen hocherfreut zu sein, ein neues Gesicht zu sehen, stellten sich als Finnan, Brennan, Connor und Dermot vor und schoben mir einen Hocker hin.

Wir tranken uns zu. Alle vier waren so alt, dass jeder von ihnen mein Vater hätte sein können. Insgesamt sahen sie sich ziemlich ähnlich: die weißen Gewänder, die Mützen, unter denen graue Haare hervorschauten, die grauen Bärte und die vom vielen Bier geröteten Nasen – all das wirkte fast wie eine Amtstracht, auf die sie sich als verschrobene Gelehrte geeinigt hatten.

«Gut, dass du da bist», sagte Finnan. «Wir brauchen einen Schiedsrichter.»

Wie sich herausstellte, ging es um die Frage, ob Christus auf natürlichem Wege geboren sei oder nicht. Finnan und Brennan vertraten die Ansicht, dass Maria nach der Empfängnis durch den Heiligen Geist bis zur Abnabelung im Stall von Bethlehem eine ganz normale Schwangerschaft und Entbindung durchlebt hatte; Connor und Dermot waren der Auffassung, dass das nicht der Fall gewesen sein könne, da spätestens bei der Niederkunft das Jungfernhäutchen gerissen sein müsse und man die Muttergottes in diesem Fall nicht als Jungfrau bezeichnen könne.

«Aber wer könnte leugnen, dass Maria zeitlebens Jungfrau blieb?», fragte Dermot weihevoll und strich sich durch den Bart.

«Zeitlebens sowieso nicht», knurrte Finnan.

«Aber selbstverständlich», sagte Dermot mit erhobenem Zeigefinger. «Das kannst du schon bei Origenes nachlesen. Die Ehe mit Josef wurde nie vollzogen.»

«Und woher weiß Origenes das so genau? Hat er vielleicht bei denen mit im Bett gelegen?», fragte Finnan giftig.

«Außerdem hatte Jesus Geschwister», sprang Brennan ihm bei. «Im Matthäusevangelium ...»

«Danke, ich kenne die Stelle», fiel ihm Dermot ins Wort. «Matthäus spricht von Brüdern, aber er meint Neffen.»

«Weißt du jetzt besser als der Evangelist, was der Evangelist meint?», fauchte Finnan.

«Zurück zur Sache», beschwichtigte Connor. «Wenn der Heilige Geist in der Lage ist, eine Zeugung durch ...» Er runzelte die Stirn. «Ja, wodurch eigentlich?»

«Durch die linke Schulter», half Dermot ihm aus.

«Nein, durch die rechte», widersprach Brennan.

Connor verdrehte die Augen. «Also, wenn der Heilige Geist eine Zeugung durch die Schulter hingekriegt hat, dann wird er ja wohl auch eine Geburt hingekriegt haben, bei der das Jungfernhäutchen intakt geblieben ist.»

«Vielleicht ist das hinterher wieder zugewachsen», mutmaßte Brennan.

Dermot wollte ein solcher Kompromiss nicht gefallen. «Dann wäre sie ja zwischendurch keine Jungfrau mehr gewesen.»

«Aber nur ganz kurz», warf Brennan ein. «Wäre das nicht vertretbar?»

«Vielleicht ist das Kind da irgendwie dran vorbeigeflutscht», schlug Brennan vor.

«Geht doch gar nicht», sagte Dermot kopfschüttelnd. «Das ist am Rand überall angewachsen.»

«Woher willst du denn so genau wissen, wie es bei Frauen da drin aussieht?», spottete Finnan, und dann zog er Dermot die Zipfelmütze so weit herunter, dass dessen ganzes Gesicht bedeckt war, woraufhin Connor seinerseits Finnan und schließlich Brennan und Connor sich gegenseitig die Mützen herunterzogen. Für einen kurzen Augenblick saß ich zwischen vier alten Männern, die aussahen, als hätten sie Steckrüben statt Köpfe auf den Schultern sitzen, und dann lachten alle gleichzeitig los, dass die Wände wackelten. Meine Dienste als Schiedsrichter waren nicht mehr gefragt.

Als sie ihre Mützen wieder hochgezogen und sich etwas beruhigt hatten, sagte Brennan zu mir: «Du hast jetzt wahrscheinlich ein völlig falsches Bild von uns.»

«Was wäre denn das richtige Bild?», fragte ich.

«Wir sind die Hofdichter des Bischofs», antwortete Brennan nicht ohne Stolz.

«Und seine Berater», ergänzte Finnan.

