T atsächlich war alles entschieden. In den folgenden Tagen sprachen sich die Einzelheiten der Vereinbarung im Lager herum und sorgten für großen Unmut. Gottfried würde das Lehen in Friesland bekommen, Siegfried und die anderen Anführer würden Silber und Gold unter sich aufteilen. Anschließend würden die Festung und die Gefangenen übergeben werden, und die Dänen würden abziehen: Gottfried nach Deventer, das Zentrum seiner neuen Besitzungen, Siegfried, wohin auch immer er wollte. Alle rechneten damit, dass er das Geld benutzen würde, um ein noch größeres Heer aufzustellen und schon im nächsten Jahr neuen Ärger zu machen.
In unseren Lagern und in Roermond wurde geschimpft und geflucht. Natürlich überstieg der riesige Schatz – zweitausend Pfund Silber und vierhundert Pfund Gold, wie Ratwin gesagt hatte – das Vorstellungsvermögen der Männer, aber gerade weil niemand ausrechnen konnte, wie viel Geld das nun eigentlich war, bekam die Summe etwas Ungeheuerliches und Empörendes. Aus reiner Neugier rechnete ich ein bisschen herum, behielt das Ergebnis aber wohlweislich für mich: Wenn die Dänen die Beute gleichmäßig unter sich aufteilten, würde jeder von ihnen so viel bekommen, wie ein Landarbeiter für zehn Jahre Plackerei an Lohn erhielt. Während unsere Männer darauf warteten, dass sie zu ihren Familien zurückkehren konnten, wurde im Land das Getreide knapp. Einige machten sich auf eigene Faust auf den Weg, um zu Hause wenigstens die Ernte einbringen zu können.
Selbstverständlich traute sich niemand, den Kaiser selbst zu beschuldigen. Stattdessen ging das von Arnulf gestreute Gerücht um, Liutward habe sich von den Dänen bestechen lassen, um Karl zum Abschluss des Vertrags zu bewegen – eine dreiste Lüge, die bereitwillig geglaubt wurde, weil Liutward als arroganter, gieriger und intriganter Finsterling galt. Liutward blieb nichts anderes übrig, als den Vertrag wider besseres Wissen als Erfolg darzustellen, immerhin würde Asselt bald von einer kaiserlichen Besatzung übernommen werden. Doch allen war klar, dass der Preis dafür viel zu hoch gewesen war, dazu kam die Schmach, dass man vor einem unterlegenen Gegner eingeknickt war. Und weil Arnulf ein im ganzen Land bekannter Draufgänger war, glaubte man ihm und nicht Liutward. Der Kaiser stand als willenloser Spielball in den Händen eines übelwollenden und selbstsüchtigen Beraters da. Arnulfs Rechnung war aufgegangen. Ich fragte mich, wann er nach der Macht greifen würde.
Die dänische Flotte hatte auf halber Strecke zwischen Maasmündung und Roermond haltgemacht und lag wieder auf dem Strand, misstrauisch beobachtet, aber unbehelligt von unseren Leuten. Um sie vom Plündern abzuhalten, wurden sie auf Befehl des Kaisers mit Lebensmitteln beliefert. Und so mussten sie nichts anderes tun, als sich an den Lagerfeuern die Bäuche vollzuschlagen und abzuwarten, dass sie ihren Anteil an der Beute bekamen. Ich sah den dicken Sven Knurhår vor mir, wie er sich im Kreis seiner Männer vor Lachen den Bauch hielt. Und das hätte ich an seiner Stelle wohl auch getan.
In meiner Familienangelegenheit stand es nicht besser. Gerold war verschwunden. Teile des lotharingischen Kontingents waren schon abgerückt und nach Hause zurückgekehrt, und von Ratwin erfuhr ich, dass Gerold fortfuhr, sich in Maastricht die Treue der Herren des ganzen Gaus zu sichern. Dass er selbst bei der Belagerung und beim Sturmangriff nichts geleistet hatte, interessierte niemanden. Der Wille unseres verstorbenen Vaters wog schwer. Mir waren die Hände gebunden. Ich hatte nicht die Mittel in der Hand, um gegen Gerold vorzugehen, und von Franco war keine Hilfe zu erwarten.
Die Dänen trugen wenig zu unserer Gesichtswahrung bei. Gleich am ersten Tag nach dem Abschluss des Vertrags erschlugen sie nach einem Streit um Nichtigkeiten ein paar Händler, die nach Asselt gekommen waren, um ihre Waren zu verkaufen.
Die meiste Zeit über hielten die Dänen sich auf der Insel auf. Ab und zu passierte eins ihrer Schiffe die Anlage auf dem westlichen Seitenarm der Maas, verschwand in Richtung Maastricht und tauchte irgendwann wieder auf. Es wirkte ein bisschen, als wollten sie erproben, was sie sich erlauben konnten. Zwischenzeitlich kam mir der Verdacht, dass sie irgendeine List planten, um das Geld zu kassieren, ohne die Festung und die Gefangenen herauszugeben.
