16

G auzbert war immer noch so blass und mager wie an dem Tag, als ich ihn in einer kleinen Dorfkirche unweit von Prüm kennengelernt hatte. Er hatte in einem Sarg gelegen und einen toten Heiligen gespielt, und dann hatte er die Dänen, die gerade die Kirche plündern wollten, durch seine plötzliche Wiederauferstehung in die Flucht geschlagen. Von da an war er mir mehrere Monate lang nicht von der Seite gewichen – bis zu dem Tag, an dem ein dänischer Pfeil ihn im Bauch getroffen hatte und ich ohne ihn hatte aufbrechen müssen.

Er ließ den Bogen sinken und grinste. Einen Augenblick später lagen wir uns lachend und weinend in den Armen.

«Du darfst mich nie wieder verlassen», kommentierte Lupus mit Fistelstimme.

«Als ich hörte, dass du in Inda nach mir gefragt hast, hatte ich plötzlich keine Lust mehr auf die Schreinerei und auf die Mönche mit ihrem Gesinge», sagte Gauzbert. «Also dachte ich mir: Vielleicht könnt ihr hier jemanden gebrauchen, der ein bisschen schießen kann.» Er blickte hinüber zur Insel. «Wann geht’s los?»

«In den nächsten Tagen», sagte ich. Genau wusste ich es nicht, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass der ungeduldige Arnulf noch mehr Zeit verlieren wollte, und eine Fortsetzung der Belagerung hatte keinen Sinn, jetzt, wo die Festung ohne den schützenden Fluss vor uns lag. Alle wollten stürmen und die Sache zu Ende bringen, bevor die Dänen über den Fluss Verstärkung heranbrachten oder doch noch einen Weg fanden, den Damm zu zerstören. Es lag eine solche Kampfstimmung in der Luft, dass es dumm gewesen wäre, diesen Schwung durch weiteres Abwarten zu vergeuden.

Während ich Gauzbert half, sein Gepäck in mein Zelt zu bringen, ging Lupus ins Lager, um Bier und Essen für uns zu besorgen. Anschließend suchten wir uns einen Platz am Kanal und machten es uns bequem. Das Wasser rauschte nicht mehr, sondern zog stetig dahin. Die Arbeiter schaufelten immer noch, aber sie hackten nicht mehr wie die Besessenen, sondern beschränkten sich darauf, die Öffnung zu vertiefen und den mitgespülten Sand zu entfernen, der sich immer wieder vor dem Durchstich staute. Weiter unten war die Senke hüfttief mit Wasser gefüllt. Hunderte von Männern hatten sich dort eingefunden und nutzten sie als Badesee. Sie lagen am Ufer und im Wasser, tranken Bier und schubsten sich gegenseitig hinein. Ab und zu ließ sich einer von den Anführern dort blicken und scheuchte ein paar Dutzend Leute mit Pfiffen zur Lagerwache.

Ich erzählte Gauzbert, was sich in den letzten Monaten ereignet hatte. Vieles davon wusste er schon vom Hörensagen oder in Form von unwahren oder halb wahren Anekdoten. Am besten gefiel ihm die Geschichte meiner Einlage als Tanzbär beim Fest der Dänen. Spektakel und Budenzauber: klar, dass das nach Gauzberts Geschmack war.

«Dansebjørn!», kreischte er und wäre vor Lachen fast in den Kanal gefallen.

Und natürlich gelang es Lupus sofort, Gauzbert für seine Idee des gemeinsamen Auftritts zu begeistern. Die beiden verstanden sich auf Anhieb und verbündeten sich, um mich fortwährend aufzuziehen. Vergeblich versuchte ich, ihnen zu erklären, dass ich inzwischen in einer Position war, in der ich mir einen solchen Mummenschanz nicht mehr erlauben konnte.

«Der Herr ist jetzt Berater des Kaisers», spottete Gauzbert.

«Darum soll er ja das Bärenkostüm tragen», sagte Lupus. «Dann erkennt ihn keiner. Wo ist das Problem?»

Dann zeigte Gauzbert uns seine Narbe. Sigibert hatte gute Arbeit geleistet: Die Wunde hatte nur einen wulstigen Buckel knapp über der Leiste hinterlassen. Und noch eine gute Nachricht hatte Gauzbert für mich; der Abt von Inda hatte es von irgendjemandem gehört, der er es wiederum irgendwo aufgeschnappt hatte: Wolfhelm hatte die Strapazen der Flucht tatsächlich überstanden und war nach Prüm zurückgebracht worden.

«Und was ist mit den Büchern?», fragte ich.

«Die sind weg», antwortete Gauzbert. «Beide Glockentürme sind abgebrannt. Aber nicht bei der Plünderung, sondern hinterher. Einer der Arbeiter, die das Kirchendach reparieren sollten, hat im Gebälk eine Lampe brennen lassen.»

Es konnte nicht wahr sein. Ich hatte die Bücher in die Glocken gehängt, um sie vor den Dänen zu retten, und nun hatte irgendein Idiot die unschätzbaren Werte aus reiner Nachlässigkeit der Vernichtung preisgegeben. Doch die Nachricht, dass der alte Wolfhelm immer noch lebte, wog meinen Ärger auf. Es war, als lebten die Bücher mit ihm weiter.

«Du kanntest die doch sowieso alle auswendig», kommentierte Lupus.

Später wurde er auf einem der Türme zur Wache eingeteilt, und wir leisteten ihm Gesellschaft. Bei den Dänen brannten wie in jeder Nacht die Fackeln und spiegelten sich schwach auf dem Wasser des schmalen Tümpels, der vom rechten Seitenarm der Maas übrig geblieben war, während unten an den Feuern in unserem Lager einfach weitergefeiert wurde. Unablässig wurden wir von Mücken umschwirrt. Seit der Fluss auf unserer Seite durch den Damm zu einem stehenden Gewässer erstarrt war, hatten sich die Insekten zu einer Plage entwickelt, die schlimmer war als die Dänen. Schließlich hatten die uns schon seit geraumer Zeit nicht mehr belästigt.

«Wir werden da reinstürmen wie die Füchse in den Hühnerstall», prophezeite Lupus.

«Wie die Bären in die Schafherde», korrigierte Gauzbert.

 

Der Kaiser hatte zwischenzeitlich erneut in Gerwins Haus in Roermond Quartier bezogen. Schon am nächsten Tag wurde im Rat, der wieder in der Kirche tagte, beschlossen, dass der Angriff am kommenden Samstag durchgeführt werden sollte, also drei Tage später. Arnulf und Heinrich hatten sich wieder zusammengerauft und gaben sich sichtlich Mühe, das erbärmliche Gerangel um das Signalhorn vergessen zu machen.

Viel zu streiten gab es ohnehin nicht: Der Sturm konnte nur durch den trockengelegten Seitenarm vorgetragen werden, und er musste zur gleichen Zeit von allen Seiten erfolgen, um die Verteidiger überall zu beschäftigen. Die Breite des Flussbettes ermöglichte es, alle Männer gleichzeitig voranstürmen zu lassen, und durch die lang gestreckte Form der Insel konnte ein Teil von ihnen mit Leitern außerhalb der Reichweite der dänischen Bogenschützen entlang der Schmalseiten der Festung schnell auf die Westseite gelangen. Unsere eigenen Bogenschützen sollten derweil versuchen, die hölzernen Turmaufbauten in Brand zu schießen, um Verwirrung zu stiften.

Leider wussten wir nicht, ob und wie die Dänen die Tore von innen gesichert hatten. Da es offensichtlich war, von welcher Seite wir kommen würden, hatten sie sich dabei wahrscheinlich auf das Tor auf der Ostseite konzentriert, und Heinrich meinte, dass es sich lohnen könnte, den Rammbock auf die Westseite zu schaffen, weil das Tor dort im Zweifelsfall leichter einzuschlagen sein würde. Arnulf lobte den Vorschlag pflichtschuldig, gab dann aber zu bedenken, dass der Transport des Rammbocks zu lange dauern würde und dem Angriff seinen Schwung nehmen könnte. In erzwungener Ehrerbietung tauschten sie ihre Argumente aus, dann brachte der Kaiser sie mit der Frage aus dem Konzept, warum denn eigentlich nicht zwei Rammböcke gebaut worden seien. Eine Weile schoben sie sich gegenseitig die Verantwortung für das Versäumnis zu, und die Stimmung drohte schon wieder zu kippen, doch dann besann Arnulf sich darauf, dass Poppo, der junge Anführer des lotharingischen Kontingents, dafür zuständig gewesen war, und Heinrich nahm den Ball dankbar auf, sodass sie eine Weile auf Poppo herumhackten. Der geriet gehörig ins Stottern, traute sich aber nicht, die Schuld nach oben zurückzureichen, und bot stattdessen demütig an, in den nächsten Tagen einen zweiten Rammbock bauen zu lassen. Doch Arnulf und Heinrich lehnten den Vorschlag in seltener Einigkeit und mit genüsslicher Unbarmherzigkeit ab. Vielleicht erkannten sie die Gelegenheit, Poppo als Sündenbock aufzubauen und ihm später die ganze Schuld zuzuschieben, falls etwas schiefgehen sollte.