Nun schienen alle vier darauf bedacht zu sein, den albernen Eindruck zu korrigieren und sich so zu benehmen, wie man das von Hofdichtern und Beratern eines Bischofs erwarten würde. Diesen Augenblick nutzte ich, um ihnen den Grund meiner Anwesenheit in Lüttich zu erklären. Wenn sie tatsächlich Einfluss auf Franco hatten, dann war das Zusammentreffen mit ihnen ein Glücksfall.

Während sie meinen Ausführungen lauschten, waren sie wie ausgewechselt. Bis auf ein paar zum Wirt hinübergeschriene Bestellungen waren sie ganz bei der Sache. Und nicht nur das: Sie kannten meinen Namen vom Hörensagen, und Brennan konnte sich sogar noch an den Prozess meiner Mutter erinnern.

«Die Zeugen waren alle gekauft», sagte er. «Jeder wusste das.»

«Schon mal daran gedacht, dir selbst ein paar Zeugen zu kaufen?», fragte Finnan.

«Das wird Graf Thegan mit noch mehr Geld verhindern», gab Dermot zu bedenken. Es war merkwürdig, den Namen meines Vaters aus seinem Mund zu hören. Die Selbstverständlichkeit, mit der der Ire ihn fallen ließ, zeigte mir, welchen Klang dieser Name in der ganzen Gegend nach wie vor hatte und über welchen Einfluss mein Vater trotz Alter und Krankheit immer noch verfügte, ganz abgesehen davon, dass Uta wahrscheinlich ohnehin unbegrenzten Zugriff auf seine Mittel hatte. Außerdem empfahl sich diese Lösung schon deshalb nicht, weil sie zu viel Staub aufwirbeln und Uta Zeit geben würde, sich auf ihren Gegenschlag vorzubereiten.

«Wie würdet ihr den Fall denn beurteilen?», fragte ich.

«Rechtlich oder politisch?», fragte Connor.

«Rechtlich ist das überhaupt keine Frage», warf Finnan ein. «Es interessiert bloß niemanden, schon gar nicht Bischof Franco. In politischer Hinsicht hat der Fall zwei Seiten. Erstens: Was bedeutet er für die Machtverhältnisse im Maasgau und in Lotharingien? Solange die Dänen hier ihr Unwesen treiben, will niemand riskieren, dass eine der mächtigsten Familien der ganzen Gegend sich in Erbstreitigkeiten aufreibt. Dein Halbbruder Gerold genießt ein hohes Ansehen. Du dagegen bist gerade erst aus der Versenkung aufgetaucht und hast keine Verbündeten. Tut mir leid, das zu sagen, aber für die großen Familien bist du derzeit niemand, mit dem man sich abgibt.»

«Ich weiß», sagte ich. In der Tat war das eine vertrackte Lage: Solange die Annullierung der Ehe meiner Eltern nicht aufgehoben war, war ich ein Bastard ohne Rechte und mit wenigen Unterstützern, aber der Mann, der die Annullierung dieser Ehe selbst beschlossen hatte und sie jetzt rückgängig machen konnte, würde es sich meinetwegen nicht mit einem Großteil des Adels von Lotharingien verscherzen.

«Zweitens: Was bedeutet dein Fall für einen möglichen Thronstreit?», sagte Brennan. «Anders gefragt: Auf welcher Seite werden der Maasgau und der lotharingische Adel stehen, wenn jemand versuchen sollte, den Kaiser zu stürzen?»

«Jemand wie Arnulf von Kärnten?», fragte ich.

«Zum Beispiel», sagte Finnan. «Und dann ist da noch Hugo. Seine Unterstützer halten sich derzeit bedeckt, aber es gibt sie noch, und du wirst sie auf jeden Fall gegen dich haben, wenn das ganze Land dich als Streiter für die Erbrechte von rechtmäßigen gegenüber unrechtmäßigen Söhnen kennt.»

Ich war überrascht, wie schnell sie die Situation und die Zusammenhänge erfasst hatten. Offenbar taugten sie als Berater mehr, als man ihnen zutraute, wenn man sie mit ihren Zipfelmützen in der Schenke nach Bier schreien sah.

«Wie gesagt, der Fall selbst interessiert Franco nicht», sagte Connor. «Aber er wird sich fragen, welchen Nutzen er davon hat, dir zu helfen, und er wird mit Sicherheit nichts entscheiden, bevor die Dänen nicht aus dem Land vertrieben sind. Es wird darauf ankommen, wie der Krieg ausgeht und wer sich darin bewährt. Wenn Gerold als Erster vor aller Augen über die Mauern von Asselt steigt und diese beiden Könige erschlägt, kannst du es vergessen.»

