14

«D ass er so weit gehen würde, hätte ich nicht gedacht», sagte ich, als wir eine halbe Stunde später in Ratwins großem Zelt saßen. «Gerold hat nicht nur mich verraten, sondern die ganze Unternehmung. Im Grunde hat er den Kaiser verraten.»

Ratwin schüttelte den Kopf. Er war genauso wütend wie ich, aber sein klarer Verstand war ihm nicht abhandengekommen. «So leid es mir für dich tut, das hat er nicht», sagte er. «Er wollte dich ans Messer liefern, aber am Verlauf der Belagerung hätte es nichts geändert. Gerold hat noch nicht einmal die Befreiung der Gefangenen vereitelt, denn die wäre ohnehin nicht gelungen. Verrat am Kaiser hat er nicht begangen.»

«Was glaubst du, wie der Kaiser das aufnehmen wird?», fragte ich.

«Die Frage ist, ob er es überhaupt erfahren sollte», sagte Ratwin nachdenklich. «Gerold wird den Vorwurf natürlich abstreiten und behaupten, jemand anders habe sein Pferd genommen. Die Sache wird für reichlich Unfrieden sorgen, und am Ende kommt nichts dabei heraus. Wir sollten uns gut überlegen, ob wir Vorwürfe gegen Gerold erheben, die wir nicht beweisen können. Ich schlage vor, wir warten ab.»

«Was warten wir ab?», fragte ich gereizt. «Dass er mich im Schlaf ersticht? Er trachtet mir nach dem Leben und ist bereit, dafür mit den Feinden des Kaisers zu paktieren.»

«Er paktiert nicht mit ihnen. Er hat genauso ein Interesse wie du, dass sie verschwinden. Schließlich bedrohen sie seine Besitzungen.»

Ich sprang auf. «Seine?»

«Setz dich wieder», sagte Ratwin ruhig. «Für ihn sind es seine.»

«Nicht mehr lange», knurrte ich. Ich wusste, dass Ratwin das nicht gesagt hatte, um mir in den Rücken zu fallen, sondern um mir klarzumachen, wie mein Gegner dachte. Es war gut, einen Freund zu haben, der die Besonnenheit nicht verlor.

«Man kann Gerold nicht trauen», sagte ich schwach.

Ratwin lachte voller Spott auf. «Wollen wir mal den ganzen Kriegsrat durchgehen, und du sagst mir, wem man trauen kann? Liutward? Arnulf? Heinrich? Soll ich weitermachen?»

Ich wusste, dass er recht hatte.

«Sieh es doch mal so», sagte Ratwin. «Er hat einen Anschlag auf dich versucht und ist damit gescheitert. Du bist gewarnt und weißt, dass er zu allem bereit ist. Und du stehst besser da als vorher. Seit du vor der Nase von Gorm aus dem Fenster gesprungen bist, halten dich alle für einen Teufelskerl. Im Grunde hat Gerold dir einen Gefallen getan. Und er weiß nicht, dass wir ihn durchschaut haben. Wir sind gewarnt, er nicht.»

Ärgerlicherweise hatte er auch damit recht. Die Selbstverständlichkeit, mit der Ratwin meine Sache zu seiner eigenen machte, versöhnte mich ein bisschen. Es hatte keinen Sinn, Gerold im Kriegsrat anzuschwärzen. Genau wie bei Uta würde ich meinen Gegenschlag in Ruhe planen und bis dahin auf der Hut bleiben müssen.

«Eine Frage haben wir uns noch gar nicht gestellt», sagte Ratwin jetzt.

«Nämlich?»

«Sven Knurhår war bei der Flotte, als Gerold ihn über deinen geplanten Ausflug zur Insel informiert hat. Wie haben sie es in der Festung erfahren?»

In der Tat war das eine interessante Frage. Offenbar hatten die Dänen noch immer Möglichkeiten, Boten an unseren Spähern und Wachen vorbeizuschicken. Gerold hatte einen weiten Umweg in Kauf genommen, um nicht dabei beobachtet zu werden, wie er Kontakt mit den Dänen aufnahm. Er musste sicher gewesen sein, dass die Nachricht rechtzeitig nach Asselt gelangen würde.

«Wir sollten ihn fragen, bevor er einschläft», sagte ich.

«Keine Sorge», sagte Ratwin. «Mit Schmerzen kann man sie immer wecken.»

Als wir eine halbe Stunde später zur Spinnerei kamen, stand der Wächter nicht mehr davor. Wir traten ein, und wieder brauchten meine Augen eine Weile, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Doch als ich hinter die aufgestapelten Säcke blickte, sah ich genug, um zu erkennen, dass Thorgaut tot war. Er hing mit aufgerissenen Augen und heraushängender Zunge an der Decke. Jemand hatte ihm das Seil, mit dem seine Hände immer noch gefesselt waren, ein paarmal um den Hals geschlungen und ihn daran hochgezogen.

«Den weckst du auch mit Schmerzen nicht mehr», sagte ich.

 

Ich ertränkte meinen Ärger mit Bier. Lupus hatte ein kleines Fass und ein paar verschrumpelte Äpfel aufgetrieben, mit denen er Jonglieren übte, während wir direkt am Fluss auf einem der Steinhaufen saßen, die ein Stück südlich des Lagers aufgestapelt worden waren. Immer noch wurden Felsbrocken, Schotter und Erdschollen versenkt, um den Damm zu vervollständigen. Die Rufe der Arbeiter und das regelmäßige Platschen der Steine schallte zu uns herüber. Der Bau der Palisaden auf den Wällen des Lagers war weit vorangeschritten, und an den Ecken wuchsen jetzt auch die Türme in die Höhe.

Natürlich hatte niemand gesehen, dass jemand die Spinnerei betreten hatte. Der Wächter war kurz austreten gewesen, jedenfalls hatte er das behauptet, während seine Füße in der Luft gebaumelt hatten, weil Ratwin ihn an der Gurgel gepackt und ein Stück angehoben hatte.

Es änderte ohnehin nicht viel. Ich wusste, was ich von Gerold zu halten hatte, und wenn ich ehrlich war, hatte ich ohnehin nicht geglaubt, ihn zur Strecke bringen zu können, indem ich ihn wegen einer Sache anschwärzte, die ich noch nicht einmal beweisen konnte. Der Kampf zwischen uns würde anders entschieden werden.

«Warum weiß man bei den dänischen Schiffen nie, wo vorne und hinten ist?», fragte Lupus plötzlich.

«Damit sie schneller vom Strand aus in See stechen können», antwortete ich. «Sie fahren vorwärts rauf und rückwärts wieder runter, und dann setzen die Ruderer sich einfach andersrum hin und rudern weiter. Sie müssen die Schiffe nicht umdrehen.»

«Was soll denn daran lustig sein?»

«Nichts», sagte ich. «Das ist der Grund.»

Lupus blickte mich entgeistert an. «Daraus lässt sich doch kein Witz machen.»

«Ich wollte ja auch gar keinen Witz machen.»

«Du bist heute ganz schön unlustig.»

Wir tranken, und nach und nach besserte sich meine Laune schließlich doch. Ich erzählte Lupus, was sich in den letzten beiden Tagen ereignet hatte.

«Was ist Schönheit denn für dich?», fragte ich, nachdem ich das Gespräch mit den Iren zusammengefasst hatte.

«Schönheit ist, wenn man einfach mal die Klappe halten kann», sagte Lupus trocken.

«Das ist nicht schön, sondern maulfaul. Schönheit ist die Anwesenheit von etwas Sichtbarem, nicht die Abwesenheit von etwas Hörbarem.»

Lupus drehte mir ganz langsam das Gesicht zu und zog eine Augenbraue hoch. «Merkst du was?»

Danach schwiegen wir tatsächlich eine ganze Weile.

«Wieso eigentlich dieser ganze Umweg über Franco?», fragte Lupus auf einmal. «Wie wahrscheinlich ist es denn, dass du dir einen von diesen Häuptlingen schnappst? Die einen sitzen da drüben auf der Insel, und die anderen liegen irgendwo im Norden am Strand herum.»