Mit grimmiger Miene entließ uns der Kaiser. Die etwa dreißig Anwesenden zerstreuten sich. Nur Liutward ging nach vorn und verharrte mit gefalteten Händen vor dem Altar. Er warf mir einen Blick zu und bedeutete mir durch eine kaum merkliche Kopfbewegung, mich zu ihm zu gesellen.

«Lass uns beten», sagte er, als ich neben ihn trat. Hinter uns verließen ein paar Nachzügler die Kirche. Mit einem Krachen fiel die Tür zu.

«Vater unser im Himmel», murmelte ich.

«Ich bezweifle, dass euer Vater im Himmel ist», sagte Liutward mit einem kühlen Lächeln. «Kann es übrigens sein, dass du noch mal bei ihm warst, bevor er gestorben ist?»

Woher wusste er das? War ich gesehen worden? Hatte Heriger irgendjemandem von meinem überstürzten Aufbruch erzählt? Hatte Liutward die richtigen Schlüsse aus den Gerüchten über die Vorkommnisse in der Todesnacht meines Vaters gezogen? Oder schoss er einfach nur einen Pfeil ins Blaue ab? Es schien wirklich unmöglich, vor diesem Mann irgendetwas geheim zu halten. Ich beschloss, bei der Wahrheit zu bleiben, denn falls er wirklich Bescheid wusste, würde ich sein Vertrauen verspielen, wenn ich ihn anlog.

«Ja, ich war bei ihm.»

«Geheiligt werde dein Name», sagte er. Es war fast schon Blasphemie, wie Liutward das Vaterunser mit seinem ironischen Lächeln in unser Gespräch einflocht. «War Gerold auch da?»

Ich beschloss, das Spiel mitzuspielen. «Dein Reich komme», betete ich. «Ja.»

«Dein Wille geschehe. Ich habe etwas über Gerold erfahren, was du nicht weißt.»

Ich spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann. «Wie im Himmel, so auf Erden», sagte ich rasch. «Was?»

«Unser tägliches Brot gib uns heute. Gerold hat eine Vereinbarung mit Franco von Lüttich.»

Mir wäre vor Überraschung fast der nächste Satz des Vaterunsers entfallen. «Und vergib uns unsere Schuld. Er hat was?»

«Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Er hat Gerold vor ein paar Tagen empfangen und ihm einen Handel angeboten.»

«Und führe uns nicht in Versuchung. Was für einen Handel denn?» Ich hätte den Bischof am liebsten gepackt und geschüttelt.

«Sondern erlöse uns von dem Bösen», betete er seelenruhig weiter. «Gerold soll Osmund befreien. Und wenn ihm das gelingt, lässt Franco dich fallen.»

«Das kann doch wohl nicht wahr sein!», entfuhr es mir. Ein halb strenger und halb belustigter Blick traf mich. «Denn dein ist das Reich ...», schob ich hinterher.

«... und die Herrlichkeit. Es ist aber wahr. Und wer könnte es ihm verdenken. Doppelt hält besser.»

Ich war fassungslos. Franco spielte Gerold und mich gegeneinander aus. Wahrscheinlich hatte er Gerold zu sich gerufen, nachdem ich ihn in Tongern besucht hatte, ohne Ergebnisse vorweisen zu können. Wenn Gerold vorher bei ihm gewesen wäre, hätten die Iren es wahrscheinlich gewusst und mir hinterbracht. Das also hatte Gerold gemeint, als er zu Uta gesagt hatte, er wisse schon, wie er mit mir fertigwerden könne.

Liutward stieß mich an.

«... und die Kraft ...», murmelte ich, während meine Gedanken weiterrasten. «Woher weißt du das?»

«... und die Herrlichkeit. Ich habe meine Ohren überall. Ich wollte nur, dass du es auch weißt. Ich bin auf deiner Seite.»

«In Ewigkeit. Danke.»

«Amen.»

«Amen.»

 

Drei Tage später war es so weit. Der Tag der Entscheidung war gekommen. Wenn alles so lief wie geplant, würden wir das dänische Geschwür aus dem Land herausschneiden. Und nicht nur das: Vielleicht würde auch mein Weg an diesem Tag eine entscheidende Wendung nehmen.

Als ich kurz nach Sonnenaufgang aus dem Zelt trat, war bereits die Hälfte der Männer in voller Bewaffnung auf den Beinen. Sie frühstückten an den heruntergebrannten Feuern, gingen unruhig betend auf und ab oder standen in Gruppen herum und überboten sich in der Ankündigung der Heldentaten, die sie an diesem Tag begehen würden. Ich sah ängstliche und entschlossene Gesichter und auch manche, auf denen sich beide Empfindungen mischten. Einige schliffen noch einmal die Klingen von Schwertern und Speeren. Die erwartungsvolle Unruhe übertrug sich sogar auf die Pferde, die an ihren Pflöcken standen und im sandigen Boden scharrten oder mit angelegten Ohren nach Fliegen schlugen.

Es war ein schwüler und bedeckter Tag, vielleicht würde es später noch ein Gewitter geben. Ich fragte mich, wie ein solches Unwetter gedeutet werden würde. Wenn wir siegten, würden die Priester wohl erklären, Gott habe uns geholfen, die Feinde der Christenheit zu zerschmettern; wenn nicht, würden sie behaupten, das Gewitter sei die Strafe für unsere mangelnde Standfestigkeit im Glauben. Und genau wie wir würden auch die Dänen in einem solchen Unwetter wahrscheinlich das Eingreifen göttlicher Mächte sehen und sich im Fall einer Niederlage taufen lassen, um auf der Seite des stärkeren Gottes zu sein und dann bei der ersten Gelegenheit wieder rückfällig zu werden. Ich musste an die spöttische Frage des Lukrez denken, warum denn die Blitze der Götter nie die Frevler träfen – eine Frage, die, wenn man es genau nahm, für beide Seiten gleich unbequem war.

Ich hatte in den vergangenen Tagen viel über das nachgedacht, was Liutward mir in der Kirche beim Vaterunser eröffnet hatte. Es bestätigte, was Connor mir schon bei meinem ersten Besuch in Lüttich prophezeit hatte: Gerold und ich würden nicht nur gegen die Dänen antreten, sondern auch gegeneinander.

Gerold war erst am Vortag wieder aufgetaucht. Wie erwartet, hatte er sich nach der Bestattung unseres Vaters von den daheimgebliebenen Herren des Maasgaus huldigen lassen, aber das bedeutete noch nicht viel, denn die, auf die es ankam, waren mit ihren Gefolgschaften in Asselt. Alle wussten inzwischen, wie es zwischen uns stand, und allen war klar, dass unsere Leistungen beim Angriff auf Asselt in die Waagschale geworfen werden würden. Schließlich war es ja auch denkbar, dass einer von uns ums Leben kommen würde, und so wollte sich niemand aus der Deckung wagen, bevor der Kampf entschieden war. Ich fragte mich, ob außer Liutward und seinen Zuträgern, wer auch immer sie waren, noch jemand von Francos doppeltem Spiel wusste.

Die Dänen hatten auch in den vergangenen Tagen keine Anstalten gemacht, unsere Vorbereitungen zu stören. Die Tore von Asselt waren verschlossen geblieben, die Fenster des Saalbaus auf der Westseite der Pfalz waren zugemauert worden, und die Schiffe lagen nach wie vor bei der Maasmündung auf dem Strand, obwohl den Dänen nicht entgangen sein konnte, dass der Tag der Entscheidung bevorstand.

Ich frühstückte mit Lupus und Gauzbert auf dem Wall vor der Palisade unter dem Turm, von dem aus ich mit dem Gefolge des Kaisers den Durchstich beobachtet hatte. Karl selbst war noch nicht eingetroffen, doch ein stetiges Hin und Her von Reitern verriet, dass etwas im Gange war.

Meine beiden Freunde redeten nicht viel, aber sie wirkten eher konzentriert als besorgt. Lupus, der wieder seinen nietenbesetzten schwarzen Lederpanzer trug, jonglierte kauend mit seinen verschrumpelten Äpfeln herum; Gauzbert sortierte seine Pfeile und machte ein paar Zielübungen auf die Pfosten des Turms. Angst schien er gar nicht zu kennen, obwohl der Krieg nicht sein Geschäft war. An der Hüfte sah man noch das Loch in seinem Kettenhemd, das der dänische Pfeil in Koblenz durchschlagen hatte. Seine Gelassenheit war nicht aufgesetzt. Die von Lupus schon gar nicht. Wahrscheinlich war ich am Ende der Unruhigste von uns dreien, weil für mich am meisten auf dem Spiel stand.

