17

D er Anblick der Stelle, an der Ratwin eben noch gelegen hatte, schnürte mir die Kehle zu. War er tot? Schließlich konnte man nicht wissen, ob er außer seinem Bruch noch weitere Verletzungen davongetragen hatte, die man von außen nicht sah.

Getrieben von der Sorge um meinen Freund eilte ich so schnell zum Lager zurück, dass Lupus kaum hinterherkam. Am Tor herrschte ein heilloses Geschiebe: Die einen drängten hinein, um die auf dem Kampfplatz aufgesammelten Waffen und Helme in ihre Zelte zu schleppen; die anderen strebten heraus, um sich auch noch einen Anteil an der Beute zu sichern. Mitten im Gewühl traf ich mit einem von Ratwins Reitern zusammen, der sein lahmendes Pferd am Zügel führte. Sein Gesicht war mit Blut und Dreck verschmiert, und ich erkannte ihn nur daran, dass er fürchterlich schielte. Er wusste sofort, wer ich war, und er deutete meinen suchenden Blick richtig.

«Ratwin ist in seinem Zelt», sagte er. «Ich war gerade bei ihm, aber der Wundarzt hat mich rausgeschmissen. Er soll erst mal schlafen.»

Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Der Reiter schob sich mit einem Nicken an mir vorbei und zog das Pferd hinter sich her aus dem Gedränge.

«Was ist mit Gauzbert?», fragte Lupus, der inzwischen zu mir aufgeschlossen hatte.

Verdammt. In meiner panischen Sorge um Ratwin hatte ich meinen Freund Gauzbert ganz vergessen. Zum letzten Mal hatte ich ihn auf dem Schlachtfeld gesehen, bevor ich die Leiter hochgestiegen war. Hatte er es geschafft, unbeschadet von dort wegzukommen?

«Komm mit», sagte ich zu Lupus. «Wir suchen ihn.»

Kaum hatten wir uns durch das Gewühl am Lagereingang gekämpft, da stand Gauzbert auch schon vor uns. Zum zweiten Mal innerhalb von einer Minute fiel mir ein Stein vom Herzen.

«Mein Gott, du siehst ja schrecklich aus!», rief Gauzbert und zeigte auf mich. Unwillkürlich tastete ich nach meinem Gesicht. Tatsächlich war die ganze rechte Seite eine einzige riesige Beule. Vor lauter Aufregung war mir kaum aufgefallen, dass mein Auge zu einem schmalen Sehschlitz zugeschwollen war.

Die folgenden Stunden verbrachten wir vor meinem Zelt, stillten Durst und Hunger und erzählten uns gegenseitig, wie wir den Sturm erlebt hatten. Gauzbert hatte einen Pfeil nach dem anderen auf die Mauer geschossen, bis der Angriff abgeblasen worden war; dann war er mit den anderen zurückgelaufen. Vor dem Lagerwall hatte er mit seinen letzten beiden Pfeilen noch zwei fliehende Dänen niedergestreckt, dann hatte er sich augenblicklich auf die Suche nach Lupus und mir gemacht.

Trotz des Fehlschlags waren wir in ausgelassener Stimmung. Die Erleichterung darüber, dass wir den Kampf unbeschadet überstanden hatten, ließ uns den Ärger vergessen.

Erst als das Gespräch darauf kam, wie es nun weitergehen sollte, wurden wir wieder ernst. Bald drehte sich alles nur noch darum, wie man trotz der umwehrten Grube durch das Tor gelangen könnte. Gauzbert schlug vor, Bohlen über die Vertiefung zu legen.

«Wie soll das denn gehen?», fragte Lupus. «Die schießen uns von der Palisade aus ab wie die Hasen.»

«Hast du einen besseren Vorschlag?»

«Wir schieben den Rammbock ganz rein und benutzen ihn als Brücke.»

«Bringt überhaupt nichts. Der bleibt an der Kante hängen und versperrt das Tor.»

Stundenlang ging es so hin und her. Schließlich verabschiedete ich mich und machte mich auf den Weg, um endlich nach Ratwin zu sehen.

Im Westen strahlte die Sonne zwischen vereinzelten Wolken aus dem Blau herab, als hätte es nie ein Unwetter gegeben. Angesichts des chaotischen Durcheinanders, in dem unser Angriff nur wenige Stunden zuvor versunken war, erschien es mir, als lachte der Himmel uns aus.

Die Stimmung im Lager war eine Mischung aus Niedergeschlagenheit, Wut und Entschlossenheit und entsprach genau meiner eigenen Gemütslage. Auch ich war maßlos enttäuscht über den Misserfolg, doch beim Gedanken an den Staudamm mischte sich auch ein Gefühl von Stolz unter meine Unzufriedenheit. Mein Werk hatte den Kampf unbeschadet überstanden, und es würde uns auch beim nächsten Angriff unschätzbare Dienste leisten. Sollten Arnulf und Heinrich sich ruhig darüber streiten, wer die Verantwortung für die Schlappe zu tragen hatte. Ohne meinen Staudamm würden wir gar nicht erst bis zur Mauer kommen.