Damit hatte er recht. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass mir das gelang, schon gar nicht allein. Und selbst wenn, dann würde ich nicht eigenmächtig und unbemerkt einen Austausch einfädeln können, der nur Franco und mir etwas nützte. Ich hatte dem Bischof den Vorschlag nur gemacht, um nicht mit leeren Händen dazustehen, nachdem die Befreiung der Gefangenen missglückt war.

«Und angenommen, Franco hält sein Versprechen und hebt das Urteil auf», dachte Lupus laut weiter. «Dann musst du dich trotzdem noch mit Gerold herumschlagen. Oder glaubst du, dass er sich dem Urteil beugen wird? Natürlich wird er das nicht tun. Was wird überhaupt mit ihm passieren, wenn du es schaffst, ihn zu verdrängen?»

«Er wird geschoren und landet im Kloster», sagte ich. «Was sonst?»

«Von da sollen sie ja manchmal wiederkommen», sagte Lupus mit einem Seitenblick zu mir. Dann schüttelte er den Kopf, legte mir einen Arm um die Schultern und sagte: «Ich bin ja nicht so schlau wie du, Tankred, also korrigier mich bitte, wenn ich das jetzt falsch zusammenfasse. Du sollst eine fast unlösbare Aufgabe erledigen, damit ein altes Pergament korrigiert wird, das niemanden interessiert. Dann musst du einen Kampf gegen jemanden ausfechten, der sich nicht um die Regeln schert, und wenn du gewinnst, steht er nach ein paar Jahren wieder vor der Tür, und der ganze Ärger beginnt von vorn.»

Leider war das eine ziemlich korrekte Zusammenfassung der Lage. Eine Weile starrte ich auf den Damm und das Wasser, das an seinem äußersten Ende vorbeirauschte.

«Und was soll ich deiner Ansicht nach stattdessen tun?», fragte ich verdrossen.

«Bring Gerold um, und deine Probleme sind alle auf einmal gelöst.»

«Indem ich mich anschleiche und ihn von hinten ersteche? Das wäre nicht meine Art.»

«Erstich ihn halt von vorn, wenn du dich dann besser fühlst. Von rechts, von links, von unten, von oben. Herrgott!»

«Einen Mörder würde der Adel nicht akzeptieren. Schon gar nicht in dieser Lage. Wir müssen die Dänen vertreiben, anstatt uns untereinander umzubringen.»

Lupus schielte zum Himmel. «Ihr mit eurer dämlichen Ehre.» Er nahm einen Schluck Bier, dachte eine Weile nach, dann sagte er: «Ehre ist vielleicht doch nicht so schlecht. Zwing ihn, dich zum Zweikampf zu fordern. Spann ihm die Frau aus. Hat er eine?»

«Keine Ahnung.»

Wieder verdrehte Lupus die Augen. «Du weißt erschreckend schlecht Bescheid über deinen Gegner.»

Damit hatte er leider schon wieder recht. Da inzwischen ohnehin jeder wusste, wer ich war, gab es keinen Grund, mich nicht ein bisschen umzuhören. Nicht dass ich die Absicht hatte, mich tatsächlich an Gerolds Frau, Verlobte oder Geliebte heranzumachen; ihn auf so durchschaubare Weise zu provozieren, wäre unter meiner Würde gewesen. Aber etwas mehr zu wissen, konnte nicht schaden. Bei unserer Begegnung auf dem Schlachtfeld von Remich hatte Gerold gesagt, dass es meinem Vater nicht gut ging. Und er hatte noch etwas gesagt: Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber in der letzten Zeit hat er gelegentlich von dir geredet. Du warst sein Liebling. Wahrscheinlich würde er sich inzwischen lieber die Zunge abbeißen, als diese Worte zu wiederholen. Aber er hatte sie ausgesprochen. Warum war ich eigentlich in der ganzen Zeit nicht auf die Idee gekommen, mich nach meinem Vater zu erkundigen?

Der größte Teil des lotharingischen Kontingents war in den Dörfern um Roermond einquartiert. Ich kannte inzwischen ihren Anführer: ein junger Graf aus Brabant, der zur Zeit meiner Verurteilung noch ein Kind gewesen war und auf den Besprechungen kein Wort gesagt hatte. Viel mehr wusste ich nicht. Ich hatte mich von den Lotharingiern ferngehalten, um Gerold nicht aufzuscheuchen. Aber vielleicht war das ein Fehler gewesen, denn die Fronten waren ohnehin klar.

«Apropos Frauen», sagte Lupus, der offenbar zu dem Schluss gekommen war, dass er mich auf den richtigen Gedanken gebracht hatte und jetzt das Thema wechseln konnte. «Wie geht’s eigentlich Fidis?»

«Gut», sagte ich, nicht ohne mich ein bisschen schuldig zu fühlen. Ich hatte sie wochenlang nicht gesehen. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, noch einmal nach Aachen zu reiten, bevor wir bereit zum Angriff auf Asselt waren. Stattdessen hatte ich mich gestern mit den Iren betrunken, und heute betrank ich mich mit Lupus, während Fidis auf mich wartete, in einer Stadt, in der sie außer Judith und Folchar niemanden kannte. Eigentlich wusste ich gar nicht, wie es ihr ging.

«Wenn ich nicht Trauzeuge werde, rede ich kein Wort mehr mit dir», sagte Lupus.

«So weit sind wir noch nicht», erwiderte ich. «Erst muss ich die Familienangelegenheiten regeln.»

«Dann pass mal schön auf, dass sie nicht vorher schwanger wird», sagte Lupus. «Sonst hat dein Sohn in zwanzig Jahren die gleichen Probleme wie du.»

«Wieso mein Sohn?»

«Weil Fidis temperamentvoll und lebenslustig ist. Solche Frauen kriegen fast immer Söhne.»

«Was für ein Blödsinn.»

«Kein Blödsinn. Hat meine Großmutter gesagt, die musste es wissen, die war Hebamme. Es sei denn, du kneifst dir bei der Zeugung ins rechte Ei. Hast du das gemacht?»

«Natürlich nicht.»

«Na also. Apropos Eier: Wie viele Dänen braucht man, um einen Schafbock zu kastrieren?»

«Genauso viele, wie man braucht, um dich ins Wasser zu werfen», sagte ich, zog ihn am Kragen hoch und gab ihm einen Tritt in den Hintern, dass er im hohen Bogen in die Maas flog.

 

Vier Tage später hatte der obere Damm die Spitze der Insel erreicht. Die Arbeiter wurden die ganze Zeit über von einem Dutzend Bogenschützen gedeckt, aber die hatten nicht viel zu tun, denn die Dänen wagten keinen einzigen Ausfall. Auch die Abdichtung mit Schotter und Grassoden schritt zügig voran. Noch ein paar Tage, und wir würden auch den zweiten Damm weiter flussabwärts fertigstellen. Alles in allem war es erheblich schneller gegangen, als ich berechnet hatte.

Von Ratwin hatte ich erfahren, dass Heriger, ein Onkel meiner Mutter, mit ein paar Reitern in einem der Dörfer nordwestlich von Roermond einquartiert war. Heriger hatte mich im Prozess gegen Uta unterstützt und mir das Leben gerettet, indem er das Wergeld für den Eideshelfer meines Vaters bezahlt hatte, den ich in meiner Unbeherrschtheit erstochen hatte. Danach hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Ich wusste, dass er wütend auf mich gewesen war, weil der scheinbare Beweis von Utas Unschuld seinem Ruf geschadet hatte, auch wenn ich sicher war, dass er mir geglaubt hatte. Heriger musste über siebzig Jahre alt sein, und es erstaunte mich, dass er sich noch immer an Kriegszügen beteiligte, aber das passte zu ihm. Er war immer schon ein alter Haudegen gewesen, aufrecht und unverwüstlich. Wenn jemand mir Auskünfte über die Lage in Maastricht geben würde, dann er. Vor allem aber war ich sicher, dass ich mich auf seine Verschwiegenheit verlassen konnte. Am Abend des Tages, an dem das Sperrwerk geschlossen worden war, machte ich mich auf den Weg.

Das Dorf war nicht mehr als eine Ansammlung von drei Bauernhöfen mit einer Kapelle, eine Stunde von Asselt entfernt. Als ich mich näherte, ging gerade die Sonne unter. Der Horizont im Westen strahlte in flammendem Orange. Schwalben schossen über den strohgedeckten Dächern lautlos hin und her. Der Boden strahlte die Wärme des Tages ab. Es war völlig windstill. Auf den Weiden stand kniehoch das Gras, und ein paar Kühe hoben sich als Farbkleckse hinter den Zäunen ab.