Ich bereute meinen Entschluss, nicht noch einmal nach Aachen zu reiten. Mir war klar, dass Fidis auf Nachrichten von mir wartete, aber die Ereignisse der letzten Zeit hatten mich so sehr beschäftigt, dass ich das Gefühl gehabt hatte, zunächst einmal alles mit mir selbst ausmachen zu müssen. Außerdem hatte ich nicht gewollt, dass mein Besuch wie ein möglicher Abschied für immer gewirkt hätte. Obwohl mir klar war, dass ich in wenigen Stunden mein Leben aufs Spiel setzen würde, war ich wie schon vor der Schlacht bei Remich sicher, dass ich unbeschadet aus dem Kampf hervorgehen würde. Woher nahm ich eigentlich diese Gewissheit? Aus der Überzeugung, dass mein Aufstieg vom rechtlosen Klosterhäftling zum Berater des Kaisers einen Sinn gehabt haben musste?

So verbrachten wir mehrere Stunden, während die Anspannung um uns herum immer größer wurde. Die Wolken wurden dichter und dunkler, als senkte sich der Himmel herab. Ein leichter Wind kam auf.

Bald waren erste Unmutsäußerungen zu hören. Hinter der Palisade schrie jemand nach Bier und wurde sofort zurechtgewiesen, dass vor dem Sieg nichts ausgeschenkt würde.

«Du sollst nicht so viel saufen, sonst schießt du daneben.»

«Und du sollst nicht so viel fressen, sonst kommst du die Leiter nicht mehr hoch.»

Zwei weitere Stunden vergingen. Der Kaiser kam und kam nicht. Die Wachen hinter der Palisade gingen nervös auf und ab. Helme wurden abgenommen und wieder aufgesetzt. Immer wieder kamen Männer aus dem Tor, gingen am Strand auf und ab, warfen Steine in die seichte Brühe in der Mitte des Flussbettes und spähten zur Festung hinüber. Hinter den Zinnen stand ein unbewegliches Spalier aus Helmen. Fast hätte man meinen können, die Dänen hätten Attrappen aufgestellt. Im Flussbett hatten unsere Arbeiter in den letzten Tagen auf der Höhe des Tors der Festung einen Knüppeldamm angelegt, damit der Rammbock auf dem sandigen Untergrund nicht stecken blieb. Wo noch Wasser stand, war Schotter angeschüttet worden.

«Der Angriff wird abgeblasen», erscholl eine Stimme aus dem Lager.

«Blödsinn», antwortete eine andere Stimme. «Der Kaiser ist unterwegs.»

Und dann, endlich, kam er tatsächlich. Wie eine Flutwelle brandeten die Jubelrufe heran und pflanzten sich durch das Lager fort. Es war wie ein Befreiungsschlag, und die Erleichterung darüber, dass das Warten ein Ende hatte, ergriff auch mich.

«Na los», sagte ich. «Gehen wir rein.»

Im Lager standen die Männer dicht an dicht, um Karl zu begrüßen. Alle Lagerstraßen waren verstopft. Es roch nach Schweiß und Leder. Auf den Wällen zogen sich Perlenketten aus Helmen hin, und selbst auf den Leitern der Ecktürme standen sie festgeklammert wie die Eichhörnchen an einem Baumstamm. Lupus, Gauzbert und ich kämpften uns durch die Menge, und meine Bekanntheit sorgte dafür, dass alle zur Seite traten, sodass wir einen Platz in der ersten Reihe an der Kreuzung der beiden Hauptstraßen des Lagers fanden.

Der Helmbusch des Kaisers ragte aus der Gruppe seiner berittenen Leibwächter auf wie eine Standarte. Hinter ihm folgten die Anführer der Kontingente in einer Reihe bis auf die ersten beiden: Arnulf von Kärnten und Heinrich von Babenberg ritten nebeneinander und warfen sich argwöhnische Blicke zu. Sobald einer von ihnen ein bisschen beschleunigte, zog der andere nach.

Der Zug hielt direkt vor uns an. Vier Priester in weißen Gewändern mit prachtvoller Stickerei traten vor. Ein Tragaltar wurde abgesetzt.

Als ranghöchster Geistlicher war es Bertolf von Trier, der die Messe las. Die Priester sangen, wir beteten, Bertolf predigte. Obwohl er sich kurzfasste, bekam ich fast nichts von seinen Worten mit. In Gedanken spielte ich schon den Angriff durch. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, vor allen anderen zu den Gefangenen zu gelangen, nachdem wir das Tor aufgebrochen hatten. Ich sah mich schon mit Gerold um die Wette rennen. Vor meinem inneren Auge streckte ihn direkt vor der Kellertür ein Pfeil nieder, während ich ein paar verzweifelte Dänen in die Flucht schlug, in den Keller stürmte und mir Osmund schnappte.

Lupus stupste mich von der Seite an. «Hände falten», raunte er.

Stille trat ein. Zuerst stimmte einer der Priester ein Bittgebet an, dann folgte Liutward mit dem Vaterunser. Tausende von Männern sprachen mit, sodass das Gebet wie eine schwer verständliche Wolke aus Gebrumm zum bedeckten Himmel aufstieg.

Nach dem Segen trat der Kaiser vor. Er trug wieder das lange Kettenhemd und einen prachtvollen purpurfarbenen Überwurf, mit dem er an einen römischen Imperator erinnerte. Er hatte den Helm unter den linken Arm geklemmt und gebot mit der erhobenen Rechten Ruhe. Die Haare klebten ihm am Kopf, und der schwarze Bartschatten gab seinem Gesicht einen wilden Zug, der ihm gerade an diesem Tag besser stand als die glatt rasierten Wangen mit den rötlichen Flecken.

Als er zu reden anfing, wurde es vollständig still. Der leichte Westwind trug seine Stimme in die hintersten Winkel des Lagers. Er beschwor noch einmal den Heiligen Geist, den Erlöser und die Muttergottes, die allesamt auf unserer Seite kämpfen würden, und dann erläuterte er mit fester Stimme den Angriffsplan, den inzwischen alle kannten, wenngleich die Wiederholung durch den obersten Befehlshaber ihm eine abschließende Gültigkeit verlieh: Das gesamte Heer würde auf der ganzen Breite des Flusses in dichten Reihen auf die Insel vorrücken und dann außerhalb der Schussweite der Dänen ausschwärmen. Friesen, Thüringer und Sachsen würden die Festung umrunden, sodass sie eingekreist wäre, alle anderen würden sich am Ostufer der Insel bereithalten. Auf ein Hornsignal hin würden wir von allen Seiten gegen die Mauern anstürmen und die Leitern anlegen. Die Bogenschützen würden, von Schildträgern gedeckt, die Mauerkrone unter Beschuss nehmen, um die Verteidiger hinter die Zinnen zu zwingen, und die Türme mit Brandpfeilen beschießen. Die anderen würden über die Leitern auf den Wehrgang steigen und sich dort festsetzen, während der Rammbock gegen das Tor auf der Ostseite geführt würde. Wenn alles nach Plan lief, würden wir den Mauerbereich über dem Tor bereits gesichert haben, wenn das Holz unter der Wucht des eisenbewehrten Eichenstamms nachgab. Anschließend würden die hinteren Reihen unserer Formation vorstürmen und zusammen mit den restlichen Bogenschützen eindringen, die dann die ungedeckten Dänen auf dem Wehrgang vom Hof aus beschießen könnten, während eine zweite Angriffswelle über die Leitern nachstürmte. Angesichts unserer erdrückenden Übermacht konnte dabei eigentlich nichts schiefgehen, zumal die Späher am Fluss auch an diesem Morgen keine Schiffe gesichtet hatten.

«Gott ist mit uns!», rief Karl zum Abschluss seiner Ansprache, zog sein Schwert und reckte es in die Höhe. Ein tausendfaches Echo schallte zurück und ließ die schwüle Luft erzittern. Das ganze Lager war ein Wald aus erhobenen Klingen. In immer schnellerem Takt schlugen die Männer ihre Schwertknäufe auf die Schildränder. Der Boden bebte. Es hätte mich kaum gewundert, wenn die Mauern von Asselt bei diesem Gedröhn von selbst in sich zusammengefallen wären.

Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis die Formationen ausgerückt waren und vor dem Lager Aufstellung genommen hatten. Lupus, Gauzbert und ich hielten uns an Ratwin, dessen hundert Männer in der vordersten Reihe am Flussufer standen und auf den Befehl zum Vorrücken warteten, während seine zwanzig Berittenen sich zusammen mit anderen Reitern an den äußersten Flanken bereithielten, um bei einem Ausfall der Dänen einzugreifen. In der Zwischenzeit hatte die Wolkendecke sich weiter verdunkelt, und auch der Wind hatte aufgefrischt. Im Westen ragte eine dunkelgraue Mauer vor dem Horizont auf. Regengeruch lag in der Luft, doch selbst wenn der Himmel in diesem Augenblick seine Schleusen geöffnet hätte, wäre niemand auf die Idee gekommen, den Sturm auf Asselt abzublasen. Im Gegenteil: Das heraufziehende Unwetter wirkte wie ein zweites Heer, das die Festung von der anderen Seite aus angreifen und so endlich den Untergang der Dänen besiegeln würde, die seit Jahren das ganze Land in Angst und Schrecken versetzten. Ein unglaublicher Sog ging von diesem Schauspiel am Himmel aus, und auch ich wünschte mir in diesem Augenblick nichts anderes, als dass es endlich losging.