An den Feuern wurde wild debattiert, wie es nun weitergehen sollte. Ans Aufgeben dachte niemand, jedenfalls traute sich niemand, diese Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen. Die Vorsichtigeren sprachen sich für das Aushungern aus, aber die meisten der Männer wären am liebsten gleich zum nächsten Angriff angetreten, immerhin waren wir nach wie vor in der Überzahl. Natürlich war das völlig unmöglich. Zuerst mussten wir sicherstellen, dass sich keine weiteren Dänen in der Umgebung herumtrieben, die uns in den Rücken fallen konnten. Dann mussten neue Leitern gezimmert werden. Und schließlich brauchten wir einen Plan, der der neuen Situation gerecht wurde.

«Was braucht’s für einen Plan?», fragte einer der Bayern, der gerade eine Schweinshaxe zerteilte. «Rauf auf die Leitern und rein in den Stadel! Wie beim Fensterln!» Es war, als spräche Arnulf aus ihm; er hatte sogar den gleichen ausladenden Kinnbart unter seinem breiten Schädel.

«Beim was?», fragte ein missmutiger Friese, der zusammen mit dem Bayern und acht weiteren Männern am Feuer saß.

Der Bayer lachte laut. «Rauf und rein! So halten wir’s jedenfalls bei den Weibern. Ich weiß ja nicht, wie ihr’s da oben macht. Aushungern, oder was?»

Schallendes Gelächter aus neun Kehlen war die Antwort.

Direkt neben der Gruppe befand sich ein großes Zelt, in dem Verwundete versorgt wurden. Durch die zurückgeschlagene Plane sah ich drei Reihen von Strohsäcken mit Männern. Schmutzige Lappen, bleiche Gesichter, vereinzeltes Stöhnen. Insgesamt schienen unsere Verluste eher gering zu sein. Die meisten unserer Leute waren noch gar nicht bis auf die Mauer vorgedrungen, als der Sturm abgeblasen wurde. Ohne das Ablenkungsmanöver der Dänen hätten wir weitere Angriffswellen über die Leitern schicken können, um den Wehrgang freizukämpfen und den Hof zu stürmen. Früher oder später hätten wir sie auf diese Weise wahrscheinlich mit unserer Masse erdrückt.

Dass die Idee mit dieser Grube ein genialer Schachzug der Dänen gewesen war, ließ sich nicht leugnen. Niemand war auf den Gedanken gekommen, dass hinter dem Tor eine solche Überraschung auf uns warten würde. Ich kannte einige Traktate über das Kriegswesen, doch nirgendwo war von so etwas die Rede, und selbst wenn – mir wäre im Traum nicht eingefallen, dass ausgerechnet diese Barbaren, deren einzige Taktik das wilde Vorwärtsstürmen zu sein schien, auf einen so einfachen und wirksamen Trick kommen könnten. Wie gesagt, wir hatten sie wieder einmal unterschätzt, so wie wir seit Jahrzehnten ihre Schnelligkeit, ihre Tollkühnheit, ihre Hartnäckigkeit, die Findigkeit ihrer Kundschafter und deren Kenntnisse über unsere Länder und Städte, ihre Fähigkeit, die Schiffe durch seichte Gewässer zu manövrieren, und die Durchtriebenheit ihrer Verhandlungsführer unterschätzten. Sie schafften es immer wieder, uns zu überraschen. Genau darum waren sie immer noch da. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr wuchs mein Respekt. Sie waren unsere Gegner, aber sie waren würdige Gegner.

Auch die Männer im Lager dachten offenbar so. Immer wieder schnappte ich auf, wie sich ihr Zorn weniger gegen die Dänen, sondern vor allem gegen unsere eigenen Wachen entlud, die durch ihre Nachlässigkeit schon zwei Wochen zuvor den Überraschungsangriff auf Roermond ermöglicht hatten. Wie konnte es eigentlich sein, so fragten sie sich an den Feuern, dass zweihundert Gegner unbemerkt und unbehelligt durch das Land gesickert waren, um sich im entscheidenden Augenblick zusammenzuschließen und vor unserer Nase aus dem Wald zu stürmen? Wahrscheinlich hatten die Wachen die ganze Zeit nur auf den Fluss gestarrt und Ausschau nach den Schiffen gehalten, während die Dänen in kleinen Gruppen hinter ihrem Rücken vorbeigehuscht waren. Kontrollierte dort oben eigentlich niemand die Straßen?

Wie zu hören war, hatte Arnulf sich im Rat unmittelbar nach dem gescheiterten Angriff zu einem Tobsuchtsanfall hinreißen lassen, Kerzenleuchter umgetreten, geschworen, jeden einzelnen Wächter zwischen Roermond und der Maasmündung persönlich in Stücke zu hacken und die Teile am Flussufer aufzuhängen, zur Mahnung an alle Blindschleichen und Rindviecher, die jemals wieder mit Wachdiensten betraut werden würden.

Ratwins Zelt lag am anderen Ende des Lagers. Als ich endlich angekommen war, kehrte die Sorge zurück. Doch dann hörte ich von drinnen seine Stimme.

«Wie viele von uns hat’s denn erwischt?», fragte er.

«Sechs», sagte eine andere Stimme. Es war Erik, der Dolmetscher, der sich seit seiner Ankunft im Lager meistens in Ratwins Nähe aufhielt. Er war ein Hasenfuß, und Ratwin hatte ihn nicht in die Truppe eingereiht, die er beim Sturm auf Asselt kommandiert hatte. Stattdessen setzte er ihn als Schreiber und Boten ein.

«Alfhelm, Bruno, Cuspert, Dagobert, Erpo und Filimar», zählte Erik auf. Ich war beeindruckt, dass er sich offenbar nicht nur alle Namen der hundertzwanzig Männer von Ratwin gemerkt hatte, sondern die Toten sogar in alphabetischer Reihenfolge aufzählte. Aber vielleicht war das auch Zufall.