Der größte der drei Höfe lag etwas abseits von den beiden anderen; Haupthaus Scheune und Stall waren hufeisenförmig angeordnet, dahinter lagen ein paar Grubenhäuser, ein Misthaufen und ein Hühnerstall.

Als ich durch das Tor ritt, ertönte aus dem Wipfel einer Rotbuche ein leiser Pfiff. Kurz darauf öffnete sich im Haupthaus eine Tür, und eine große Gestalt erschien. Ich erkannte Heriger, ohne sein Gesicht zu sehen. Sein Kopf hatte über dem massigen Körper immer ein wenig zu klein gewirkt. Er stand da, ohne sich zu rühren, etwas zerzaust, als hätte er sich schon hingelegt, aber geschlafen hatte er offenbar noch nicht, sonst wäre er nach dem Pfiff nicht so schnell auf den Beinen gewesen. Er war unbewaffnet. Angst vor umherstreifenden Dänen schien er nicht zu haben.

«Wurde auch Zeit, dass du dich mal blicken lässt», sagte er zur Begrüßung. Seine Umarmung erdrückte mich fast. «Von dir hört man ja die tollsten Sachen.»

Es ist schwer zu beschreiben, wie gut mir das tat. Ich hatte in den letzten Monaten viele neue Verbündete und sogar Freunde gewonnen. Aber Herigers Begrüßung war wie ein Ritual, mit dem ich wieder in die Familie aufgenommen wurde. Das hier war eine andere Art von Vertrautheit als die, die mich mit Lupus oder Ratwin verband, ein Gefühl von Zugehörigkeit, das tief in mir verschüttet gewesen war und nun freigelegt wurde wie ein Goldschatz. Fast war es, als hätte uns meine Mutter aus dem Himmel heraus wieder zusammengeführt, als lebte ein Teil von ihr in Heriger weiter.

Er führte mich durch eine von einer Öllampe schwach erhellte Diele in einen großen Raum, in dem mehrere Kerzenleuchter brannten. Die Wände waren mit Schädeln von Hirschen und Ebern geschmückt. Geweihe und Hauer warfen unruhige Schatten in alle Richtungen. Das hier war kein Bauernhof. Es war das Herrenhaus eines Adligen.

Über der Glut im Kamin ruhte in zwei Halterungen aus Eisen ein drehbarer Spieß mit einer Hammelkeule. Es duftete nach stark gewürztem Braten. Ab und zu tropfte zischend Fett in die Glut und ließ hektische Flammen aufleuchten.

«Du kommst gerade recht», sagte Heriger. «Allein schaffe ich das gar nicht.»

Das war genau das, was ich jetzt brauchte. Während Heriger die Hammelkeule vom Spieß zog und auf einem Holzbrett zerteilte, rückte ich eine Bank vor den Kamin, setzte mich und beobachtete ihn. Ohne die grauen Haare und das grimmige und zerfurchte Gesicht hätte er auch zwanzig Jahre jünger sein können. Seine Statur verriet, dass er sich nach wie vor körperlich betätigte. Wahrscheinlich verging kein Tag ohne Ausritte und Übungskämpfe, bei denen er Leute aus seinem Gefolge mit dem Schwert über den Hof trieb, ihre Schilde zu Kleinholz hackte und über die verweichlichte Jugend spottete.

«Wenn du nicht von selbst gekommen wärst, hätte ich dich morgen holen lassen», sagte Heriger, während er an der Keule herumsäbelte.

Bevor ich nachfragen konnte, steckte er ein triefendes Stück Fleisch auf einen kleineren Spieß mit Holzgriff und reichte es mir zusammen mit einem Becher Wein. Dann bediente er sich selbst und ließ sich mit einem gepressten Ächzen neben mir auf die Bank fallen.

«Die verdammten Gelenke», sagte er. «Wenn das so weitergeht, stoßen die Jungbullen mich bald zur Seite. Aber vorher zeige ich ihnen noch mal, wo der Stier die Hörner hat. Vielleicht wird das mein letzter Krieg, aber einmal komme ich die Leiter noch hoch.»

Während wir aßen, fragte er mich über die vergangenen zwölf Jahre aus. Ich berichtete vom Klosterleben, von meiner Beförderung zum Bibliothekar, von den Reibereien mit dem ignoranten Prior, meiner Arbeit mit den Büchern und schließlich vom Überfall der Dänen und von meiner Flucht durch die verschneiten Wälder.

Er musterte mich amüsiert von der Seite, während er weiterkaute. «Du hast ja als Kind auch schon immer dieses schlaue Zeug gelesen. Aber dass aus dir mal so ein Buchstabenfuchser werden würde, hätte man damals trotzdem nicht gedacht. Du hast mal im vollen Galopp eine Kuh in zwei Hälften gehauen, weißt du das noch?»

«Es war ein Schaf», korrigierte ich. Mein Vater hatte mich damals ausgeschimpft, und ich hatte zurückgeschimpft, er sollte mir endlich einen richtigen Krieg geben.

«Aber dass sie dich nicht kleinkriegen würden, das war mir damals schon klar», sagte Heriger. «Ich war immer sicher, dass wir dich eines Tages wiedersehen würden. Hier erzählt man sich, dass du bei Remich einen der dänischen Anführer mit bloßen Händen aus dem Sattel gezerrt und erwürgt hättest.»

«Ganz so war es nicht», sagte ich. «Er war zu Fuß und hat sich gewehrt.»

Heriger brummte. «Abgesessen kämpfen war noch nie was für mich.» Dann hörte er auf zu kauen und betrachtete mich aufmerksam, als wollte er meine Reaktion auf das prüfen, was nun folgen würde. «Anschließend hast du ein Mädchen aus einem brennenden Schiff gerettet, heißt es.»

Ich spürte, dass er mehr wusste. Aber er wollte es von mir hören. Und als ich nichts sagte, ergänzte er mit leiser Stimme: «Das war nicht irgendein Mädchen, oder?»

«Nein», sagte ich nach einer Weile.

Sein Blick ruhte weiter auf mir. «Es war deine Schwester. Oder liege ich falsch?»

«Du liegst richtig», sagte ich. «Es war Judith.»

«Komisch», sagte Heriger. «Als ich hörte, dass du diesem Dänen drei Monate lang nachgejagt bist, da beschlich mich so ein Verdacht. Aber erst als du vorhin hier auf den Hof geritten kamst, da war ich sicher. Frag mich nicht, warum.»

«Hast du mit irgendjemandem darüber gesprochen?»

«Nein. Ich wollte mit dir selbst reden.»

«Und niemand anders ist auf die Idee gekommen, dass es Judith sein könnte?»

Heriger schüttelte den Kopf. «Merkwürdigerweise nicht. Man erzählt sich hier die wildesten Geschichten, warum du es so auf dieses Mädchen abgesehen hattest. Einige behaupteten, sie wäre deine Tochter, andere hielten sie für ein Bauernmädchen, mit dem du im Kloster was gehabt hast. Auf die Wahrheit ist niemand gekommen. Warum hast du damals beim Prozess überhaupt gelogen?»

«Weil ich Uta sonst nicht hätte anklagen können.»

«Und was ist wirklich passiert?», fragte er.

«Uta hat versucht, Judith zu ertränken. Der Körper ist ihr entglitten und wurde fortgespült. Ich habe sie aus dem Wasser gezogen und in Sicherheit gebracht. Uta dachte, das Kind sei tot. Die Kinderleiche, die später im Grab gefunden wurde, muss sie sich irgendwo besorgt haben, damit sie behaupten konnte, ihre Tochter wäre am Fieber gestorben. Der Priester, der beim Prozess aussagte, er habe das Kind bestattet, hat noch nicht einmal gelogen.»

Heriger schwieg lange. «Mir hättest du die Wahrheit sagen können», sagte er vorwurfsvoll. «Du hättest wissen müssen, dass ich dir trotzdem helfen würde.»

Seine Enttäuschung über mein mangelndes Vertrauen berührte mich. Er hatte recht. Aber ich hatte damals beschlossen, es niemandem zu sagen. Vielleicht hatte ich geglaubt, dass seine Unterstützung nur halbherzig ausfallen würde, wenn die ganze Anklage auf einer Lüge beruhte. Ich hatte ihm unrecht getan.