Links von uns wurde der Rammbock vorgeschoben, ein Ungetüm mit acht massiven Holzrädern, die zur besseren Verteilung des Gewichts jeweils zwei Spannen breit waren, damit das Gefährt den Knüppeldamm nicht zerbrach oder sich im schlammigen Sand festfraß. An einem gerüstartigen Aufbau über dem Gestell hing an Ketten ein Eichenstamm, dessen Spitze mit einer kegelförmigen Eisenkappe bewehrt war. Darüber dehnte sich ein zeltartiges Dach aus Holz, das zum Schutz vor Brandpfeilen mit nassem Leder bespannt und so ausladend war, dass auch die vierzig Männer, die den Rammbock an das Tor schieben würden, vor dem Beschuss von oben geschützt waren. Ich dachte an den Bock, den die Dänen beim Sturm auf Koblenz eingesetzt hatten. Er hatte das Tor stark beschädigt, und wenn wir den Angriff nicht von den Mauern aus abgeschlagen hätten, dann hätte es nach ein paar weiteren Stößen wahrscheinlich nachgegeben. Dieser hier war mindestens dreimal so schwer. Dass das Tor von Asselt ihm auf Dauer standhalten würde, war unvorstellbar.

Das erste Hornsignal ertönte. Wir nickten uns zu und setzten uns in Bewegung. Ratwin hatte seine Leute fünf Reihen tief gestaffelt, sodass immer etwa zwanzig Männer nebeneinandergingen. Sechs lange Leitern wurden von jeweils drei Männern getragen. Und wie schon bei Remich erfasste mich in diesem Augenblick eine fast unwirkliche Ruhe. Wie ein Stampfwerk schritt ich voran.

Rechts und links von uns rückten weitere Abteilungen vor wie eine träge, aber unaufhaltsame Brandungswelle. Insgesamt waren gut und gern zwei Drittel des gesamten Heeres angetreten, der Rest war zur Bewachung der Lager und zur Sicherung von Roermond zurückgeblieben. Für den Angriff hatten wir mindestens eine vierfache Übermacht. In einer Stunde würde es wahrscheinlich vorbei sein. Überall sah ich entschlossene und siegessichere Gesichter. Die Walze hatte sich in Bewegung gesetzt und war durch nichts mehr zu bremsen.

Während wir mit dem Lager im Rücken auf das Flussbett zumarschierten, war mein Kopf leer. Ich sah nur noch die Mauer, so als wäre die Eroberung dieser Festung das einzige Ziel, das ich im Leben noch erreichen musste. Ich sah zu Lupus hinüber, der mir unter seinem Helm zugrinste. Er trug wieder seinen schwarzen Lederpanzer mit den Nieten. Seine nackten Arme wirkten für seinen drahtigen Körper zu dick. Er zeigte seine Muskeln ganz gern.

So zog ich also zum dritten Mal seit meiner Flucht aus dem Kloster mit einem Heer in den Kampf. Beim ersten Mal hatte ich eine Stadt gegen die Dänen verteidigt, beim zweiten Mal war ich ihnen im offenen Feld gegenübergetreten. Während wir vorrückten, ging mir auf, dass die Situation fast die gleiche war wie in Koblenz, mit dem einzigen Unterschied, dass wir es nun waren, die mit Rammbock und Leitern gegen eine Befestigung anrannten. Ich war sicher, dass uns an diesem Tag gelingen würde, was sie damals nicht geschafft hatten, doch mir war auch klar, dass es kein Kinderspiel werden würde. Die Befestigungen von Asselt waren noch eine Manneslänge höher als die Römermauer von Koblenz. Und in der Überzahl waren sie damals auch gewesen. War es wirklich vorstellbar, dass wir heute zurückgeschlagen würden?

Als wir das Flussbett erreichten, hielten wir an, um den Rammbock aufschließen zu lassen. Trotz des Gefälles zum Ufer hin kam er wegen des unebenen Untergrundes nur langsam voran. Es würde mühselig werden, ihn auf der anderen Seite zum Tor hochzuschieben, während von oben die Pfeile heranschwirrten. Man konnte nur hoffen, dass keine Achse brechen würde.

Die Unwetterwand schob sich derweil weiter auf uns zu. Der Himmel im Westen war inzwischen fast schwarz. Windböen gingen über uns hinweg und kräuselten die Wasseroberfläche des flachen Tümpels vor uns.

Auf der Mauer hatten die Dänen sich inzwischen für den Kampf bereitgemacht. Zwischen den Zinnen sah man nur noch Schilde, hinter denen Speere, Schwerter und die Köpfe der Verteidiger aufragten. Die Ecktürme waren dicht besetzt, wahrscheinlich mit Bogenschützen.

Der Rammbock erreichte den Knüppeldamm. Die Männer, die sich unter dem Schutzdach gegen die seitlich angebrachten Holme stemmten, stöhnten und ächzten, es knackte und rumpelte, aber die im Boden festgestampften Hölzer gaben nicht nach. Barsche Kommandos erschollen von irgendwoher, ansonsten war es fast unheimlich still. Als wir die Dänen bei Remich angegriffen hatten, hatte die Luft über dem Feld vom Rhythmus unserer immer schnelleren Schritte gezittert. Hier dagegen schlichen wir fast, und der sandige Boden schluckte die Geräusche unserer Stiefel. Wie alle anderen spürte ich den Drang, voranzustürmen und die Sache endlich zur Entscheidung zu bringen, aber wir hätten einen entscheidenden Vorteil verschenkt, wenn wir die Leitern angelegt hätten, ohne gleichzeitig das Tor aufzurammen. Also hielten wir uns zurück.

Der Rammbock mühte sich auf dem Knüppeldamm ab, erreichte den Tümpel und rollte knirschend über das Schotterbett. Gleichzeitig erreichte unsere erste Reihe das Wasser. Ich spürte, wie es mir lauwarm in die Stiefel sickerte. Ich umklammerte das Schwert. Der Schild wippte mit jedem Schritt schwer auf meinem Rücken.

Es schäumte und rauschte, als das Heer fast auf der ganzen Breite der Insel zwischen den beiden Dämmen durch das Flussbett vorrückte. Die Anführer der einzelnen Abteilungen schritten voran. Weit rechts von mir glaubte ich Gerold zu erkennen.

Links von uns öffnete sich jetzt eine Lücke in der Reihe, und zwei Reiter auf Schimmeln galoppierten vor. Es waren Arnulf und Heinrich, wie immer im Wettstreit um Sichtbarkeit. Wenn einer von ihnen auf die Idee kam, vor allen anderen auf eine der Leitern zu steigen, würde der andere nicht zurückbleiben können. Der Kaiser dagegen war nicht zu sehen. Ohne Zweifel hätte er sein Ansehen steigern können, indem er in der ersten Reihe marschierte, aber wie ich Liutward einschätzte, hatte er Karl davon abgeraten. Das Leben des Kaisers war zu wertvoll, um es zu opfern, bevor die Nachfolge in Liutwards Sinn geregelt war. Ich dachte an Remich, wo Bischof Wala von Metz, ebenfalls mit leuchtend rotem Helmbusch, mitten ins Schlachtgetümmel gesprengt war, um eine Lücke zu schließen, die die Dänen gerissen hatten. Nachdem er vom Pferd gestürzt war, hatte er zu Fuß weitergekämpft, bis eine dänische Klinge seinem Leben ein Ende bereitet hatte. Ein solches Risiko konnte der Kaiser hier nicht eingehen, zumal er nicht wirkte wie jemand, der mit dem Schwert wirklich umzugehen verstand.

Arnulf und Heinrich galoppierten durch das Flussbett, dass das Wasser in alle Richtungen spritzte. Auf der Insel wendeten sie ihre Pferde. Arnulf riss sein Schwert aus der Scheide und brüllte dem vorrückenden Heer etwas entgegen. Und tatsächlich verdoppelten die Männer mit dem Rammbock ihre Anstrengungen, überwanden das zweite Stück des Knüppeldamms und erreichten das Ufer.

Wenige Minuten später standen die Fußtruppen vor der Festung. In der Ferne rückten jetzt mehrere Hundert Reiter über die beiden Dämme vor und sammelten sich am Ufer der Insel. Gleichzeitig schwärmten die Formationen an den Enden der Schlachtreihe aus und umrundeten die Festung, schleppten Leitern und Eimer mit loderndem Pech, an dem die Brandpfeile entzündet werden sollten. Alles war bereit, nur der Rammbock hatte Schwierigkeiten mit der Steigung. Unendlich langsam ging es voran, und bald war klar, dass die Trägheit dieses schildkrötenartigen Ungetüms unsere größte Schwierigkeit sein würde: Wenn wir den Rammbock ungedeckt vor das Tor rücken ließen, würden die Dänen ihn in einem immer stumpferen Winkel von den Seiten her beschießen können, sodass das Dach kaum noch Schutz bieten würde. Rückten wir dagegen alle gemeinsam vor, wäre die gesamte Schlachtreihe unnötig lange dem zermürbenden Beschuss ausgesetzt, und der Schwung für den Angriff mit den Leitern ging verloren.