«Verwundete?», fragte Ratwin.

«Nur zwei. Sigibold ist beim Sturz von der Leiter auf den Kopf gefallen und kann sich an nichts erinnern.»

«Der Glückliche», kommentierte Ratwin.

«Reginar hat ein Auge verloren», fuhr Erik fort.

«Wer ist das denn?», fragte Ratwin.

«Der Dicke mit den dünnen Beinen und dem Spitzbart, den alle Ziegenbock nennen.»

«Ach der. Schade um das Auge. Das sind alle?»

«Fast. Tankred hat was im Gesicht abbekommen, aber es geht ihm gut.»

«Warum soll’s guten Leuten auch schlecht gehen», kommentierte Ratwin.

«Im Gegenteil», sagte ich und trat ein. «Schlechten Leuten geht’s immer gut.»

Ratwin lachte über das ganze Gesicht, obwohl er bleich und mitgenommen aussah. Er lag auf seinem mit Fell bezogenen Bett. Das rechte Bein war auf Kissen gelagert. Das Hosenbein war abgeschnitten worden, und das Schienbein war unter einem dicken Verband verborgen. Eine Holzschiene war unterhalb des Knies und oberhalb des Knöchels mit Lederriemen an dem verletzten Bein befestigt.

«Tut’s weh?», fragte ich.

«Geht so», antwortete er. «Sie haben mir was eingeflößt, bevor sie den Bruch gerichtet und die Wunde ausgebrannt haben.»

«Was das Eisen nicht heilt, heilt das Feuer, und was das Feuer nicht heilt, ist unheilbar», zitierte ich Hippokrates.

«Dir gehen die schlauen Sprüche wohl nie aus», stellte er fest. «Setz dich.»

Ich setzte mich auf einen Hocker, der neben dem Bett stand. Erik blieb stehen. Seine Kleidung war glatt und sauber. Es war deutlich zu sehen, dass er nicht am Sturmangriff teilgenommen hatte.

«Schöne Scheiße, oder?», fragte Ratwin matt.

«Allerdings», sagte ich. «Und jetzt?»

«Wir belagern sie weiter und stürmen bei der nächsten Gelegenheit wieder. Arnulf wird schon dafür sorgen, dass es nicht zu lange dauert. Wenn es nach ihm geht, schicken wir so lange unsere Männer durch das Tor, bis den Dänen die Pfeile ausgehen oder die Leute auf den Leichen durch die Grube laufen können.»

Wir berieten eine Weile, ob es eine Möglichkeit gab, durch das Tor zu gelangen, aber wir kamen zu keinem Ergebnis. Ratwin war durch den Blutverlust und den Betäubungstrank so ermattet, dass ihm irgendwann die Augen zufielen.

«Nimm dir ein paar Tage frei», murmelte er. «Du hast es dir verdient.» Dann schlief er ein.

 

Am nächsten Tag brach ich kurz nach Sonnenaufgang auf und ritt mit gemischten Gefühlen nach Aachen. Ich hätte mich freuen müssen, Fidis endlich wiederzusehen, aber die Enttäuschung über den missglückten Angriff, der Ärger über die ungelöste Frage meines Erbes, die Sorge um Ratwin und die ungute Ahnung, dass Gerold meine Abwesenheit irgendwie nutzen könnte, um gegen mich zu intrigieren, überschatteten meine Vorfreude. Es behagte mir nicht, die unerledigten Aufgaben zurückzustellen, und der Besuch in Aachen erschien mir plötzlich wie eine Pflicht, die die Umstände mir auferlegten. Wieder und wieder sagte ich mir, dass es in Asselt zumindest für einige Tage nichts Sinnvolles für mich zu tun gab. Aber meine Gedanken kreisten um die Festung und um die verfluchte Grube hinter dem Tor. Während der monotone Takt der Hufe und das Knarren des Sattels mich einlullten, kamen mir die verrücktesten Ideen: Wagenladungen mit Kies, der über ein Schüttrohr in die Grube geleitet würde, fahrbare Schutzdächer, rollende Brücken und Ähnliches, allesamt unausgegorene Einfälle, deren Tauglichkeit unter ständigem Beschuss äußerst fragwürdig war.

Als die Kuppel der Marienkirche gegen Nachmittag endlich in Sicht kam, war ich nicht weitergekommen. Ich zwang mich, für den Rest des Tages nicht mehr an Asselt zu denken, aber immer wieder sah ich die verdammte Grube vor mir. Wenn es uns nicht gelang, sie zuzuschütten oder zu überwinden, gab es nur den Weg über die Mauer. Oder übersah ich etwas? Was war mit dem Tor auf der anderen Seite der Festung? Dem hatten wir bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Ließ es sich leichter einschlagen?

Als ich endlich vor dem Haus stand, das Fidis von Folchar überlassen worden war, hatte ich Mühe, mir ihr Gesicht vorzustellen. Es war, als hätten die vielen aufwühlenden Ereignisse der vergangenen Wochen die Erinnerung an sie verblassen lassen, und ich fürchtete, sie würde das spüren. Vielleicht war sie ohnehin schon ungehalten darüber, dass ich meinen Besuch so lange aufgeschoben hatte. Andererseits: Vor unserer glücklichen Begegnung vor drei Monaten hatte sie über zwölf Jahre auf mich gewartet, ohne dass auch nur die geringste Befangenheit das Wiedersehen getrübt hatte. Schließlich hoffte ich, dass mein übel zugerichtetes Gesicht ihr wenigstens ein bisschen Mitleid oder Erleichterung einflößen würde. Immerhin war ich dem Tod auf der Mauer nur knapp entronnen.