«Wo hast du sie hingebracht?», fragte Heriger fast beiläufig. Ganz kurz spürte ich einen leichten Widerstand, seine Frage zu beantworten. Wenn Heriger darauf gekommen war, dass Judith noch lebte, dann hatte vielleicht auch jemand anders diese Idee gehabt. Und wenn so ein Gerücht erst einmal in der Welt war, dann wäre seine Verbreitung nicht mehr aufzuhalten, und es würde nicht lange dauern, bis in Aachen jemandem das Mädchen mit dem grünen und dem braunen Auge auffiel. Je weniger Menschen wussten, dass sie lebte, desto besser war es für sie. Doch Heriger würde schweigen, und wenn ich ihm die Antwort verweigerte, würde ich ihn vor den Kopf stoßen.

«Nach Aachen», sagte ich. «Sie war die ganze Zeit dort.»

«Das wird nicht ewig geheim bleiben.»

«Es muss ja auch nur so lange geheim bleiben, bis Uta erledigt ist.»

«Und Gerold», ergänzte Heriger, dann zögerte er kurz und blickte zum Feuer, als suchte er nach den richtigen Worten für das, was nun kommen würde. Schließlich sagte er: «Und das ist auch der Grund, warum ich dich rufen lassen wollte. Mir ist heute eine Nachricht zu Ohren gekommen, die dich interessieren wird.»

Ich sah ihn an. Was kam denn jetzt?

«Dein Vater liegt im Sterben.»

Seine Worte trafen mich wie ein Schlag. Ich wusste längst, dass mein Vater krank war. Mir war klar gewesen, dass es irgendwann zu Ende gehen würde. Angesichts dessen, was er meiner Mutter, meinem Bruder und mir angetan hatte, war seine Krankheit, welche auch immer es war, mir eher wie eine gerechte Strafe vorgekommen, und beim Gedanken an seinen möglichen Tod hatte ich kaum mehr als bittere Gleichgültigkeit gespürt. Aber jetzt, wo es plötzlich so weit war, kamen unwillkürlich ältere Bilder von ihm hoch: Mein Vater, der mir alte Kriegslieder vorsang, während ich auf seinen Schultern saß; mein Vater, der mich auf mein erstes eigenes Pferd hob; mein Vater, der mir den Kinnriemen meines Kinderhelms festzog; mein Vater, der sich lachend geschlagen gab, nachdem ich ihn mit einem Holzschwert besiegt hatte. Eine maßlose Traurigkeit überkam mich – nicht über seinen bevorstehenden Tod, sondern über die Erkenntnis, dass dieser Mensch schon vor Jahren gestorben war. Wie würden wir heute zueinander stehen, wenn die verfluchte Uta nicht dazwischengekommen wäre?

Obwohl Heriger meinen Vater genauso hasste wie ich selbst, verbiss er sich jeden feindseligen Kommentar. Stattdessen überließ er mich eine Weile meinen Gedanken, bevor er sagte: «Du weißt, was das bedeutet.»

«Gerold wird das Erbe antreten», sagte ich. «Ist er schon dort?»

«Ja. Und er wird dafür sorgen, dass der ganze Maasgau ihm so schnell wie möglich huldigt, bevor der Kaiser sich auf irgendwelche alten Ernennungsrechte besinnt, um die sich ohnehin niemand mehr schert.»

«Aber er wird ihn bestätigen müssen», sagte ich.

Heriger lachte spöttisch auf. «Glaubst du, dass er damit zögern wird? Rechtlich ist die Frage eindeutig, solange Gerold als einziger ehelicher Sohn deines Vaters gilt. Der Kaiser will die Sache vom Tisch haben. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann, sind Fehden innerhalb des Heeres. Er ist überzeugt, dass er erst einmal genug für dich getan hat. Er hat dich begnadigt, nicht deine Mutter rehabilitiert. Und selbst wenn er das wollte, könnte er es gar nicht. Das ist Sache des Bischofs von Lüttich.»

Ich wusste, dass Heriger recht hatte, aber die Vorstellung, dass mein Vater vielleicht in dieser Nacht in Maastricht sterben würde, während ich in ein paar Stunden entfernt in Asselt herumsaß, war unerträglich. Mir war klar, dass ich nichts unternehmen konnte, aber ich wollte zumindest mitbekommen, was dort geschah.

Ich sprang auf.

«Mach keine Dummheiten», warnte mich Heriger.

 

Ein Heer wäre von dem Bauernhof, in dem Heriger einquartiert war, zwei Tage lang bis nach Maastricht marschiert. Ein Wanderer hätte einen Tag gebraucht, ein Reiter einen halben. Ich schaffte es in drei Stunden. Als die Türme von Maastricht im fahlen bläulichen Licht des Vollmonds auftauchten, zeigte sich noch kein Morgenrot am Himmel. In der Nacht hatte die Luft sich abgekühlt, es war angenehm frisch.

Ich umrundete Maastricht und traf südlich der Stadt wieder auf die Uferstraße, die sich kurz vor dem Anwesen meines Vaters ein Stück vom Wasser entfernte, sodass der Hof zwischen Straße und Fluss lag. Schon aus der Ferne sah ich, dass vor dem Zugang mehrere Männer standen. Mein Vater hatte sein Anwesen nie bewachen lassen. Hatte Gerold seine Leute aus Asselt mitgebracht, um sich als neuer Graf gleich mit einem angemessenen Gefolge zu zeigen, sobald sein Vater gestorben war? Oder fürchtete er, dass ihm jemand nach dem Leben trachtete?

Um sie nicht auf mich aufmerksam zu machen, saß ich ab, führte das Pferd in ein Wäldchen rechts der Straße und band es an einen Baum. Dann schlich ich weiter zwischen den Bäumen hindurch bis zu einer Stelle, an der mich nur noch eine schmale Weide von den Wachen trennte. Ich ging in die Hocke und kroch hinter einen Weißdornstrauch.

Die Wachen sprachen miteinander, aber was sie sagten, war nicht zu verstehen. Zwei weitere kamen von irgendwoher dazu. Die Gebäude lagen hinter Bäumen und Büschen verborgen, es war noch nicht einmal zu erkennen, ob irgendwo Licht brannte. Aber dass dort etwas vor sich ging, war offensichtlich.

Während ich hinter dem Strauch hockte, fragte ich mich, was ich eigentlich hier wollte. Zuschauen, wie sie die Leiche meines Vaters aus dem Haus trugen? Irgendetwas verhindern? Gerold zur Rede stellen? Uta gegenübertreten und ihr Rache schwören? Eigentlich wusste ich nur eins: Ich würde nicht untätig hier sitzen bleiben, sondern mir die Sache aus der Nähe ansehen.

Da es unmöglich war, an den Wachen vorbeizukommen, beschloss ich, es von der Seite her zu versuchen. Direkt neben dem Hof meines Vaters befand sich ein zweites Anwesen am Fluss, das er meiner Mutter nach der Scheidung überlassen hatte. Nach ihrem Tod hatte ich dort mit meinem Bruder bis zu unserer Verurteilung gelebt.

Ich schlich zurück durch den Wald, bis ich außerhalb der Sichtweite der Wachen war. Auf der Höhe der von Gestrüpp überwucherten Zufahrt huschte ich über die Straße. Das Tor hing schief und halb verrottet in den Angeln. Junge Birken und Ahornbäume wuchsen mitten auf dem Weg, der kaum noch zu erkennen war. Hier lebte schon lange niemand mehr. Offenbar hatte man das ganze Gelände sich selbst überlassen. Wahrscheinlich wurden die zugehörigen Ländereien jetzt vom Hof meines Vaters aus verwaltet, während hier die Ställe und Scheunen leer standen. Als ich mich durch das Gestrüpp vorankämpfte, wurde mir klar, dass ich mich auf meinem eigenen Besitz befand. Die Übertragung an meine Mutter hatte ich selbst bezeugt. Wenn ich beschließen würde, morgen hier einzuziehen, würden weder Gerold noch Uta mich daran hindern können. Bei der Vorstellung, dass wir nach all den Jahren wieder Nachbarn sein würden, musste ich fast lachen. Doch es wäre ein schaler Triumph gewesen. Ich wollte nicht den Hof, auf den sie meine Mutter abgeschoben hatten. Ich wolle alles, was mir zustand.