Auch Arnulf hatte dieses Problem erkannt. Er löste sich von Heinrich und kam herangesprengt.

«Scheißklumpverreckts!», schrie er. «Habt ihr Sauhunde nichts in den Armen?»

Arnulf sprang vom Pferd, rannte zum Rammbock und stemmte sich fluchend von hinten dagegen. Sein persönliches Eingreifen spornte die Männer an, und vielleicht kam ihm an dieser Stelle auch eine geringfügige Abnahme der Steigung zu Hilfe – jedenfalls ruckte der Rammbock spürbar an und rumpelte nun etwas schneller auf das Tor zu. Für die Männer in der Schlachtreihe musste es so aussehen, als hätte Arnulf allein durch seine Bärenkräfte bewirkt, dass das Monstrum wieder Fahrt aufnahm. Ein Jubelschrei lief durch die Reihen. Der Himmel war inzwischen zur Hälfte schwarz. Der Wind war zum Sturm angeschwollen.

Nachdem wir etwa zwanzig Schritte zurückgelegt hatten, setzte der Beschuss von den Mauern aus ein.

«Schilde hoch!», schrie Ratwin.

Zuerst flogen nur vereinzelte Pfeile heran, als wollten die Dänen die Reichweite ihrer Bögen erproben, dann prasselten die Geschosse immer dichter auf uns herab. Wir duckten uns hinter die Schilde und krochen fast kniend voran, ohne innezuhalten. Lupus und ich nahmen Gauzbert in die Mitte. Statt seinen eigenen Schild vom Rücken zu wuchten, nahm dieser seinen Bogen, legte einen Pfeil ein und spannte.

«Jetzt!», rief er. Wir öffneten einen Spalt zwischen den Schilden, Gauzbert stand auf, schoss, und wir schlossen die Lücke gerade noch rechtzeitig, bevor ein von der Mauer abgeschossener Pfeil sich in meinen Schild bohrte. Hinter uns war das Klackern von Einschlägen zu hören, auch Ratwins Schild bekam zwei Treffer ab, und im Schutzdach des Rammbocks steckten schon jetzt mindestens ein Dutzend Pfeile.

Ich blickte mich um. Bisher war noch keiner von uns getroffen worden. Durch das langsame Vorrücken der Schlachtreihe konnten wir uns so tief ducken, dass wir fast vollständig geschützt waren. Der Pfeilhagel hatte uns nicht aufgehalten, eher im Gegenteil: Die Wut der Männer war angestachelt worden und hatte weitere Kräfte freigesetzt.

Nachdem die erste Salve über uns niedergegangen war, gab es eine Pause. Ein Blitz zuckte hinter der Festung über den Himmel, kurz darauf krachte der Donner. Ratwin brüllte ein Kommando, und ein Schwarm von Pfeilen zischte über unsere Köpfe. Die meisten trafen die Mauer oder flogen darüber hinweg, nur wenige schlugen zwischen den Zinnen in die Schilde ein. Es war nicht auszumachen, ob überhaupt einer der Dänen getroffen worden war, die Pfeile bewirkten lediglich, dass sie in Deckung gehen mussten und nicht gleich die nächste Salve abschießen konnten.

Wir hatten inzwischen die Hälfte der Strecke zwischen dem Strand und der Böschung zurückgelegt. Das Gelände wurde flacher, sodass der Rammbock, hinter dem Arnulf sich nach wie vor demonstrativ fluchend abmühte, noch schneller vorankam. Sein Schimmel war von einem Pfeil in die Flanke getroffen worden und galoppierte wiehernd vor der Schlachtreihe entlang, während der nächste Blitz über den Himmel zuckte und die Spitzen der Pfeile, die in immer dichteren Salven von der Mauer herunterhagelten, kurz aufleuchten ließ wie Funken. Es war ein Bild des Irrsinns. Und das war erst der Anfang.

Die zweite Salve schoss heran. Wieder duckten sich alle hinter die Schilde, wieder klackte es dutzendfach, doch diesmal mischten sich auch Schreie unter den Donner, der über den Himmel heranrollte.

Und dann ertönte von weit hinten das tiefe und lange Tuten des Angriffssignals. Wahrscheinlich hatte Heinrich, der nicht mehr auf dem Strand zu sehen war, den Befehl dazu gegeben. Von diesem Augenblick an gab es kein Halten mehr.

«Das war zu früh, du Depp!», brüllte Arnulf. Doch es war, als wollte er einer Flutwelle Einhalt gebieten.

Auf das Signal hin erhob sich ein unbeschreibliches Gebrüll. Die langsam vorrückenden Formationen fielen in Laufschritt. Ohne die nächste Pfeilsalve abzuwarten, stürmte das ganze Heer los wie eine Büffelherde. Wir ließen den Rammbock hinter uns und stürmten auf die Mauer zu, auf der nun einzelne Gesichter zu erkennen waren. Unsere Leiterträger, die sich im Laufen mit den Schilden zu decken versuchten, kamen kaum hinterher, und so waren wir mit der ersten Reihe schon vor der Mauerböschung angekommen, als die Dänen, die ebenfalls zu brüllen begonnen hatten, von oben eine weitere Salve losschickten. Diesmal schossen sie nicht auf die voranstürmenden Angreifer, sondern zielten seitlich unter den Rammbock, um die Mannschaft zu dezimieren, die ihn vorwärtsschob. Auf unserer Seite wurden drei Männer getroffen, doch es reichte nicht, um den Koloss zum Stehen zu bringen. Stattdessen flogen nun Speere und Steine auf die Leiterträger; auch hier gingen einige zu Boden, aber sofort sprangen andere ein, nahmen die Leitern auf und stürmten weiter. Bald drängelte sich alles an der Mauerböschung. Während Gruppen von fünf oder sechs Männern die Leitern aufrichteten, gaben die anderen jeweils zu zweit den Bogenschützen mit ihren Schilden Deckung. Sie waren gut eingespielt: Immer wieder öffneten sich für einen Augenblick Spalte zwischen den Schilden, und die Pfeile zischten heraus, während die Dänen sich über die Brüstung beugen mussten, um überhaupt schießen zu können, womit sie zur leichten Beute wurden. Einige stürzten getroffen vom Wehrgang und krachten zwischen unseren Leuten zu Boden.

Bald standen die ersten Leitern in einer unregelmäßigen Reihe an die Mauer gelehnt. Im Gewühl entdeckte ich Ratwin, der mit der linken Hand seinen Schild wie ein Dach über seinen Kopf hielt, während er mit dem Schwert seine Männer dirigierte.

«Nicht zu steil anlegen!», brüllte er, doch schon erschienen Stangen und Lanzen über der Brüstung, mit denen die Verteidiger versuchten, die Leitern zum Umkippen zu bringen, was bei einigen auch gelang. Während die Männer die umgefallenen Leitern im Geschosshagel erneut aufrichteten, traf ein Speer Ratwins Schild mit voller Wucht, sodass er ihm fast aus der Hand gerissen wurde. Ratwin machte einen Satz zur Seite, und im selben Augenblick bohrte sich ein zweiter Speer an der Stelle in den Boden, an der er gerade noch gestanden hatte. Wieder zuckte ein Blitz auf. Der folgende Donner war so laut, dass er das Gebrüll übertönte.

Mein Herz raste wie wild. Ich blickte mich um. Hinter dem Gewimmel der anrennenden Männer sah ich am Ufer die Leibwächter des Kaisers. Sein roter Helmbusch ragte aus der Gruppe heraus. Mehr war nicht zu erkennen, zumal die Gewitterfront inzwischen fast über uns war und den Himmel zu beinahe zwei Dritteln verdüsterte. Die ganze Szenerie war in ein bleiernes Licht getaucht. Links und rechts flogen Brandpfeile in Richtung der Türme und zogen Spuren aus Funken in der Luft hinter sich her. Inzwischen lehnten allein an unserer Seite um die vierzig Leitern über die gesamte Flanke der Festung an der Mauer.

Der Rammbock hatte das Tor erreicht. Unter dem Schutz ihrer Schilde sprangen Männer hervor und schoben Keile unter die Räder, dann begannen sie, den Stamm in eine Pendelbewegung zu versetzen, während die Ersten, Schwerter und Äxte in den Händen und Schilde auf dem Rücken, Sprosse um Sprosse zur Mauerkrone hinaufstiegen. Immer noch versuchten die Dänen, die Leitern umzustürzen, doch das Gewicht der Kletternden erschwerte das Vorhaben, und immer wieder beugten sich einige so weit heraus, dass sie von unseren Pfeilen getroffen wurden.