Es war ein heißer Julitag. Ein Turmfalke zog hoch am Himmel seine Runden, ein paar Fußgänger eilten vorbei, ohne mich zu beachten. Auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses stiegen Handwerker herum und besserten irgendetwas aus. Aachen schien sich von der Plünderung erholt zu haben.

Ich klopfte. Nichts. Klopfte noch einmal. Wieder nichts. War sie ausgegangen? Hätte ich einen Boten vorwegschicken sollen? Kurz wallte die Befürchtung in mir auf, Uta hätte sie überfallen oder entführen lassen, und ich bereute es, sie nicht an einem weiter entfernten Ort untergebracht zu haben. Hier wusste inzwischen wahrscheinlich jeder, wer sie war.

Die Tür war nicht verriegelt, und ich trat ein. Das Gebäude war schmal wie die meisten Aachener Häuser in den Straßen rund um das Marienstift, zwei übereinanderliegende Räume und eine Gartenparzelle mit ein paar Kräuterbeeten und einem Brunnen.

Der untere Raum war wohnlich eingerichtet und sauber gefegt. Über dem Herd hing ein Kessel, auf dem Tisch standen eine Karaffe, eine Vase mit frischen Blumen und eine Holzschale mit einem angeschnittenen Brot, bei dessen Anblick mich ein plötzlicher Anfall von Hunger packte, sodass ich zugriff. Das Brot war frisch. Weit konnte sie nicht sein. Beim Kauen spürte ich die Schmerzen in meiner Wange wie langsame dumpfe Schläge.

Kauend rief ich ihren Namen, bekam aber keine Antwort. Die Tür zum Garten stand offen. Das Sonnenlicht beleuchtete die Beete. Ein hellblauer Schmetterling flatterte vorbei. Ich trat ins Freie. Und da war sie. Die Wiedersehensfreude füllte mich aus wie ein warmer Schauer. Doch etwas war merkwürdig.

Sie trug ein helles Leinenkleid und hockte mit dem Rücken zu mir auf allen vieren, den Kopf gesenkt. Im ersten Augenblick dachte ich, sie erntete irgendwelche Kräuter.

«Fidis?»

Langsam drehte sie sich um. Sie sah mitgenommen aus, die verschwitzten Haare klebten ihr am Kopf, und ihr Gesicht war gerötet. Als sie sich erhob, geriet sie kurz ins Straucheln, fing sich wieder, erschrak über den Anblick meines Gesichts, lächelte dann zuerst etwas schief und unsicher, als sei es ihr unangenehm, dass ich sie so vorfand, dann gewann die Wiedersehensfreude die Oberhand. Sie machte ein paar Schritte auf mich zu und fiel mir in die Arme. Während sie sich an mich schmiegte, spürte ich die alte Vertrautheit, als wäre eine zwischenzeitlich verloren gegangene zweite Hälfte wieder an mich angefügt worden, noch bevor überhaupt das erste Wort gefallen war.

Eine Weile hielt sie mich nur fest. «Graf Neunmalklug», murmelte sie, das Gesicht an meine Schulter gedrückt, halb lachend und halb weinend. Wenn sie mich so nannte, konnte es so schlimm nicht sein.

«Hätte ich gewusst, dass du heute kommst, dann hätte ich mich ein bisschen zurechtgemacht», sagte sie. Ich nahm ihren Kopf in beide Hände und schob sie ein Stück von mir weg, um sie zu betrachten. Ein halb amüsierter und halb gequälter Ausdruck trat auf ihr Gesicht, als sie mich aus der Nähe sah, aber ihre Augen strahlten. Hinter ihr flatterte der blaue Schmetterling herum und verschwand über die Mauer zum Nachbargrundstück.

«Haben die Dänen bei deinem Anblick Reißaus genommen?», fragte sie mit einem schwachen Lächeln.

«Leider nicht. Sie sitzen immer noch in Asselt.»

Enttäuschung machte sich auf ihrem Gesicht breit. Natürlich hatte sie gehofft, dass der Krieg vorbei wäre und ich mich keinen weiteren Gefahren würde aussetzen müssen. Ich berichtete ihr in ein paar knappen Sätzen, was am Vortag passiert war. Sie begriff sofort, dass mein Besuch nicht von Dauer sein würde.

«Wann reitest du zurück?»

«Demnächst.»

«Du musst auf dich aufpassen», sagte sie. Zuerst schien es, als wollte sie noch etwas ergänzen, aber dann schwieg sie wieder und zwang sich zu einem Lächeln. «Denken wir nicht daran.»

Wieder betrachtete ich sie. Sie wirkte etwas fülliger als sonst, leicht verändert, wie angetrunken, glücklich und unglücklich zugleich, aufgeladen mit widerstreitenden Gefühlen. Sie wischte sich die verklebten Haare aus dem Gesicht. Etwas war nicht so, wie es sein sollte.

«Was ist los?», fragte ich vorsichtig.

«Mir ist schlecht», sagte sie.