So deutlich hatte ich die Sache noch nicht gesehen. Mir war klar, dass ich meinem Halbbruder in Asselt möglicherweise wiederbegegnen würde. In Remich hatten wir uns im Schlachtgetümmel gemeinsam aus einer ausweglosen Lage herausgekämpft, ohne einander zu erkennen. Wir hatten uns gegenseitig unwissentlich das Leben gerettet, obwohl es für jeden von uns besser gewesen wäre, wenn der andere umgekommen wäre. Und dann waren wir voneinander geschieden, ohne dass es zu einer Klärung gekommen war. Doch wie hätte die aussehen können? Entweder er behielt das Erbe, oder ich bekam es, so einfach war das. Connor hatte es auf den Punkt gebracht: Gerold und ich würden in Asselt nicht nur gegen die Dänen kämpfen, sondern auch gegeneinander.

Nach einem schnellen Erfolg sah es also nicht aus. Doch einen Trumpf hatte ich noch gar nicht ausgespielt: Francos Sohn, der angeblich von den Dänen festgehalten wurde. Ich war mir nicht sicher, wie ich die Sache zur Sprache bringen sollte, denn angeblich legte der Bischof ja Wert auf Verschwiegenheit, also würden seine Berater wohl kaum mit einem Wildfremden beim Bier darüber reden. Ich beschloss, mich zu dem Thema vorzutasten.

«In Asselt sitzen mehrere Dutzend Gefangene im Keller», sagte ich.

«Die Armen», sagte Connor nach einer kurzen Pause.

Ich sah ihren Gesichtern an, dass sie sofort begriffen hatten, worauf ich hinauswollte. Aber trotz der vielen Biere, die sie schon heruntergestürzt hatten, hatten sie sich noch so gut unter Kontrolle, dass sie keine warnenden Blicke tauschten. Vier Augenpaare sahen mich abwartend an.

«Es gibt da ein Gerücht», wagte ich mich weiter vor.

«Gerüchte gibt’s ja viele», sagte Dermot. «Was besagt denn dein Gerücht?»

«Dass unter den Gefangenen einer ist, der Franco besonders am Herzen liegt.»

«Franco ist ein frommer Christ», sagte Finnan scheinheilig. «Und als solchem liegen ihm natürlich alle Menschen gleichermaßen am Herzen, die Unrecht erleiden.»

Alle nickten.

«Auch wenn einer davon der eigene Sohn ist?»

Jetzt tauschten sie doch Blicke.

«Ist es denkbar, dass Franco sich auf einen Handel einlässt?», fragte ich.

«Denkbar ist vieles», sagte Brennan.

«Jeder Vater liebt seinen Sohn», erklärte Finnan.

«Vor allem, wenn es der einzige ist», präzisierte Dermot.

«Und völlig hilflos», ergänzte Connor.

«Könnt ihr mir ein Treffen mit Franco arrangieren?», fragte ich.

«Wenn du die nächste Runde holst», sagte Brennan und machte dem Wirt ein Zeichen.

«Bei wem kommt das auf den Deckel?», rief der Wirt.

«Bei Franco!», schrie ich im Chor mit den Iren. Dann ging ich und tauschte die leeren Krüge gegen volle.

«Warum seid ihr eigentlich seine Berater?», fragte ich, nachdem wir getrunken hatten.

«Weil wir so klug sind», erklärte Brennan. Für ihn war das offenbar keine Angeberei, sondern eine Tatsachenfeststellung.

«Wir Iren sind die gebildetsten Menschen der Welt.» Finnan schloss die Augen und hob beide Hände wie einer, der im Besitz letztgültiger Weisheit ist und das kleinmütige Geschwätz unwürdiger Zweifler abwürgen muss. «Ich weiß, das klingt überheblich, und hierzulande will man es nicht wahrhaben, aber es ist so. Wir sind das Volk der Dichter und Denker.»

«Weil ihr nicht arbeiten müsst, sondern alles in den Arsch geschoben kriegt!», schnauzte der Wirt herüber. Und dann, mit einem Blick in meine Richtung: «Neulich haben sie sich hier den ganzen Abend über die Sintflut gestritten. Ob dabei auch die Fische umgekommen sind! Und ob das Paradies mit überschwemmt wurde! Den ganzen Abend! Das muss man sich mal vorstellen!»

«Das sind doch berechtigte Fragen», sagte Brennan.

Der Wirt ging nicht darauf ein, sondern zeterte noch ein bisschen weiter. «Letzte Woche haben sie behauptet, dass wir alle auf einer Kugel leben. Und dann hätten sie sich fast über die Frage geprügelt, ob auf der anderen Seite dieser Kugel auch Menschen rumlaufen! Mit den Köpfen nach unten, oder was? Wie soll denn das gehen?»