Und dann begann es, von einem Augenblick auf den anderen auch noch zu hageln. Erbsengroße Körner prasselten auf die Schilde, auf das Schutzdach des Rammbocks und auf den Boden und hüpften dort in einem flimmernden Gewimmel und Gesprenkel umher. Mit einem schnellen Blick nach rechts und links versuchte ich ein letztes Mal, Gerold in der vorstürmenden Menge zu entdecken, doch es war aussichtslos: Der Hagel nahm mir die Sicht, und in der wogenden Masse waren ohnehin keine Gesichter zu erkennen.

Ein paar Schritte von uns entfernt wurde ein Bogenschütze von einem Speer getroffen, weil der Spalt zwischen den Schilden nicht schnell genug geschlossen worden war. Von oben erklangen jetzt Kampfgeschrei und das Klirren von Schwertern.

Ich stieß Gauzbert mit dem Ellbogen an und wies mit dem Schwert auf die beiden Schildträger neben dem Bogenschützen, der sich schreiend auf dem Boden wälzte. «Da rüber!», schrie ich und dann, zu Lupus gewandt und mit dem Schwert auf die Leiter zeigend: «Da rauf!»

Gauzbert rannte geduckt los, den Bogen in der einen Hand, den nächsten Pfeil in der anderen. Zum Glück begriffen die beiden Schildträger sofort, was er vorhatte, nahmen ihn in die Mitte und schlossen das Schilddach. Es rumste, als der Rammbock zum ersten Mal gegen das Tor schwang.

Lupus stürmte zu der Leiter, die uns am nächsten stand. Nacheinander kletterten wir hinauf, während Ratwin die Leiter neben uns erklomm. Über uns waren noch zwei weitere Männer, sodass die Holme sich unter unserem Gewicht durchbogen. Der Hagel wurde von den Böen hin und her gepeitscht und traf mich von allen Seiten. Die Körner schienen immer größer zu werden.

Wieder knallte der Rammbock gegen das Tor. Das trockene Krachen klang nicht danach, als ob das Holz bald nachgeben würde. Wahrscheinlich hatten sie es von innen mit Metallbeschlägen verstärkt und Steine aufgehäuft, aber ich zweifelte, dass es dem schweren Baumstamm lange widerstehen würde. Dennoch hatte Arnulf recht gehabt: Der Sturm auf die Mauern war zu früh erfolgt.

Auf den Leitern ging es nicht voran. Der Hagel verschaffte den Dänen einen Vorteil, denn wir mussten die Augen zukneifen, und die Körner waren noch dicker geworden. Einige hatten die Größe von Hühnereiern und gingen wie Wurfgeschosse zwischen uns nieder. Es krachte und schepperte, wenn sie auf Helme und Schilde trafen.

Die Männer, die ganz oben auf den Leitern standen, trauten sich kaum an die Mauerkrone heran. Die Bogenschützen der Dänen waren zurückgetreten, damit die sperrigen Bögen die anderen Kämpfer nicht behinderten. Ich blickte in ein Gewoge aus verbissenen Gesichtern, die zwischen den Zinnen und hinter den Schilden auftauchten und wieder verschwanden. Die Klingen von Schwertern und Lanzen hieben auf die Anstürmenden herab wie die Schnäbel von Dutzenden wütender Raubvögel. Der Kampf war ein einziges Inferno aus dem Gebrüll der Männer, dem Rauschen und Trommeln des Hagels und den scharfen Klängen von Klingen, die gegeneinander und auf die Schilde droschen. Der oberste Mann auf unserer Leiter machte ein paar halbherzige Versuche, in die Nähe der Verteidiger zu kommen und einen Treffer mit dem Schwert zu landen, aber er wich immer wieder zurück, sobald sie ihrerseits nach ihm schlugen. Rechts und links sah ich mehrere Körper nach unten fallen. Immerhin brauchten unsere Bogenschützen jetzt keine Deckung mehr. Sie schossen ihre Pfeile nicht mehr auf Kommando in Salven ab, sondern unablässig, und ab und zu trafen sie tatsächlich; allerdings wurden die Lücken immer wieder geschlossen. Ein schneller Blick zu den Seiten zeigte mir, dass noch keiner von unseren Leuten es geschafft hatte, in den Wehrgang einzubrechen.

Minutenlang ging es so weiter. Hagel, Blitze und Donner von oben, Pfeile und anfeuerndes Gebrüll von unten, dazwischen immer wieder das Krachen des Rammbocks, das nun immerhin von Knirschen und Splittern begleitet wurde. Wenn das Tor endlich aufgebrochen war, würden die Männer der zweiten Welle, die an der Böschung hinter ihren Schilden warteten, voranstürmen, sich in den Hof der Festung ergießen und dort genug Verwirrung stiften, dass die Verteidiger auf der Mauer abgelenkt wären. Ich hoffte nur, dass uns bis dahin der Schwung nicht verloren gehen würde, und kletterte verbissen ein paar Sprossen höher.

Ein weiterer Blitz erhellte den schwarzen Himmel. Der Donner fiel mit dem erneuten Krachen des Rammbocks zusammen. Anfeuerungsrufe schallten von unten herauf. Es konnte nicht mehr lange dauern.

Die Leiter bebte. Ein Hagelkorn traf mich am Jochbein wie ein Keulenschlag. Kurz wurde mir schwarz vor Augen, und ich wäre fast von der Leiter gefallen, doch eine Welle aus Wut kochte in mir hoch und gab mir neue Kräfte. Ich klammerte mich an den Holmen der Leiter fest, und wenn ich in diesem Augenblick schon auf dem Wehrgang gestanden hätte, dann hätte ich wahrscheinlich wie ein Berserker unter den Dänen gewütet. Stattdessen wurde der oberste unserer Männer jetzt von einer Lanze erwischt, deren Klinge ihm die Wange aufschlitzte. Im Fallen hätte er fast seinen Nachfolger mitgerissen, doch der hielt sich zum Glück gut genug fest. Der Körper prallte von seiner Schulter ab und stürzte auf die Böschung. Sofort rückten wir auf. In der Lücke zwischen den Zinnen mühten sich drei Dänen ab, den Nächsten von der Leiter zu reißen, doch einer von ihnen wurde von einem Pfeil getroffen und kippte nach hinten weg; der Mann auf der Leiter stieß nach, erwischte einen der beiden anderen am Hals, aus dem sofort eine Blutfontäne hervorschoss. Mit einem gurgelnden Aufschrei brach der Däne zusammen und hing wie eine Puppe zwischen den Zinnen auf der obersten Sprosse unserer Leiter. Wieder krachte der Rammbock gegen die Torflügel.

Der dritte Däne, ein dicker rothaariger Kerl mit eingeflochtenem Bart, machte jetzt einen Fehler. Anstatt den Toten als Hindernis auf der Mauer liegen zu lassen oder ihn wenigstens über die Brüstung zu wuchten, damit er uns von der Leiter riss, packte er ihn bei den Schultern und zog ihn zu sich nach hinten. Wieselflink kletterte der Mann vor Lupus daraufhin die letzten Sprossen hoch, stieg durch die Lücke und wandte sich dem Dicken zu. Mit ein paar Schwerthieben drängte er ihn nach links hinter die Zinne, sodass er nicht mehr zu sehen war, aber offenbar hatte der Däne es geschafft, sich eine Axt zu greifen. Ich sah die Klinge über der Zinne kreisen. Währenddessen sprang Lupus in die Lücke, bevor einer der Verteidiger sie von der anderen Seite schließen konnte. Sofort wandte er sich nach rechts und verschwand ebenfalls hinter einer Zinne. Ich setzte ihm nach. Am Wackeln der Leiter spürte ich, dass weitere Männer von unten nachdrängten, und mit einem schnellen Blick zu beiden Seiten sah ich, dass auch Ratwin inzwischen an die oberste Stelle der Leiter links von mir vorgerückt war und seine Gegner, von denen ich nur die Schwertklingen sah, mit schnellen Vorstößen in Bedrängnis brachte. Einen Augenblick später war ich oben, sprang in einem Satz über die Brüstung und fand mich mitten im Getümmel auf dem hölzernen Wehrgang wieder, der so schmal war, dass keine zwei Männer nebeneinander kämpfen konnten.

Der Rammbock krachte ein weiteres Mal gegen das Tor, diesmal gefolgt von einem gewaltigen Bersten und Poltern.

Der Mann links von mir hatte sich den Schild vom Rücken gerissen und wehrte die Axthiebe des Dicken ab, und auch Lupus hatte einen Gegner gefunden. Sie schlugen wie die Besessenen aufeinander ein, sodass ich Zeit für einen schnellen Blick in die Runde fand. Überall versuchten unsere Leute, die Verteidiger hinter die Zinnen zu drängen und auf den Wehrgang zu kommen. Der Hof lag voll mit lodernden Brandpfeilen, die die Türme verfehlt hatten; überall schlugen Hagelkörner ein und prasselten auf die Schilde der Bogenschützen, die dort kniend lauerten. Noch schossen sie nicht, aus Angst, ihre eigenen Leute zu treffen, aber sobald wir einzelne Abschnitte der Mauer freigekämpft und uns in größeren Gruppen dort festgesetzt hatten, würden ihre Pfeile uns hinter die Deckung unserer Schilde zwingen, weil der Wehrgang nach innen völlig ungedeckt war. Es kam jetzt darauf an, dass das Tor so schnell wie möglich aufgebrochen wurde, damit die Hereinstürmenden die dänischen Bogenschützen niedermachen konnten.