Die Hofanlage erschien hinter ein paar Bäumen im Mondlicht. Die Dächer bogen sich nach unten durch, als wäre das Balkenwerk aufgeweicht. An mehreren Stellen waren die Triebe junger Bäume durchgebrochen. Von den Wänden war der Lehmbewurf abgebröckelt und hatte das Flechtwerk freigegeben wie die Rippen großer halb verwester Tiere.

In der Mitte des Hofes steckte noch die Stange im Boden, an der ich die Strohpuppen für meine Schwertübungen befestigt hatte. Türen und Fensterläden im Haupthaus fehlten, wahrscheinlich hatte irgendjemand sie herausgerissen, um Brennholz daraus zu machen. Ich konnte dem Drang nicht widerstehen, mich kurz umzusehen. Um durch die Tür zu kommen, musste ich hüfthohes Gestrüpp beiseiteschieben.

Im schwachen Mondlicht, das durch die Fensteröffnungen hereinfiel, bot sich mir eine gespenstische Szenerie: Der Tisch, an dem ich meine letzte Mahlzeit vor dem Prozess gegen Uta eingenommen hatte, befand sich immer noch an derselben Stelle, sogar die Holzschüssel stand noch da. Von meinem Bett war ein vermodertes Holzgestell geblieben. Zwei Jahre lang hatte ich hier geschlafen, zuerst allein, dann manchmal mit Fidis, dann wieder allein. Beim Anblick des Bettes überwältigten mich Erinnerungen an kurze Momente der Unbeschwertheit in einem ansonsten von Trostlosigkeit und Wut beherrschten Dasein.

Als ich genug gesehen hatte, verließ ich das Haus und schlich zum Ufer. Der Mond stand hoch, und sein Spiegelbild schillerte auf der still dahinziehenden Maas. Bis auf das Plätschern des Wassers zwischen den Steinen am Ufer war kein Laut zu hören.

Ich näherte mich dem Gebüsch, von dem aus ich Uta vor über zwölf Jahren beim Mordversuch an der kleinen Judith beobachtet hatte, und beim Anblick der Stelle überkam mich erneut die Lust, sie an den Haaren herzuschleifen und zu ertränken.

Auf dem Nachbargrundstück regte sich nichts. Gerold hatte seine Männer offenbar alle am Tor postiert und die Flussseite unbewacht gelassen. Ich ging auf die Knie und kroch durch das Gebüsch. Von diesem Augenblick an war ich ein Eindringling, und genau so würden sie mich behandeln, wenn sie mich erwischten. Gerold trachtete mir nach dem Leben, und wenn sich ihm heute Nacht die Gelegenheit bot, mich ohne Zeugen aus dem Weg zu räumen, dann würde er es tun und meine Leiche irgendwo vergraben, den Schweinen zum Fraß vorwerfen oder im Fluss versenken. Genau das hatte mir mein Vater einmal für den Fall angedroht, dass ich meine Verdächtigung gegen Uta an die große Glocke hängen würde: Und ein Grab wirst du nicht bekommen, weil dich die Fische fressen werden. Seine hasserfüllten Worte klangen mir immer noch im Ohr.

Es war nicht klug, ihnen eine solche Gelegenheit zu geben, aber ich konnte nicht anders. Ich schlich weiter, unter Obstbäumen hindurch an Gemüsebeeten vorbei bis zum Hühnerstall, hinter dem ich in Deckung ging und wartete, ob sich etwas tun würde.

Nichts war zu hören. Ich spähte um die Ecke des Verschlages und sah zwischen den Kastanienbäumen das Haupthaus im Mondlicht liegen, dahinter hob sich die Kapelle als wuchtiger Schatten ab. Immer noch war kein Mensch zu sehen. Schliefen sie wirklich alle? Lag mein Vater noch dort und kämpfte allein mit dem Tod?

Ich huschte weiter bis zu einem Baumstamm. Aus einem der zum Fluss hin gelegenen Fenster drang ein schwacher Lichtschein. Die Läden waren geöffnet, während alle anderen Fenster im Haus geschlossen waren.

In diesem Augenblick wusste ich, dass mein Vater dort lag. Entweder sie hatten die Läden aufgelassen, um ihm den Todeskampf in dem stickigen Zimmer zu erleichtern, oder er war schon tot, und sie hatten ihn dort aufgebahrt und die Läden geöffnet, damit die frische Luft den Gestank der beginnenden Verwesung vertrieb, die in der Hitze des Sommers unweigerlich schon nach wenigen Stunden einsetzen würde. Aber warum hatten sie ihn nicht in die Kapelle geschafft, wie die Gepflogenheiten es verlangten?

Immer noch zeigte sich keine Menschenseele. Ganz schwach waren von der Zufahrt her die Stimmen der Wachen zu vernehmen, dann verhaltenes Lachen, als hätte jemand einen Witz gemacht. Besonders wachsam schienen sie nicht zu sein. Entweder Gerold hatte es versäumt, regelmäßige Kontrollrunden anzuordnen, oder sie waren zu faul dazu. Ich lauschte noch eine Weile auf das unverständliche Geplauder, dann siegte die Neugier über die Vorsicht. Ich huschte zum Fenster und kauerte mich an die Wand. Von drinnen war kein Laut zu hören. Ich richtete mich auf und spähte hinein. Eine einsame Kerze brannte auf einem schlichten Leuchter. An der Wand hing ein Kreuz. Das einzige Möbelstück im Zimmer war ein Bett.

Und da lag er. Sein Kopf ruhte auf einem dicken Kissen. Zuerst dachte ich, er wäre tot, denn die geöffneten Augen waren auf die Decke gerichtet. Doch dann blinzelte er.

Sie hatten das Bett direkt unter das Fenster gestellt, und unter dem dünnen Laken zeichnete sich ein ausgezehrter Körper ab. Vor zwölf Jahren, bei unserer letzten Begegnung, war mein Vater von kräftiger Statur gewesen. Der Lederpanzer hatte seinen breiten Oberkörper noch mächtiger erscheinen lassen, und in den Sporenstiefeln hatte er gestanden wie ein Baum. Jetzt lag er da, die Beine beulten wie zwei dürre Äste das Laken aus, unter dem knochige Füße hervorschauten. Seine Brust war so mager, dass ich glaubte, die Rippen unter dem Stoff zu sehen; die Hände hingen schlaff zu beiden Seiten des Bettes herab. Am schlimmsten sah sein Gesicht aus. Er hatte keine Zähne mehr, sodass seine bleichen Lippen den Mund wie eine trockene Höhle umschlossen; der Unterkiefer war heruntergesackt, die Augen eingefallen und die Wangen so hohl, dass die Nase wie ein Schnabel hervorstand. Das war es also, was von meinem Vater übrig geblieben war. Ich spürte keine Genugtuung, nur eine große Traurigkeit.

Nahm er noch etwas wahr? Er schien mich nicht bemerkt zu haben, und auch als ich mich zu voller Größe aufrichtete, reagierte er nicht, sondern starrte weiter an die Decke. Als ich ihn so sah, überkam mich gegen meinen Willen das Mitleid. All die Jahre über hatte ich ihm die Pestilenz an den Hals gewünscht, aber seine Wehrlosigkeit machte es mir in diesem Augenblick unmöglich, ihn zu hassen – seine Wehrlosigkeit und die Einsamkeit, in der man ihn hier im Licht einer armseligen Kerze liegen ließ. Uta hatte noch nicht einmal den Anstand, dem Mann, der seine Familie für sie ruiniert hatte, in seinen letzten Stunden Beistand zu leisten. War das jetzt also meine Aufgabe? Sollte ich alles vergessen, was vorgefallen war, ihn auf dem letzten Stück seines Weges an die Hand nehmen und ihn zu seinem Schöpfer begleiten, damit er dort Rechenschaft ablegen konnte?