«Ganz einfach», sagte Finnan altklug. «Was bei uns unten ist, ist bei ihnen oben.»

Der Wirt winkte verächtlich ab. «Und was bei mir hinten ist, ist bei euch vorne», murmelte er und wischte den Tresen sauber.

Connor hob seinen Krug. «Lasst uns mal ein bisschen singen!»

«Wir Iren sind die besten Sänger der Welt», ergänzte Dermot.

 

Nach einem denkwürdigen Abend mit viel Gesang und Streitereien über bedeutsame Fragen machte ich mich am folgenden Mittag auf den Weg zu Franco. Die Iren hatten beim Abschied versprochen, mich bei ihm anzumelden, dann waren sie nach Hause getorkelt.

Erst bei Tageslicht war das Ausmaß der Zerstörungen zu sehen. Die Anzahl der ausgebrannten Häuser war noch größer, als es mir in der Nacht erschienen war, und von den Kirchen standen nur noch die Mauern. Wie durch ein Wunder war der Bischofspalast verschont geblieben, ein in seinen Ausmaßen eher bescheidener schiefergedeckter Sandsteinbau. Vielleicht hatten die Dänen es einfach nicht geschafft, ihn in Brand zu setzen.

Finnan empfing mich mit verquollenem Gesicht und schiefem Grinsen am Portal. Es war das erste Mal, dass ich ihn ohne Kopfbedeckung sah. Mit seinen langen weißen Haaren und dem Bart sah er nun doch aus wie ein Gelehrter, wenn auch ein etwas verkaterter.

«Na, ist die Frau vom Wirt noch zu dir ins Bett gekrochen? Das macht sie manchmal, wenn ihr die Gäste gefallen.»

«Keine Ahnung», sagte ich. «Ich habe geschlafen wie ein Toter.»

«Da hast du aber Glück gehabt. Die kann man sich nämlich nicht schöntrinken.»

Finnan führte mich hinein. Er benahm sich, als gehörte ihm der Palast. Schwungvoll öffnete er Türen und schloss sie wieder, und als uns auf der Treppe ein Bediensteter begegnete, gab er ihm im Vorbeigehen einen gönnerhaften Klaps auf die Schulter. Dabei pfiff er die ganze Zeit eine fröhliche Melodie. Mir war nicht nach Pfeifen zumute, dafür stürmten zu viele Erinnerungen auf mich ein.

Als wir den großen Saal im Obergeschoss betraten, war es, als würde ich fünfzehn Jahre in die Vergangenheit zurückbefördert. Auch damals hatte die Sonne durch die Fenster geschienen und große Lichtflecken auf die verschiedenfarbigen Steinplatten geworfen. Selbst an das Muster dieser Steine erinnerte ich mich noch, weil ich während der Anhörung der Zeugen fast die ganze Zeit auf den Boden gestarrt hatte, um meinem Vater nicht in die Augen blicken zu müssen, der das Schauspiel mit versteinerter Miene verfolgte. Bis heute weiß ich nicht, ob er sich nicht wenigstens ein bisschen geschämt hat.

Die Einrichtung des Saales war fast vollständig verschwunden. Es gab keinen einzigen Wandteppich mehr und kaum Möbel. Auch der große Tisch, hinter dem Franco mit seinen Beisitzern gesessen hatte, fehlte. Wahrscheinlich hatten die Dänen bei ihrem Besuch alles verfeuert.

Finnan zog sich zurück, und keine Minute später betrat Franco den Raum.

Ich erkannte ihn sofort, obwohl er kein Bischofsgewand trug, sondern einen leichten Mantel aus rotem Stoff über weißer Kleidung. Er war damals noch ein junger Mann gewesen. Inzwischen ging er auf die fünfzig zu. Das Alter hatte es gut mit ihm gemeint; er war schlank geblieben, ohne dürr geworden zu sein, seine schwarzen Haare waren immer noch voll, und die leicht heruntergezogenen Mundwinkel, die damals seine unreife Arroganz unterstrichen hatten, verliehen seinem Gesicht jetzt etwas Gravitätisches. Und etwas Trauriges. Franco litt. Und weil ich wusste, warum er litt, und weil ich selbst aus dem gleichen Grund gelitten hatte, ließ meine Abneigung gegen ihn ein wenig nach.

Er musterte mich kurz, schien in seinen Erinnerungen zu forschen, dann nickte er. «Fünfzehn Jahre», sagte er. Hatte er tatsächlich so ein gutes Gedächtnis? Oder hatte einer der Iren ihn vorbereitet?