Ein Krachen links von mir lenkte mich ab. Der Dicke war zum Gegenangriff übergegangen und hatte seine Axt mit solcher Wucht von rechts gegen den Schild seines Gegners geschlagen, dass der von der Mauer geschleudert wurde. Doch bevor der Däne sich mir zuwenden konnte, traf ihn Ratwins Schwert von hinten und schickte ihn hinterher. Hinter meinem Rücken war Lupus noch immer mit seinem eigenen Gegner beschäftigt. Ratwin grinste mich an, dann wandte er sich wieder der linken Seite zu. Hinter ihm war bereits ein zweiter Mann auf den Wehrgang geklettert und versuchte, den nächsten Dänen zurückzudrängen, um Platz für einen weiteren unserer Männer zu schaffen, dessen Helm schon zwischen den Holmen der Leiter zu sehen war, doch er schaffte es nicht, sondern musste selbst zurückweichen, und es gelang dem Dänen, der die Gefahr erkannt hatte, den Nachrückenden mit einem blitzschnellen seitlichen Schwerthieb von der Leiter zu stoßen. Auf der rechten Seite sah es auch nicht gut aus: Lupus hatte seinen Gegner zwar ein Stück zurückgedrängt, aber in seinem Rücken war es den Dänen gelungen, zwei Leitern mitsamt den Männern, die sich daran festklammerten, mit ihren Lanzen umzustoßen, sodass von dort vorerst keine Gefahr mehr drohte und sie sich mit den Angreifern weiter hinten beschäftigen konnten. Bis zum Eckturm waren es von dort etwa achtzig Schritte, und an keiner Stelle sah ich auch nur einen von unseren Leuten.

Ein wütender Schrei von Ratwin ließ mich herumwirbeln. Und dann sah ich, warum er so entsetzt war: Direkt hinter dem Tor hatten die Dänen über die ganze Breite der Durchfahrt eine mit Brettern ausgekleidete Grube ausgehoben, in der bräunliches Sickerwasser stand. Sie war so tief, dass ein groß gewachsener Mann aus eigener Kraft kaum hätte herausklettern können, und zu allem Überfluss war sie auch noch von einem kleinen rechteckigen Wall umgeben, den die Dänen aus dem ausgehobenen Erdreich aufgeschüttet und mit einer provisorischen Palisade bewehrt hatten. Kein Wunder, dass sie keinen einzigen Ausfall gemacht hatten: Das Tor war eine Falle.

Und genau in diesem Augenblick sprengte der Rammbock es auf. Die letzten Balken und Riegel brachen knirschend und krachend, dann stürzte der rechte Torflügel in die Grube, während der linke schief in den Scharnieren baumelte. Ich hörte den Jubel unserer Männer von außen hereinbranden, und dann geschah das, was zu befürchten gewesen war: Vor lauter Begeisterung über den Durchbruch stürmten sie voran, und das erste halbe Dutzend fiel, von den Nachdrängenden geschoben, übereinander in die Grube, bevor sie weiter hinten überhaupt begriffen, was passiert war.

Die Dänen stießen ein triumphierendes Gebrüll aus. Ich konnte nicht sehen, was beim Rammbock vor dem Tor geschah, dafür hätte ich mich weit über die Mauer beugen müssen, aber die entgeisterten Schreie unserer Männer sagten alles. Die Verwirrung pflanzte sich durch die vor der Mauer auf ihren Einsatz wartenden Leute fort, das entsetzte Geschrei übertönte das Prasseln des Hagels und den Kampflärm auf der Mauer, bevor ein weiterer Blitz vom Himmel fuhr. Für den Bruchteil einer Sekunde stand das gleißend blauviolette Geäder vor der Wolkenwand, dann krachte der Donner nieder und übertönte alles.

Von den Kämpfenden auf der Mauer hatte kaum jemand mitbekommen, was gerade geschehen war. Lupus war immer noch mit seinem Gegner beschäftigt, weiter hinten hatten zwei unserer Leute den Wehrgang erreicht, wurden aber von den Dänen mit Axthieben in den Innenhof befördert. Der Mann, der vor Ratwin kämpfte, wurde ebenfalls getroffen und stürzte in die Tiefe, sodass Ratwin sich nun selbst seiner Haut erwehren musste. Sein Gegner schwang eine große Axt, war damit aber auf dem engen Gang im Nachteil, weil er weit ausholen musste, wobei ihm die Zinnen im Weg waren. Ratwin wich elegant aus, machte dabei aber keinen Schritt rückwärts. Der Hagel prasselte weiter auf uns ein.

Unten in der Grube rappelten sich die Männer auf und versuchten, an der Wand hochzuklettern, um wieder durch das Tor zu gelangen, bevor die Dänen im Hof sie mit Speeren von der Palisade aus aufspießten wie Fische in einem Teich.

Ein weiterer Blick in die Runde zeigte mir, dass wir immer noch kaum Fortschritte gemacht hatten, nur an einer Stelle der nördlichen Schmalseite war hinter dem Schleier aus unzähligen Hagelkörnern ein kleiner Pulk aus einem halben Dutzend Männern zu erkennen, der versuchte, den Weg für die Nachrückenden freizukämpfen, aber die Dänen, die zwei riesige Schwertkämpfer nach vorn gestellt hatten, drängten sie so weit zusammen, dass ihnen jede Bewegungsfreiheit genommen war. An allen anderen Abschnitten der Mauer spielte sich der Kampf immer noch zwischen den Verteidigern auf dem Wehrgang und den Angreifern auf den Leitern ab. Es war unmöglich zu sagen, wie hoch unsere Verluste bereits waren, denn die meisten der Angreifer, die es nicht geschafft hatten, lagen wahrscheinlich um die ganze Festung herum verstreut an der Böschung. Ein schneller Blick nach unten zeigte mir, dass immer noch Hunderte von unseren Leuten darauf warteten, dass sie an der Reihe waren, nach oben zu klettern, während bei den Dänen auf der Mauer alle Männer schon im Einsatz waren. Früher oder später mussten wir sie mit unserer Masse erdrücken, wenn wir nur nicht nachließen.

Lupus hatte seinen Gegner inzwischen durch einen Stich in den Bauch erledigt und mit einem Tritt in den Hof befördert. Sogleich nahm er sich den Nächsten vor. Die Leiter, über die wir gekommen waren, war nicht mehr zu sehen, wahrscheinlich war sie umgestürzt. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie einer der Bogenschützen im Hof zielte und schoss, instinktiv riss ich den Schild hoch, und der Pfeil bohrte sich mit solcher Wucht ins Holz, dass die Spitze auf der Innenseite erschien. In diesem Augenblick wurde Ratwin vor mir von der Axt des Dänen, der überraschend von links nach rechts geschlagen hatte, an der Hüfte getroffen, bevor er seinen Schild herumreißen konnte. Ratwin schrie auf. Das Kettenhemd verhinderte, dass die Klinge in seine Seite fuhr, aber die Wucht ließ ihn taumeln; der Däne sprang sofort vor und nutzte Ratwins Benommenheit, um ihn zwischen zwei Zinnen hindurch mit seinem Schild von der Mauer zu stoßen. Geistesgegenwärtig griff Ratwin nach den Holmen einer Leiter und klammerte sich fest, aber der Schwung riss ihn um, und er kippte mitsamt der Leiter zur Seite. Sofort stürzte ich mich auf den Dänen, holte aus und drosch mein Schwert gegen seinen Schild, er parierte, drängte vor und schlug von oben mit der Axt zu. Ich konnte den Schlag abwehren, aber mein Schild brach dabei in zwei Hälften. Ich warf die Trümmer weg und ging in Stellung. Mein Gegner trug ebenfalls ein Kettenhemd und einen Brillenhelm, unter dem blonde Haare hervorschauten. Er grinste und schlug wieder zu, ich wich aus, die Axt grub sich in den hölzernen Boden des Wehrgangs, und es gelang mir, den Stiel der Waffe zu packen, sie ihm zu entreißen und ihm das Schwert in den Oberschenkel zu stoßen, woraufhin er das Gleichgewicht verlor und nur wenige Schritte von der Palisade entfernt in den Hof stürzte. Hinter ihm drängten vier weitere Dänen heran, die keine Gegner hatten und auch keine vor die Klinge bekommen würden, weil wir am Tor keine Leitern angelegt hatten. Ich begriff, dass es gefährlich werden würde, denn wenn ich nur einen dieser Zweikämpfe verlor, würde es um mich geschehen sein. Ein Blick über die Schulter zeigte, dass Lupus ebenfalls zurückgedrängt wurde, sodass wir fast Rücken an Rücken standen und kein Raum für weiteres Zurückweichen blieb.