Und plötzlich war mir alles klar. Sie hatte keine Kräuter geerntet. Sie hatte im Garten gehockt, weil sie sich hatte übergeben müssen. Als ich begriff, was das nur bedeuten konnte, wurde mir schwindelig, als ob mir gerade ein Geschenk überreicht worden wäre, das mich überforderte, weil ich seine Tragweite für mein weiteres Leben nicht von einem Augenblick auf den anderen übersehen konnte. Und dennoch war es ein Geschenk, und bevor ich den Gedanken formulieren konnte, spürte ich die Entschlossenheit in mir aufwallen, alle anderen Dinge zu regeln, bevor unser Kind auf der Welt wäre. So merkwürdig es klingt: Trotz der Unwägbarkeiten, die diese neue Lage mir aufbürdete, fühlte ich mich unbesiegbarer als je zuvor. Unser Kind. Plötzlich war da etwas, das uns für immer miteinander verbinden und alles ändern würde. Als ich sie wieder in die Arme nahm, spürte ich es zwischen uns wie ein Kettenglied, das noch gefehlt hatte.

Wir verbrachten den Rest des Nachmittags im Garten. Zwischendurch ging ich ins Haus und bereitete uns etwas zu essen zu. Ich erzählte von den Ereignissen der vergangenen Wochen, von meinem Besuch in Lüttich, von der durchzechten Nacht mit den Iren, von Francos Auftrag, von meinem nächtlichen Besuch auf der Insel, von meiner Gefangennahme und Flucht, von dem Angriff auf Roermond, von meinem Gespräch mit Liutward auf dem Glockenturm, von Arnulf von Kärnten und Heinrich von Babenberg, von Gerolds Verrat und vom Tod meines Vaters, von Gauzberts Erscheinen, vom Dammbau und von unserem katastrophalen Angriff im Hagelsturm. Einiges davon war ihr vom Hörensagen bekannt. Zwischendurch legte ich immer wieder die Hand auf ihren Bauch und glaubte, die Macht zu spüren, die von dem ausging, was dort heranwuchs, obwohl von außen noch gar nichts zu sehen war. Und alle mit dem Schwert begangenen Heldentaten erschienen mir so unbedeutend, dass ich mir fast lächerlich vorkam, überhaupt davon zu berichten.

«Lass uns reingehen», sagte sie schließlich und griff nach meiner Hand. Der Himmel war tiefblau. Eine Glocke läutete. Es war ein friedlicher Abend, und meine Kampflust war wie weggeblasen. Wenn ich in diesem Augenblick hätte entscheiden können, was weiter passieren sollte, dann hätte ich den Kaiser, Liutward, Arnulf, Heinrich und Franco mit ihren Ränkespielen zum Teufel geschickt, den Dänen die Festung und Gerold das Erbe überlassen, Uta meine Rache vor die Füße geworfen und das Schwert in der Abstellkammer verstaut.

Ich wollte nur noch eins: die Zeit anhalten, für immer bei Fidis bleiben und mit Folchar über den Lauf der Gestirne, die Beschaffenheit der Materie und die Lage des Paradieses diskutieren, während das Kind langsam heranwuchs und Geschwister bekam, die einen Vater hatten, von dem sie nicht nur aus Erzählungen wussten. Doch mir war klar, dass ich dieses Leben nicht geschenkt bekommen würde, und ich ahnte, dass Zeiten kommen würden, in denen die Waagschale sich wieder zur anderen Seite neigen würde. Denn auch das gehörte zu mir, auch das war mein Leben. Einen Tagesritt weiter westlich blickten die Dänen jetzt wahrscheinlich von den Festungsmauern auf unsere Lager hinab, Liutward dachte über die Nachfolge für den Thron nach, Arnulf plante den nächsten Angriff, und Heinrich überlegte, wie er das Verdienst für einen Sieg auf sein eigenes Konto buchen und die Verantwortung für eine Niederlage anderen in die Schuhe schieben könnte. Unsere Zimmerleute nagelten schon neue Leitern zusammen, Lupus schärfte sein Schwert, Gauzbert übte sich mit dem Bogen, und Ratwin sammelte seine Kräfte, um beim nächsten Angriff wieder dabei sein zu können.

Das Wunderbare an Fidis war, dass sie mir an diesem Abend die beruhigende Gewissheit gab, diese beiden Leben seien irgendwie vereinbar. Sie schien vollständig in sich zu ruhen und vor nichts Angst zu haben. Obwohl ich wusste, dass sie um mein Leben fürchtete und mich am liebsten nie wieder hätte ziehen lassen, sagte sie nichts, was mir den Abschied schwerer gemacht hätte.

Als wir die Treppe zum oberen Raum hinaufstiegen, während draußen die Dämmerung hereinbrach, fühlte ich mich wie ein vollständiger Mensch, obwohl doch eigentlich wirklich alles an diesem Dasein unvollständig war.

 

Ich blieb vier Tage lang bei Fidis. Wenn ich meine Hand auf ihren Bauch legte, versuchte ich, mir das kleine Wesen vorzustellen, das dort heranwuchs, und wenn es ein Gesicht hatte, dann war es das von Judith als kleines Mädchen. Weitab von meinesgleichen, wo alle nur in Dynastien, Titeln und Erbfolgen dachten und von morgens bis abends beteten, dass Gott ihnen Söhne schenken möge, schien mir die Vorstellung, eine Tochter statt eines Sohnes zu bekommen, weder unerwünscht noch abwegig. Vielleicht lag es einfach daran, dass ich noch nichts zu vererben hatte.