Ich lauschte ins Haus hinein, aber bis auf das flache Atmen meines Vaters war es still. Also schnallte ich mein Schwert ab, stieg mit der Waffe in der Hand auf das Fensterbrett, trat auf das Bett und kniete im nächsten Augenblick auf dem Boden neben ihm. Mein Stiefel hatte einen schmutzigen Abdruck zwischen seinen Beinen hinterlassen. Ich fegte die Erdkrümel weg und zog das Laken glatt, als gälte es, eine Spur zu verwischen.

Dann hielt ich zum ersten Mal seit mindestens fünfzehn Jahren wieder die Hand meines Vaters. Sie war hart und kalt. Über den Gelenken spannte sich die Haut wie feines Pergament. Und erst jetzt schien er zu bemerken, dass er nicht mehr allein im Raum war. Seine Finger schlossen sich in einem überraschend kraftvollen Griff. Es war, als wollte er mich an sich fesseln. Dann drehte er mir langsam das Gesicht zu.

Ich hatte es im Kloster mehrfach erlebt, dass Menschen in ihrer letzten Stunde auch nach langem Siechtum für einen kurzen Moment wieder klar im Kopf werden. Es ist, als hätten sie die Worte mühsam gesammelt und aufbewahrt, um sie im Angesicht des Todes alle auf einmal abzuwerfen, damit sie ohne diesen Ballast gehen können. Als ich in die grauen Augen meines Vaters sah, wusste ich, dass er mich erkannte. Sein Blick war von einer merkwürdigen, fast verzweifelten Entschlossenheit. Ich spürte, dass er seine Kräfte sammelte, um zu sagen, was seiner Meinung nach noch zu sagen war, als hätte er nur deshalb am Leben festgehalten, weil er gewusst hatte, dass ich irgendwann kommen würde.

«Tankred», flüsterte er und drückte meine Hand fester. «Ich habe nie gewollt, dass es so endet.»

Es war offensichtlich, dass er Versöhnung suchte, vielleicht Vergebung. Meine ganze Kindheit über hatte ich diesen Mann vergöttert, und ein Teil von mir sehnte sich danach, endlich Frieden schließen und ohne Vorbehalte wieder sein Sohn sein zu können. Doch mit einem selbstmitleidigen Bekenntnis war es für mich nicht getan, und weil ich spürte, dass seine Kräfte noch nicht vollständig erloschen waren, widerstrebte es mir, ihn so leicht davonkommen zu lassen. Es kostete mich viel Überwindung, hart zu bleiben, aber auch ich hatte noch Dinge zu sagen, die sonst für immer ungesagt geblieben wären.

«Nein», sagte ich. «Das wolltest du nicht. Du wolltest, dass deine Frau und deine Söhne sich von dir verstoßen und enterben lassen, ohne dass das irgendwelche Folgen für dich hat. Du wolltest, dass wir unser Verderben hinnehmen und am Ende alle zusammen an deinem Grab stehen, nachdem du mit dem Schwert in der Hand beim Einbrechen in eine feindliche Schlachtreihe gestorben bist. Das wäre ein Ende gewesen, das dir gefallen hätte. Und vielleicht hättest du dieses Ende sogar bekommen, wenn du Uta vor fünfzehn Jahren zum Teufel gejagt hättest, anstatt dich von ihr beschwatzen zu lassen, das Gericht anzulügen.»

«Ich wäre gern mit dir in den Krieg gezogen», flüsterte er.

«Stattdessen bist du gegen mich in den Krieg gezogen», sagte ich mit einer Kälte, die mich selbst überraschte. «Und du wirst ihn verlieren, auch wenn du die Niederlage nicht mehr miterlebst.»

Meine Worte waren unversöhnlicher gewesen als beabsichtigt. Ich hatte ihm lediglich das Unrecht vorhalten wollen, das er uns angetan hatte, aber der letzte Satz hatte geklungen wie ein billiger Triumph über seine Machtlosigkeit.

Doch statt in die Verbitterung zurückzusinken, tat mein Vater etwas, was mich sprachlos machte: Er verzog seinen zahnlosen Mund zu einem Lächeln, und dann drückte er meine Hand noch fester. Ich dachte zuerst, er hätte mich nicht verstanden. Doch dann begriff ich: Er lächelte, weil er erkannt hatte, dass ich der geworden war, den er aus mir hatte machen wollen – willensstark, unnachgiebig, kampfbereit, siegesgewiss. Wieder sah ich ihn vor mir, wie er mich nach jedem Sturz vom Pferd wieder in den Sattel gesetzt und mir auf der Jagd die größten und wildesten Keiler zugetrieben hatte. Ich war wie er, und diese Erkenntnis trug mehr als alles andere dazu bei, dass er seinen Frieden mit dem Tod machen konnte. Ich war sein Liebling gewesen, und ich war es immer noch. Und obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, fühlte ich in diesem Augenblick den gleichen Stolz, den ich als Kind empfunden hatte, wenn er mich für einen im Galopp mit der Lanze erlegten Keiler gelobt hatte.

«Du wirst es nicht glauben, aber es tut mir leid», flüsterte er.

Doch, ich glaubte ihm. Aber die Reue kostete ihn nichts. Er hatte mehr als fünfzehn Jahre gehabt, um seinen Fehler zu korrigieren, und er hatte es nicht getan.

«Warum bist du gekommen?», fragte er. «Um mir beim Sterben zuzuschauen?»

«Nein», sagte ich. Aber warum ich gekommen war, das wusste ich nicht. War es am Ende doch der uneingestandene Wunsch, meinen Frieden mit ihm zu machen?

Mit einem leisen Stöhnen wandte er mir das Gesicht noch ein Stück weiter zu. Seine trüben Augen suchten meinen Blick und hielten ihn fest. Und ich wusste, was er als Nächstes fragen würde. Denn egal wie selbstgerecht und rücksichtslos er uns gegenüber gewesen war – eine Sache gab es, die ihm all die Jahre über mit Sicherheit keine Ruhe gelassen hatte.

«Hast du Uta damals zu Recht beschuldigt?», fragte er.

«Ja», sagte ich. Es war nur die halbe Wahrheit, aber ich wollte sehen, wie die Erkenntnis ihre Wirkung tat. Wenn mein Vater reinen Tisch machen wollte, dann sollte er auch erfahren, was für ein Mensch das war, für den er seine Familie ins Unglück gestürzt hatte.

Seine Augen füllten sich mit Tränen, und ein Zittern ging durch seinen mageren Körper. «Uta hat meine Tochter getötet? Mein kleines Mädchen?»

«Sie hat es versucht», sagte ich. «Ich habe es verhindert.»

Seine Augen weiteten sich. «Sie lebt?»

«Ja.»

Es war nur ein einziges Wort, aber es fasste alles zusammen, was noch zu sagen war. Er konnte gehen. Und er ging mit der schmerzlichen Einsicht in seinen Fehler und der tröstlichen Erkenntnis, dass ausgerechnet ich es gewesen war, der dafür gesorgt hatte, dass die Folgen dieses Fehlers korrigiert worden waren, ich, sein Liebling. Es war das Ende, das er verdient hatte, ein Ende nach Maß wie eine gute Rüstung: Reue und Erlösung. Er wandte das Gesicht wieder der Decke zu. Eine Träne rann über seine Wange und tropfte auf das Kissen. Und auch ich begann zu weinen. Jahrelang aufgestaute Bitterkeit und der Wunsch nach Versöhnung trugen einen stillen Kampf in mir aus.

In dem Schweigen zwischen uns begann sein Atem, schneller zu gehen, und wurde dann unregelmäßig und schnappend.

«Reich mir das Kreuz», flüsterte er.

Ich entzog ihm meine Hand, ging leise zur Wand, nahm das Kruzifix herunter, schlich zurück und legte es auf die Decke. Dann nahm ich seine Hände und schloss die Finger um das Kreuz. Nach ein paar letzten, fast unhörbaren Atemzügen lag er still. Ich lauschte noch eine Weile, wartete auf ein weiteres Lebenszeichen, als wäre das Sterben kein Schnitt, sondern lediglich eine stetige Verlangsamung der Zeit, als könnte der Tod das Leben niemals einholen, weil doch auf jeden Atemzug immer noch ein weiterer folgen muss, wie im Gleichnis von Achilles und der Schildkröte, die immer schon wieder einen kleinen Schritt weitergekrochen ist, wenn der Läufer sie eingeholt hat.