Mein nächster Gegner war zur Abwechslung jung, schmächtig und unerfahren, und er rannte direkt in mein Schwert. Mit einem kräftigen Tritt stieß ich ihn gegen seinen Nachfolger, einen bulligen Dänen mit braun gebrannter Glatze ohne Helm und ohne Kettenhemd, der das Gleichgewicht verlor und rückwärts auf den Hintern fiel, was mir eine kurze Atempause verschaffte.

Ich warf einen Blick über die Mauer. Der Hagel hatte etwas nachgelassen. Als ich sah, was auf der anderen Seite des Flussbettes vorging, wusste ich, dass dieser Tag, der uns den Triumph hatte bescheren sollen, in einer Katastrophe enden würde.

Die Dänen griffen unser Lager an. Von Osten her stürmten mindestens zweihundert von ihnen über das Feld auf den Wall zu, und im gleichen Augenblick ertönte unser Hornsignal zum Abbruch des Angriffs. Während sich unten vor der Mauer Verwirrung breitmachte, griff der Glatzkopf, der über den Toten vor ihm hinweggestiegen war, mich an. Zum Glück war er langsam und schwerfällig. Ich wich immer wieder aus und stach mit schnellen Ausfallschritten zu, sodass er zurückweichen musste.

«Das Lager wird angegriffen!», schrie jemand von der Leiter aus. Von unten war offenbar schlecht zu sehen, was sich auf der abgewandten Seite des Lagers abspielte, sodass sie dort erst jetzt begriffen, warum das Signal gegeben worden war. Doch der Ruf pflanzte sich rasend schnell von einer Abteilung zur anderen fort, und während ich weitere Axthiebe des Glatzkopfs parierte, sah ich aus den Augenwinkeln, dass unsere Leute zurückzufluten begannen. In Schwärmen rannten sie zum Fluss, um das Lager zu verteidigen. Unsere Reiter, die eigentlich einen Ausfall aus der Festung hatten verhindern sollen, wendeten ihre Pferde und sprengten ebenfalls dorthin.

Jetzt, wo niemand mehr nachrückte, standen wir auf verlorenem Posten. Direkt neben mir ragten die Holme einer Leiter über die Brüstung der Mauer. Sie war unsere einzige Chance zu entkommen. Mit einem Wutschrei sprang ich vor und stieß dem Glatzkopf das Schwert in die Brust, er stöhnte überrascht auf, taumelte zurück und blieb auf der Leiche liegen, die er eben noch überstiegen hatte, um mich anzugreifen.

Ich nutzte den Augenblick, wandte mich um, hob blitzschnell eine am Boden liegende Lanze auf und stach damit dicht an der Schulter von Lupus vorbei dessen Gegner nieder. Hinter ihm kamen weitere Dänen herangestürmt, aber der Verletzte hielt sich an einer Zinne fest und wollte nicht zu Boden gehen, sodass er den Nachdrängenden im Weg war.

«Runter hier!», schrie ich, schwang mich über die Brüstung und landete auf einer der Sprossen, die nachgab, sodass ich ein Stück nach unten fiel und erst auf der nächsten Sprosse wieder Halt fand. Dann begann ich hinabzusteigen. Lupus hatte sofort begriffen. Mit einem Satz war er bei der Leiter, schwang sich über mir hinaus und begann ebenfalls, nach unten zu klettern. Die Gesichter der Dänen erschienen zwischen den Zinnen, einer schrie etwas, und als wir die Leiter etwa zur Hälfte hinuntergestiegen waren, tauchte der Schaft einer Lanze auf und begann, die Leiter von der Mauer wegzuschieben. Wir verloren das Gleichgewicht und kippten um, allerdings so langsam, dass wir uns auf dem mit Hagelkörnern übersäten Boden abrollen konnten, ohne uns die Knochen zu brechen.

Der Hagel hatte aufgehört, und das Gewitter war ein Stück weitergezogen. Von Westen her hellte der Himmel sich auf. Ein Blitz leuchtete im Nordosten, der Donner folgte mit einiger Verspätung.

Der Rammbock stand verlassen und mit Pfeilen übersät vor dem aufgebrochenen Tor. Vor der Mauer lagen mindestens fünfzig Tote verstreut, die meisten Leitern waren umgekippt, einige lehnten noch verlassen an der Mauer.

Kaum hatte ich mich aufgerappelt, da entdeckte ich Ratwin. Nur ein paar Schritte von uns entfernt lag er auf dem Rücken; ich dachte zuerst, er sei auch tot, doch als hätte er meinen Blick gespürt, öffnete er die Augen halb und richtete sich stöhnend auf. Sein rechtes Bein war gebrochen, die Hose unter dem Knie war blutdurchtränkt und zerrissen, und ein bleicher Knochen ragte aus dem Brei aus Haut und Muskeln heraus. Angesichts der Höhe der Mauer war es fast ein Wunder, dass er noch lebte.

Lupus und ich tauschten einen Blick. Mit einem Satz waren wir bei Ratwin. Er hatte sich wieder zurücksinken lassen, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Vielleicht hatte der Axthieb ihm auch noch die Hüfte zertrümmert. Es war fraglich, ob er die nächsten Tage überleben würde, und selbst wenn: Auf eine Leiter würde er wohl nie wieder steigen können.

«Das war heute nichts. Morgen probieren wir’s noch mal», sagte er und lächelte. So war Ratwin.

Lupus und ich wechselten wieder einen Blick, dann fassten wir Ratwin unter den Achseln, wuchteten ihn hoch und liefen los, weg von der Mauer. Ratwin stöhnte noch einmal vor Schmerzen, dann erschlaffte er, und wir schleiften ihn weiter. Die Dänen schickten uns einen Wurfspeer als letzten Gruß hinterher, aber er schlug fünf Schritte neben uns ein und blieb im Boden stecken. Als ich zurückblickte, sah ich, wie sie sich zwischen den Zinnen drängelten und in Richtung unseres Lagers starrten, von wo Geschrei und Kampfgeräusche herüberschallten.

Wir waren unter den Letzten, die die Insel verließen, rechts und links humpelten noch ein paar Leichtverletzte mit niedergeschlagenen Gesichtern. Völlig außer Atem legten wir Ratwin auf der zertrampelten Wiese am Ufer ab, wo immer noch Steine herumlagen, die für den Dammbau herangeschafft, aber nicht mehr verwendet worden waren.

Ich war unschlüssig, was ich tun sollte. Einerseits wollte ich Ratwin nicht allein lassen, andererseits war der Gedanke schwer zu ertragen, mich nicht an dem Kampf zu beteiligen, der auf der anderen Seite des Lagers immer noch tobte.

«Nun geht schon», sagte Ratwin matt. «Ich liege hier ganz bequem.»

Lupus nickte mir zu. Ich drückte Ratwin die Hand, und dann rannten wir los. In der Ferne grollte noch der Donner. Auch vor dem Lager war der Boden von Hagelkörnern übersät, die schon zu schmelzen begonnen hatten. Nachdem wir um die erste Ecke gebogen waren, wurde der Kampflärm lauter, doch es klang nicht nach einer großen Schlacht, sondern eher nach vereinzelten Gefechten. Von den Türmen der abgewandten Seite des Lagers flogen Pfeile herunter. Wir hetzten weiter bis zur nächsten Ecke. Noch bevor wir sie erreicht hatten, sahen wir, dass der Kampf, der keine fünf Minuten gedauert hatte, fast vorbei war. Überall lagen Tote und Verwundete verstreut. Einige Dänen verteidigten sich noch in zusammengedrängten Gruppen gegen die Übermacht unserer Leute, die meisten aber flohen kopflos über das Feld auf den Waldrand zu, aus dem sie wahrscheinlich gekommen waren. Unsere Reiter sprengten hinterher und machten einen nach dem anderen nieder. Es gab keinen Grund, dass wir uns an dem Gemetzel noch beteiligten. Erschöpft ließen wir uns auf den Boden fallen und sahen zu, wie die letzten Angreifer umzingelt und unter wütendem Gebrüll abgeschlachtet wurden.

Das Tor an der Ostseite des Lagers war geschlossen, und die Palisade war unversehrt. Es war den Dänen nicht gelungen, in das Lager einzubrechen, aber das war auch gar nicht ihr Ziel gewesen. Wie wir später erfuhren, gehörten sie zu den Schiffsmannschaften, die an der Maasmündung lagerten. Sie hatten sich in den vorherigen Nächten in kleinen Gruppen zu Fuß durch die Wälder geschlichen und tagsüber im Unterholz verborgen gehalten, um durch den Überraschungsangriff auf unser Lager Verwirrung zu stiften und uns im entscheidenden Augenblick von der Insel wegzulocken. Wieder einmal hatten wir die Dänen unterschätzt.

Niedergeschlagen trotteten Lupus und ich zum Ufer zurück. Auf der Insel lag Asselt im Licht der durch die Wolken brechenden Nachmittagssonne da, und ohne die vielen Toten vor den Mauern wäre es ein friedliches Bild gewesen. Das zerborstene Tor stand offen, wie um uns zu verhöhnen.

Ratwin war nicht mehr da.