Natürlich traf ich auch Judith, und es fiel mir schwer, meine Genugtuung darüber zu verbergen, dass Ansgar ihr mit seinen Versuchen, sie zu seiner Dienstmagd zu machen, zusehends auf die Nerven fiel. Sie begann, dagegen aufzubegehren, und seine vollständige Unfähigkeit, ihre Bedürfnisse zu verstehen, machte es mir leicht, ihr großer Bruder zu sein, dem sie sich anvertraute und auf dessen Rat sie hörte. Immer noch begegnete Ansgar mir mit einer Mischung aus Respekt und Misstrauen, denn natürlich wusste in Aachen jeder, was für einen Klang mein Name inzwischen hatte. Ich ahnte, dass ich von diesem Ruf nicht ewig würde zehren können, aber es genügte vorerst, um ihn in die Schranken zu weisen und ihn daran zu erinnern, dass er Judith früher oder später würde ziehen lassen müssen. Ich hätte Ansgar sogar zugetraut, dass er auf die Idee gekommen wäre, sie aus reiner Bequemlichkeit zu heiraten, schließlich waren sie nicht Bruder und Schwester, aber ihm musste natürlich klar sein, dass sie sich niemals darauf eingelassen hätte, ganz abgesehen davon, dass sie ohnehin nicht auf ihn angewiesen war. Er konnte schon froh sein, dass sie überhaupt bei ihm blieb.

Nach drei Tagen gelang es mir nicht mehr, die Gedanken an Asselt beiseitezuschieben. Ich wusste, dass ich mich dort bald wieder würde blicken lassen müssen, konnte mich aber nur schwer losreißen. Am Abend des dritten Tages besuchte ich Folchar. Insgeheim erhoffte ich mir von ihm genau den Tritt in den Hintern, den ich brauchte, um mich wieder den dringenden Aufgaben zu widmen. Denn obwohl Folchar die geistliche Laufbahn eingeschlagen hatte, dachte er wie ein adliges Familienoberhaupt. Nachdem ich auch ihm von den Ereignissen in Asselt berichtet hatte, riet er mir, so schnell wie möglich zurückzureiten.

«Wenn du beim zweiten Sturm nicht dabei bist, wird Gerold das gegen dich verwenden», warnte er mich. «Er wird den ganzen Maasgau auf seine Seite bringen, wenn du dich nicht zeigst. Der Kaiser wird dich vergessen, und Liutward wird sich andere Verbündete suchen. Jeder Tag zählt.»

Er hatte recht. Schweren Herzens verabschiedete ich mich von Judith und Fidis. In der letzten Nacht an der Seite von Fidis tat ich kein Auge zu. Was sollte aus ihr und dem Kind werden, falls ich ums Leben kam? Nie zuvor hatte ich Zeit an einen solchen Gedanken verschwendet. Jetzt, wo ich nicht mehr nur für mich selbst verantwortlich war, erschien er mir plötzlich selbstverständlich.

«Du musst ja nicht unbedingt der Erste sein, der auf die Mauer steigt», sagte Fidis, als sie mich zum Abschied umarmte. «Mir ist ein lebender Heimkehrer lieber als ein toter Sieger.»

Ich aber wollte beides. Das Leben und den Sieg.

 

Die Ankunft in Asselt fühlte sich an wie eine Heimkehr, wie ich halb erstaunt und halb widerstrebend feststellte, als der Lagerwall mit seinen Türmen wieder in Sicht kam. In den wenigen Wochen, die ich dort verbracht hatte, war der Ort mir merkwürdig vertraut geworden. Und unwillkürlich stellte sich auch der Stolz wieder ein: Stolz auf die beiden Dämme, die mein Werk gewesen waren und den Fluss auch weiterhin im Zaum hielten, sodass das bisschen Sickerwasser, das sich in trüben Rinnsalen seinen Weg in das trockengelegte Flussbett suchte, den Wasserstand nicht weiter als bis auf Kniehöhe ansteigen ließ. Und Stolz auf die Aussicht, bald wieder mit dem Kaiser und seinen Anführern und Beratern an einem Tisch zu sitzen und um meine Einschätzung gebeten zu werden. Alles in Asselt war mir vertraut: die Palisaden, die Wachen, das Hin und Her der Transportwagen, das Hämmern aus den Feldschmieden und der Geruch von Schlacke, Feuer und Gebratenem. Und natürlich die Hintergrundkulisse der Festung mit ihren Türmen, die vor der im Westen stehenden Abendsonne nur als Silhouette zu erkennen war, wie ein Berg, den es zu bezwingen galt.

Nur der kleine Friedhof, den man zwischen Asselt und Roermond angelegt hatte, war neu. Mehrere Reihen von Gräbern waren an den länglichen Erhebungen aus sandiger Erde zu erkennen, und in einigen von ihnen steckten Holzkreuze, hastig zusammengezimmert von Freunden oder Verwandten der Bestatteten. Beim Anblick der Gräber streifte mich kurz der unangenehme Gedanke, dass auch ich so enden konnte.