Doch es kam kein Atemzug mehr, kein Blinzeln und kein Zucken. Mein Vater war tot. Er starrte wieder zur Decke, und ich blickte auf das Kreuz in seinen gefalteten Händen und fragte mich, ob es am Ende die Dämonen oder die Engel gewesen waren, die seine Seele geholt hatten.

Und während die Versöhnung in meinem Herzen ganz langsam die Oberhand über die Verbitterung gewann und ich gerade die Hände für ein Vaterunser falten wollte, hörte ich draußen vor der Tür leise Stimmen.

Die Klinke wurde gedrückt. Es war keine Zeit mehr, ungesehen durch das Fenster zu fliehen, also ließ ich mich unter das Bett gleiten und zog das Schwert an mich. Im gleichen Augenblick wurde die Tür geöffnet. Vier nackte Frauenfüße erschienen. Ein schlankes gepflegtes Paar und ein dickes ungepflegtes. Uta und eine Dienerin?

Die beiden blieben kurz in der geöffneten Tür stehen, dann sagte die eine: «Er ist tot.»

«Ja», sagte die andere, und dann: «Endlich.»

Das war Uta. Sie hatte immer noch eine angenehme, weiche Stimme, und ich war sicher, dass sie sich auch äußerlich nicht verändert hatte. Ich war vielleicht fünf Jahre alt gewesen, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, und in den langen Jahren bis zu meiner Verurteilung schien sie um keinen Tag gealtert zu sein: strahlend blaue Augen, glänzende schwarze Haare und eine Haut wie ein Mädchen. Es war, als versorgte der Teufel sie mit irgendwelchen Elixieren, um es ihr leichter zu machen, einfältige Männer mit ihren Reizen in seinem Auftrag gefügig zu machen. Auch dafür hasste ich sie.

«Hast du ihm das Kreuz zwischen die Hände gesteckt?», fragte Uta jetzt beunruhigt.

«Nein», sagte die andere. «Das muss er sich selbst geholt haben.»

«Er war gelähmt, du dumme Gans», sagte Uta, jetzt hörbar aufgeregt. «War irgendjemand bei ihm?»

«Nein», sagte die Dienerin schnell. Sie klang ängstlich. Wahrscheinlich hatte sie draußen Wache halten sollen, war dabei eingeschlafen und fürchtete jetzt die Bestrafung.

«Dann müssen es die Dämonen gewesen sein», flüsterte Uta entsetzt. Auf die Idee, dass jemand das Zimmer betreten hatte, kam sie offenbar gar nicht. Zum Glück hatte ich meinen Stiefelabdruck auf dem Bett verwischt, aber wahrscheinlich hätte sie selbst den für einen Beweis des Wirkens überirdischer Mächte gehalten. Wer wusste schon, ob Dämonen nicht auch manchmal in Stiefeln herangestapft kamen, anstatt immer nur zu fliegen?

«Die Dämonen legen den Toten keine Kreuze in die Hände», widersprach die Dienerin. «Sie hätten es ihm ins Herz gerammt oder in Flammen aufgehen lassen. Es müssen die Engel gewesen sein.»

«Sei still, davon hast du keine Ahnung!», schnauzte Uta sie an. «Sie machen das, um uns zu täuschen, damit wir keine Vorkehrungen treffen. Und jetzt schließ ihm die Augen, das sieht ja schrecklich aus!»

Die dicken Füße näherten sich zögernd dem Bett. Es raschelte, als sie sich aufstützte, und kurz darauf erklang ein unterdrückter Schrei.

«Es geht nicht! Er macht sie immer wieder auf!»

«Da haben wir’s!», rief Uta panisch. «Stopf ihm Mund, Nase und Ohren mit der Wolle aus dem Kissen zu, dann reiß ein Stück vom Laken ab und leg es über seine Augen! Alle Öffnungen müssen verschlossen werden, sonst fährt der Satan in seinen Körper, und er kommt zurück!» Sie schrie ihre Befehle heraus wie ein Burgherr, der einen Überraschungsangriff abwehren muss.

Über mir hörte ich rupfende und reißende Geräusche, dann wackelte das ganze Bett, als die Dienerin sich an dem Toten zu schaffen machte. Wenn ich noch einen Beweis dafür gebraucht hätte, dass Utas Wahnsinn in den Jahren meiner Abwesenheit nicht nachgelassen hatte, dann hatte ich ihn jetzt.

«Alle Öffnungen!», befahl Uta.

«Du meinst ...», begann die Dienerin mit angewiderter Stimme.

«Natürlich, die erst recht! Der Satan ist heimtückisch. Er nähert sich uns am liebsten von hinten.»

Trotz ihrer Panik war Uta sich offenbar immer noch zu fein, selbst mit Hand anzulegen, also wälzte die Dienerin den Leichnam allein zur Seite und tat, was getan werden musste. Uta begann derweil, ein unverständliches Kauderwelsch zu murmeln, ein Gemisch aus Latein, Griechisch und Hebräisch, aus dem die verballhornten Namen von Engeln herauszuhören waren: Ariok, Sabakuel, Tubuin und Ähnliches. Wahrscheinlich hatte sie es in irgendeinem verbotenen Zauberbuch voller Teufelsfratzen, Pentagramme und Fantasiebuchstaben gelesen, das ihr ein durchreisender Händler für teures Geld angedreht hatte.

«Fertig», sagte die Dienerin und trat zwei Schritte vom Bett zurück.

«Jetzt hol Hunfried. Er soll eine Axt mitbringen. Und dann deckst du den Tisch für die Nachtfrauen.»

«Sollten wir nicht Gerold ...?»

«Tu, was ich dir sage!» Uta kreischte fast. Die Dienerin verschwand im Laufschritt.

Während die beiden die Leiche meines Vaters gegen das Eindringen des Satans abgedichtet hatten, hatte ich regungslos unter dem Bett gelegen und inständig gehofft, dass die groteske Zeremonie keine Handgriffe erforderte, die unter dem Bett zu verrichten waren. Was sollte dieser Hunfried eigentlich mit der Axt anstellen? Das Bettgestell zerhacken? Dem Toten den Kopf abschlagen?

Utas gepflegte Füße standen bei der Tür und bewegten sich nicht. Ich überlegte kurz, ob ich es wagen sollte, einfach hervorzuspringen und aus dem Fenster zu verschwinden. Durch den Garten würde ich wahrscheinlich entkommen, bevor die Wachen zur Stelle waren. Aber ich wollte nicht, dass Uta sah, wie ich vor ihr floh. Sie sollte vor mir fliehen. Die Versuchung war groß, mit verstellter Stimme eine Drohung aus dem Jenseits zu knurren.

Doch da näherten sich auch schon schwere Schritte. Meine Muskeln spannten sich an. Wie ein Krieger im Grab lag ich auf dem Rücken, das Schwert auf der Brust, den Griff umklammert. Mit diesem Hunfried würde ich fertigwerden, falls es nötig war. Ich hatte die Überraschung auf meiner Seite.

Stiefel traten an das Bett. «Gott sei seiner Seele gnädig», sagte eine tiefe Stimme.

«Fang an», sagte Uta ungeduldig.

Offenbar war Hunfried schon im Voraus instruiert worden, denn er wusste, was zu tun war. Auf das, was nun folgte, war ich nicht gefasst: Dicht neben meinem Kopf krachte es, dann prasselten Lehmbrocken auf den Boden. Ich fuhr zusammen und schielte zum Kopfende des Bettes. Und dann begriff ich, was hier geschah. Ich erinnerte mich an den in Bußbüchern geschilderten heidnischen Aberglauben, dass Verstorbene durch Löcher in der Wand oder unter der Türschwelle geschaufelte Gruben aus dem Sterbezimmer befördert werden mussten, wenn man befürchtete, dass sie zurückkehrten und die Hinterbliebenen heimsuchten. Wenn man Löcher und Gruben hinterher wieder zumauerte oder verfüllte, kamen die Wiedergänger nicht mehr ins Haus. Für derartigen Blödsinn bezahlte man üblicherweise mit Bußübungen, Fasten, Gebeten und dem jahrelangen Ausschluss von den Sakramenten.

Wieder krachte es, gefolgt von splitterndem Holz. Die Wand bestand aus Flechtwerk mit Lehmputz, und mit einem schweren Werkzeug würde es nicht lange dauern, bis ein ausreichend großes Loch hineingeschlagen wäre.