 

Franco trat ans Fenster und blickte auf die zerstörte Stadt. Entweder er hatte sich daran gewöhnt, oder seine Sorgen lenkten ihn davon ab.

Ich blieb in der Mitte des Saales stehen und wartete, dass er mich auffordern würde, mein Anliegen vorzutragen. Stattdessen suchte er nach Worten, rang offensichtlich mit sich. Es dauerte eine ganze Weile, bis er endlich sprach.

«Mir ist klar, dass die Zeugenaussagen zweifelhaft waren, und es war mir übrigens auch damals schon klar.»

Natürlich, dachte ich. Aber es war dir egal.

«Ich stand unter Druck, Tankred», sagte er, als hätte er meine Gedanken lesen können. Es wirkte nicht wie eine Ausrede. Vielleicht hatte mein Vater ihn ja tatsächlich bedroht oder erpresst. Zuzutrauen war es ihm. Doch dass Franco sich offenbar noch erinnerte und mich mit meinem Namen anredete, ermutigte mich. Ich fühlte mich weniger wie ein Bittsteller, wenn ich nichts erklären musste.

«Ich möchte, dass das Urteil aufgehoben wird», sagte ich.

Er nickte sehr langsam, ohne sich zu mir umzudrehen. «Das wird nicht sofort möglich sein. Zuerst müssen wir die Dänen aus dem Land werfen.»

«Das wird bald geschehen», sagte ich.

Wieder nickte er langsam. Dann wandte er sich endlich zu mir um.

«So oder so wird es mit der Aufhebung des Urteils nicht getan sein. Dein Bruder wird das Feld nicht kampflos räumen.»

«Halbbruder.»

«Wie auch immer. Gerold genießt ein hohes Ansehen. Er hat Gefolgsleute, die sich nicht wegen eines Gerichtsurteils von ihm abwenden werden, wenn er sie auffordert, für ihn zu kämpfen. Das muss dir klar sein. Du brauchst Unterstützer. Wie man hört, hast du dich in Koblenz und in Remich gut geschlagen. Aber wenn du dir dein Erbe zurückholen willst, dann brauchst du Verbündete hier im Land. Verbündete wie mich.»

«Deshalb bin ich hier», sagte ich.

Franco wandte sich wieder dem Fenster zu. Als er nach einer Weile weitersprach, war seine Stimme belegt.

«Mir ist zu Ohren gekommen, dass du in Remich ein Mädchen befreit hast, das die Dänen mehrere Monate lang durchs Land geschleppt hatten.»

Ich spürte, wie sich bei dem Satz alle meine Muskeln anspannten. Wusste Franco, dass es sich bei dem Mädchen um Judith handelte? Ich hatte mich bemüht, ihren Namen möglichst aus dem Spiel zu lassen. Wenn die Sache jetzt schon in Lüttich bekannt war, dann würde es nicht mehr lange dauern, bis die Nachricht auch nach Maastricht gelangte. Uta sollte auf keinen Fall erfahren, dass ihre Tochter noch lebte. Nicht bevor ich genau wusste, wie ich gegen sie vorgehen würde.

«Du bist hartnäckig, mutig und geschickt. So jemanden brauche ich.»

Als Franco sich wieder zu mir umdrehte, hatte er Tränen in den Augen.

«Mein Sohn Osmund wurde bei einem Ausritt von den Dänen entführt und in Asselt eingesperrt. Er sitzt dort mit den anderen im Keller und ist völlig hilflos.»

Die letzte Bemerkung hatte seltsam geklungen. Natürlich waren die Gefangenen hilflos. Auch Connor hatte darauf hingewiesen, aber ich hatte nicht nachgefragt.

«Hast du versucht, ihn auszulösen?», fragte ich.

«Natürlich habe ich das», antwortete er ungehalten. «Sie lassen sich nicht darauf ein.»

Heinrich von Babenberg hatte also recht gehabt. Wahrscheinlich wollten die Dänen das Lösegeld hochtreiben oder die Gefangenen als Druckmittel benutzen, um sich freien Abzug zu erkaufen, falls es schlecht für sie lief.

«Sie werden ihn gut behandeln», sagte ich. Seine Verzweiflung hatte fast gegen meinen Willen mein Mitleid geweckt.

«Er kann sich nicht verständigen», sagte Franco nach einer Pause. «Er ist als Kind in einen Brunnen gefallen, seitdem spricht er nicht mehr.» Die Erinnerung an den tragischen Unfall schien ihn das letzte bisschen Haltung zu kosten. Er schluchzte auf, wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und blickte mich an. «Hol ihn da raus und bring ihn zurück, und du kannst alles von mir verlangen, was du willst.»