Wie ich erfuhr, hatte man einen vorübergehenden Waffenstillstand mit den Dänen geschlossen, damit wir unsere Toten vor der Mauer bergen konnten. Die fast zweihundert dänischen Leichen, die nach ihrem Überraschungsangriff vor unserem Lagerwall liegen geblieben waren, waren ihnen im Gegenzug vor das Festungstor geliefert worden, weil Arnulf keine Dänen in die Nähe unseres Lagers lassen wollte. Mich wunderte, dass er den Austausch überhaupt gestattet hatte. Wie ich ihn einschätzte, hätte er es lieber gesehen, die Leichen oder wenigstens ihre Köpfe wie nach dem Angriff auf Roermond auf Pfähle zu stecken und am Ufer aufzureihen. Aber angesichts der Hitze des Sommers hätte der Verwesungsgestank den Männern im Lager wahrscheinlich mehr Verdruss als Genugtuung bereitet.

Dass es überhaupt einen solchen Waffenstillstand gegeben hatte, machte mich stutzig. Offenbar war verhandelt worden, und vielleicht bestand die Aussicht, dass diese Verhandlungen fortgesetzt würden. Wollten die Dänen etwa kapitulieren? Der Gedanke, dass es so einfach sein würde, erschien mir unvorstellbar.

Als Erstes sah ich nach Ratwin und stellte mit großer Erleichterung fest, dass er nicht mehr in Lebensgefahr schwebte. Seine Beinwunde hatte sich in den fünf Tagen nicht entzündet, und die Chancen standen gut, dass er durchkommen würde.

Ratwin war allein. Er saß aufrecht in seinem Bett, dicke Kissen im Rücken und unter dem Bein. Der Verband schien erneuert worden zu sein, jedenfalls sah er sauber aus und war nicht durchgeblutet. Die Blässe in Ratwins Gesicht war einer gesünderen Farbe gewichen. Als ich eintrat, verzehrte er gerade mit großem Appetit ein Hühnerbein, mit dem er auf einen Hocker neben dem Bett wies, dann nagte er das restliche Fleisch herunter, warf den Knochen in einen Eimer am Fußende und wischte sich mit einem Tuch den Mund ab. Ich setzte mich.

«Du siehst gut aus», sagte ich. «Wenn das so weitergeht, kannst du beim nächsten Sturm wieder mit auf die Leiter.»

Er lachte spöttisch auf. «Würde ich ja. Aber es wird keinen nächsten Sturm geben.»

Ich setzte mich kerzengerade auf. «Warum nicht?»

«Sie ziehen ab. Asselt wird übergeben.»

Ratwins Gesichtsausdruck verriet, dass die Sache einen Haken hatte. Während er eine kurze Pause machte und mich prüfend ansah, schwirrten mehrere Gedanken gleichzeitig durch meinen Kopf: Es würde kein weiteres Blutvergießen geben, die Gefangenen würden befreit, und der Kaiser würde die Übergabe als seinen Sieg verkaufen können. Andererseits würde mein Beitrag zu diesem Erfolg verblassen, weil er durch Verhandlungen erzielt worden war, an denen ich nicht beteiligt gewesen war. Weder der Damm- noch der Sturmangriff hatten die Entscheidung herbeigeführt, und auch die Gefangenen würden ohne mein Zutun freigelassen. Und was bedeutete der Abzug der Dänen schon für das Land, wenn sie nicht entscheidend geschwächt waren? Sie würden kurz verschwinden und dann mit Verstärkung zurückkehren, um weiter ihr Unwesen zu treiben.

«Und?», fragte Ratwin. «Wie klingt das?»

«So, wie du es sagst, klingt es nicht gut.»

«Ist es auch nicht. Sie bekommen zweitausend Pfund Silber dafür.»

«Zweitausend Pfund?», fuhr ich auf. «Das sind über eine halbe Million Denare! Mit dem Geld könnte man zehn Festungen bauen!»

«Und vierhundert Pfund Gold obendrauf», ergänzte Ratwin mit genüsslichem Sarkasmus.

«Verstehe ich das richtig? Wir haben sie mit achtfacher Übermacht auf dieser verdammten Insel umzingelt, und jetzt bezahlen wir sie dafür, dass sie ihre Haut retten? Wir sind hier, um sie zu bestrafen, nicht um sie zu belohnen!»

«So sehen das die meisten. Die Männer sind enttäuscht und wütend. Am liebsten würden sie sofort wieder stürmen.»

«Wie in aller Welt ist das möglich?», fragte ich wütend.

«Die dänische Flotte an der Maasmündung hat Verstärkung bekommen und kehrt flussaufwärts zurück. Die Strömung ist schwach, und sie könnten in ein paar Tagen hier sein. Unsere Posten können sie nicht daran hindern. Und weil er keinen zweiten Rückschlag riskieren will, hat der Kaiser entschieden, nicht noch einmal anzugreifen. Stattdessen hat er den Dänen den Abzug gegen Geld angeboten, bevor unsere Position sich verschlechtert.»

«Und wenn schon!», rief ich. «Die Gefahr hat doch von Anfang an bestanden! Wofür haben wir denn die Palisaden um die Lager gezogen?»

«Mir brauchst du das nicht zu sagen.»

«Wenn wir ihnen Geld in den Rachen werfen, halten sie uns für schwach und feige», fuhr ich fort.

«Mir brauchst du das nicht zu sagen», wiederholte Ratwin langsam und mit leicht verändertem Tonfall.

«Und das wird noch mehr von ihnen anlocken.»

«Mir brauchst du das nicht zu sagen.» Diesmal sang er den Satz wie den Refrain eines Liedes, dessen ständige Wiederholung ihm ein unerbittlicher Lehrer aufgebrummt hatte.

«Sie melken uns wie die Kühe und lachen uns aus!»