Wieder krachte und splitterte es, und tatsächlich war Hunfried nach einem Dutzend Hieben fertig. Ich hörte, wie die Axt abgestellt wurde.

«Schaff ihn raus», sagte Uta. «Und dann verschließ das Loch.»

Sie sprach, als handele es sich um einen Tierkadaver, und ich wusste nicht, was mich daran mehr empörte: dass sie so über einen toten Menschen sprach oder dass sie so von meinem Vater sprach.

Hunfried trat ans Bett, das kurz darauf zu ruckeln begann. «So schwer sieht er gar nicht aus», sagte er ächzend. Dann stapfte er zum Kopfende. Seine Knie erschienen, als er in die Hocke ging, dann fiel eine Hand des Toten herab.

«Ich hab’s dir doch gesagt», sagte Uta. «Die Dämonen machen den Leichnam schwer, weil sie nicht wollen, dass er weggebracht wird. Am Ort des Todes ist ihre Macht über ihn größer.»

Es war nicht ersichtlich, ob Hunfried diesen Unfug glaubte oder ob Loyalität gegenüber seiner Herrin ihn widerspruchslos mitspielen ließ. Er mühte sich weiter ab. Ein Fuß meines Vaters erschien.

«Er passt nicht», presste er hervor. «Machen die Dämonen die Leichen auch dicker oder sperriger?»

«Vielleicht kann man ihn irgendwie zusammenfalten», sagte Uta.

«Warte», sagte Hunfried. «Ich ziehe ihn von außen raus.»

Der Leichnam meines Vaters fiel zu Boden. Er trug ein weißes Nachthemd aus Leinen, das Gesicht war unter einem Tuch verborgen, das die Dienerin am Hals zusammengeknotet hatte. Es war schwer zu ertragen, bei diesem würdelosen Schauspiel zuschauen zu müssen.

Das Bett knarrte, als Hunfried mit einem großen Schritt über das Gestell aus dem Fenster sprang. Bevor Uta ihm helfen konnte, packten kräftige Hände meinen Vater unter den Achseln und zerrten ihn durch das Loch aus dem Zimmer.

«Wo soll er hin?», fragte Hunfried von draußen.

«In die Kapelle!», donnerte es von der Tür her. «Und nirgendwohin sonst!»

Es war Gerold. Er trug ebenfalls Stiefel.

«Er wird dort aufgebahrt, der Priester ist unterwegs!», rief er Hunfried hinterher. Dann herrschte er seine Mutter an: «Was soll das? Hast du den Verstand verloren?»

«Es musste sein», sagte sie ungerührt. «Er ist in letzter Zeit immer unruhiger geworden. Hat nur noch von Tankred gesprochen. Ich will nicht, dass er mich auch noch als Toter heimsucht.»

Ihre Kaltschnäuzigkeit wunderte mich nicht, aber sie befremdete mich dennoch. Kam eigentlich keiner von beiden auf die Idee, ein Gebet für den Verstorbenen zu sprechen?

«Um Tankred kümmere ich mich», sagte Gerold. «Aber dieser Hokuspokus muss aufhören. Tote kehren nicht zurück. Sie kommen in den Himmel oder in die Hölle.»

Ich kann meine Anspannung kaum beschreiben. Hatte er schon den nächsten Plan, um mich aus dem Weg zu schaffen?

Uta holte Luft und schien noch etwas sagen zu wollen, aber dann schwieg sie doch. Ich spürte ihre Verstocktheit bis unter das Bett, ohne dass ich sie sah oder hörte.

«Er hat in letzter Zeit übrigens auch viel von Judith gesprochen», sagte Gerold jetzt. Es klang lauernd.

«Sie war seine Tochter. Er hat sie vermisst.»

«Sicherlich hat er das», sagte Gerold. «Aber das war es nicht, was ihn beschäftigt hat. Er hat immer wieder gefragt, wie sie gestorben ist. Außer dir war niemand dabei, als es passiert ist. Es ging ja so schnell.» Ein spöttischer Unterton schwang in seiner Stimme mit.

«Bei kleinen Kindern geht das immer schnell», sagte Uta barsch. «Morgens rennen sie fröhlich durch die Gegend, mittags glühen sie vor Fieber, und abends sind sie tot. Das kann jederzeit passieren.»

«Jederzeit», sagte Gerold. «Und bei Judith war es genau der Tag, an dem niemand im Haus war. Wie oft ist so was vorgekommen? Einmal im Jahr?»

«Das war Zufall», sagte Uta trotzig.

Gerold lachte laut auf. «Seit wann glaubst du denn an den Zufall? Du glaubst an jeden Blödsinn, aber sicherlich nicht an den Zufall. Wenn die Milch sauer wird, haben die Dämonen sie verhext. Wenn ein Bauer von der Leiter fällt, hat der Satan ihn heruntergeschubst. Und wenn die Hunde die Teller leer fressen, die du für deine Nachtfrauen hingestellt hast, dann sind die Nachtfrauen eben in die Hunde gefahren.»

«Was willst du mir eigentlich unterstellen?», fragte sie angriffslustig.

«Ich habe Tankred beobachtet, als sie die Leiche ausgegraben haben. Er war bis zum letzten Augenblick sicher, dass das Grab leer sein würde. Das war nicht gespielt. Und nach der Schlacht vor drei Monaten habe ich ihn gefragt. Er hat etwas gesehen.»

«Du glaubst deinem verlogenen Bruder mehr als deiner eigenen Mutter?»

Wieder lachte er auf. «Komm mir nicht so. Im Lügen macht dir keiner was vor. Und wenn ich irgendwann erfahren sollte, dass Tankred die Wahrheit gesagt hat, dann schleife ich dich eigenhändig zum Fluss und werfe dich hinterher.»

Seine Schritte entfernten sich, dann blieb er noch einmal stehen. «Mein Vater ist tot. Wir bringen ihn jetzt unter die Erde, wie sich das gehört, ohne gezackte Furchen auf dem Boden, ohne irgendwelche eingeritzten Zeichen im Sarg, ohne Geisterbeschwörungen oder anderen Mummenschanz. Ab jetzt habe ich hier das Sagen. Der Hokuspokus hört auf, und um Tankred kümmere ich mich selbst.»

«Tankred ist vom Satan besessen.»

«Ich glaube, von diesen Dingen versteht er nach zwölf Jahren im Kloster mehr als wir alle zusammen. Deine ganzen idiotischen Verwünschungen haben nur das Gegenteil bewirkt. Er ist wieder da, und er will sich sein Erbe zurückholen. Und ich habe mich dummerweise dazu hinreißen lassen, etwas ganz und gar Unehrenhaftes zu tun, um ihn daran zu hindern. Das wird nicht noch einmal passieren. Wenn es sein muss, stoße ich ihm das Schwert in den Bauch, aber nicht den Dolch in den Rücken. Und ich weiß auch schon, wie ich es anstellen werde.»

Uta antwortete nicht und fragte auch nicht weiter nach. Gerold stapfte hinaus. Im Weggehen sagte er laut: «Zieh dir was an und komm in einer Stunde zur Aussegnung in die Kapelle. Ich hole den Priester und schicke die Boten los.»

Uta rührte sich nicht. Als Gerolds Schritte verklungen waren, murmelte sie noch ein paar trotzige Beschwörungen, dann verließ auch sie das Zimmer.

Zitternd kroch ich unter dem Bett hervor, nahm das Schwert und kletterte aus dem Fenster, diesmal ohne auf das Bett zu treten.

Draußen war es kühl. Im Westen zeigte sich die erste Morgenröte. Von Weitem waren Stimmen zu hören. Jemand rief ein paar Befehle, eine Stalltür quietschte, ein Pferd schnaubte. Es war Zeit zu verschwinden.

Ich schlich zur Ecke des Hauses und spähte auf den Hof. Bei der Kapelle war niemand zu sehen. Offenbar waren alle damit beschäftigt, sich im Haus für die Totenmesse vorzubereiten oder in den Ställen die Pferde zu satteln. Und dann kam mir eine Idee. Ich wusste, dass es riskant war, aber die Versuchung, Uta noch einen Abschiedsgruß zu hinterlassen, war einfach zu groß. Im Dämmerlicht huschte ich zur Kapelle.