«Mir brauchst du das nicht zu sagen», leierte Ratwin mit geschlossenen Augen.

Ich war fassungslos. War der Kaiser wirklich so mutlos und unentschlossen? Oder steckte etwas anderes hinter seiner Entscheidung, den Kampf zu vermeiden?

«Was meinen Arnulf und Heinrich denn dazu?», fragte ich.

«Arnulf hat sich halbherzig für einen Angriff ausgesprochen und dann eingelenkt. Heinrich hat sich bedeckt gehalten.»

Ich konnte es nicht glauben. Arnulf von Kärnten hatte es mit dem Sturm auf die Festung gar nicht schnell genug gehen können, er hatte bei jeder Gelegenheit fürs Draufschlagen geworben und alle Zauderer mit Beschimpfungen überzogen. Und jetzt sah er zu, wie der Kaiser den Schwanz einkniff?

«Warum hat ausgerechnet Arnulf seine Meinung geändert?», fragte ich fassungslos.

«Ich glaube nicht, dass er seine Meinung geändert hat, er sagt sie nur nicht mehr. Er hat plötzlich eine Chance gewittert, den Kaiser zu schwächen, und er hat ihn ins Messer laufen lassen. Hinterher wird er immer sagen können, dass er dagegen war. Was kümmert es ihn, wenn die Nordmänner die Küsten plündern? Bis in seine Berge werden sie nicht kommen. Und bezahlen muss er es auch nicht.»

«Woher kommt denn das Geld?»

«Angeblich aus dem Kirchenschatz von Metz. Seit Walas Tod ist das Bistum vakant. Der Kaiser kann sich bedienen, und die lotharingischen Adligen halten still, solange sie selbst nicht zur Kasse gebeten werden. Bertolf freut sich, dass Metz geschwächt wird. Wenn der Stuhl irgendwann wieder besetzt wird, muss Walas Nachfolger erst mal zusehen, dass die Kasse gefüllt wird, und kommt nicht gleich wieder auf die Idee, Metz aus dem Trierer Metropolitanverbund herauszulösen. Walas altes Projekt. Also hat Bertolf auch nichts gesagt.»

«Und Liutward?»

«Der hat sich als Einziger gegen die Vereinbarung ausgesprochen und den Kaiser gewarnt. Aber er konnte sich nicht durchsetzen.»

«Wie kann das sein?», fragte ich. «Der Kaiser macht doch sonst alles, was Liutward sagt. Wer zum Teufel hat ihm diese Idee eingeflüstert?»

«Seine Beichtväter. Die haben sich auch gleich bereit erklärt, die Verhandlungen zu führen. Sie sind der Ansicht, dass der Hagelsturm ein Zeichen Gottes war.»

Aha, dachte ich. Da haben wir’s also.

«Außerdem hat Gottfried angeboten, sich taufen zu lassen. Da waren die Priester ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung. Noch ein Fingerzeig des Herrn.»

«Halleluja», murmelte ich missmutig.

«Hosianna», antwortete Ratwin. «Und es kommt noch besser.»

«Was denn noch?»

«Gottfried bekommt Ländereien in Friesland. Roriks altes Lehen.»

Ich schlug mir mit der flachen Hand vor die Stirn angesichts von so viel Unverstand und Blauäugigkeit. Rorik war ein berüchtigter dänischer Anführer gewesen, ein Neffe von Harald Klak und damit der Onkel zweiten Grades von Ratwins Dolmetscher Erik. Rorik hatte vor fast dreißig Jahren von Kaiser Lothar ein Lehen an der Nordseeküste bekommen, unter der Bedingung, dass er es gegen die anderen Dänen verteidigte, die über das Meer herandrängten. Doch anstatt die Plünderer fernzuhalten, hatte er sie eingeladen und ihnen freie Durchfahrt gewährt. Rorik war kein Verbündeter gewesen, sondern ein Unruhestifter, und es gab keinen Grund anzunehmen, dass Gottfried es in Zukunft anders handhaben würde.

Eine Weile starrten wir schlecht gelaunt vor uns hin.

«Dann ist also alles entschieden?», fragte ich schließlich.

«Mehr oder weniger», antwortete Ratwin. «Sie einigen sich gerade über die Formalitäten. Der Kaiser kratzt sein Geld zusammen, der Bote nach Metz ist unterwegs. Gottfried wird von einem Priester im Glauben unterwiesen, damit es bei der Taufzeremonie nicht allzu peinlich wird. Wenn alles erledigt ist, werden die Festung und die Gefangenen übergeben, und wir marschieren zurück an den Rhein. Das war’s. Es ist aus.»

Knapper hätte man es nicht zusammenfassen können. Auch für mich war es aus. Osmund würde mit den anderen Gefangenen freigelassen werden. Franco bekam seinen Sohn zurück, ohne dass er eine Gegenleistung würde erbringen müssen. Unsere Vereinbarung war hinfällig.

Ich sah Ratwin an, wie ungehalten er selbst über die Entwicklung war. Schließlich seufzte er einmal laut und zeigte auf die Weinkaraffe mit den Pokalen, die auf einer der Truhen stand.

«Ich würde sagen, wir genehmigen uns mal einen», sagte er.

Ich goss zwei Pokale voll, und wir tranken uns zu.

«Wie war’s in Aachen?», fragte er. «Irgendwelche Neuigkeiten?»

«Kann man wohl sagen», antwortete ich.