Die Übergabe sollte mit einem Fest in der Pfalz begangen werden, ein Vorschlag der Dänen, den die kaiserlichen Verhandlungsführer schlecht ausschlagen konnten, ohne zuzugeben, dass es für unsere Seite wenig zu feiern gab. Alle rechneten damit, dass das Festgelage zu einem deprimierenden Spektakel geraten würde, und manch einer fürchtete, dass es zu einer gewaltsamen Eskalation kommen könnte, wenn erst einmal genug Bier geflossen war und irgendjemand ein falsches Wort sagte.
Gottfrieds Taufe wurde im kleinen Kreis in der Kirche von Roermond gefeiert. Der Kaiser selbst übernahm die Patenschaft, Erzbischof Bertolf leitete die Zeremonie. Die Dänen hatten verlangt, dass einer unserer beiden Anführer sich als Geisel nach Asselt begeben sollte. Fürchteten sie wirklich, dass wir ihren sogenannten König vor dem Altar erstechen oder im Taufbecken ersäufen würden, oder ging es nur darum, uns eine weitere kleine Demütigung zu verpassen? In jedem Fall hätten sie einen Heidenspaß gehabt, wenn sie den kindischen Streit mitangesehen hätten, der daraufhin zwischen Arnulf und Heinrich ausgebrochen war. Zuerst lehnten beide es entrüstet ab, sich als Geisel zur Verfügung zu stellen. Dann erklärte sich Heinrich plötzlich doch bereit, und die Sache wäre erledigt gewesen, wenn er sich bloß die süffisante Bemerkung verkniffen hätte, es sei schließlich recht und billig, dass der ranghöchste Führer des einen Heeres für die Sicherheit des ranghöchsten Führers des anderen bürge. Der Streit flammte wieder auf, diesmal wollten beide gehen, aber auf keinen Fall zusammen. Am Ende vermittelte der Kaiser einen Kompromiss: Zuerst sollte sich Heinrich für eine Stunde in die Hände der Dänen begeben, dann Arnulf. Der Austausch fand in der Mitte des Flusses statt. Als Arnulf und Heinrich aneinander vorbeiritten, zischelten sie sich wütende Bemerkungen zu, die niemand verstand. Eine Stunde später kehrte Gottfried als Christ zu seinen Männern zurück und wurde mit großem Beifall empfangen. Er warf den goldenen Kelch, den er als Taufgeschenk vom Kaiser erhalten hatte, in die Menge und sah brüllend vor Lachen zu, wie sie sich darum balgten.
Während die Dänen in aller Ruhe das Fest vorbereiteten, machten sich in unserem Heer Ernüchterung und Langeweile breit. Immer wieder stahlen sich ganze Gruppen bei Nacht und Nebel davon. Wen man erwischte, der wurde zurückgebracht und ausgepeitscht, schließlich bestand immer noch die Gefahr, dass die Dänen auf dumme Gedanken kamen, wenn sie sahen, wie unser Heer zu einem demoralisierten Haufen zusammenschmolz. Immerhin wurde dafür gesorgt, dass der Nachschub an Bier nicht versiegte.
Mit Ratwins Erlaubnis entfernte ich mich für ein paar Tage und leistete Fidis Gesellschaft, und natürlich war sie glücklich, dass ich mich keiner weiteren Lebensgefahr würde aussetzen müssen. Ich dagegen war unausstehlich. Das Wetter war mies, mein Erbe war in weite Ferne gerückt, und die Aussichten auf das Leben in Aachen, das mir nun vielleicht bevorstand, erschienen mir weit weniger verlockend als beim letzten Mal. Während Fidis sich im Garten übergab und ich verdrossen in den Regen starrte, fragte ich mich, ob es wirklich nur meine Familiengeschichte war, die mich so unzufrieden machte. Denn wenn ich ehrlich war, fehlte mir die Welt des kaiserlichen Heerlagers, diese Welt, in der man vom Pferd aus Befehle erteilte, sporenklirrend bei Besprechungen erschien, einander aus silbernen Pokalen zutrank und entschied, von welcher Seite eine Festung angegriffen werden musste.
Und dann dachte ich wieder an Gerold, der wahrscheinlich gerade in diesem Augenblick mit seinen Gefolgsleuten in Maastricht tafelte, nachdem er ihnen die Treueschwüre abgenommen hatte, und eine unbändige Wut überkam mich. «Es ist noch nicht vorbei», sagte ich und hieb mit der Faust gegen einen Fensterrahmen.
«Nein», sagte Fidis und strich sich über den Bauch. «Es fängt gerade erst an.»
Wie recht sie hatte. Und wie gut es tat, zu wissen, dass sie mich verstand.
Eine Woche später war es so weit. Der Übergabe von Asselt waren weitere Verhandlungen vorausgegangen, um das Misstrauen auf beiden Seiten zu dämpfen. Die Verhandlungsführer und ihre Begleiter, die am Gelage der Dänen teilnehmen sollten, hatten strikte Anweisung, sich auf keine Provokationen einzulassen. Alle würden die Waffen abgeben, und die Dänen würden einen ihrer Anführer als Geisel stellen, um für die Sicherheit unserer Männer zu bürgen. Nach der Feier würde die erste Hälfte der vereinbarten Zahlung übergeben werden. Dann würden unsere Leute mit den Gefangenen die Festung verlassen. Sobald die Dänen Asselt vollständig geräumt hatten, würden sie die zweite Hälfte bekommen und flussabwärts verschwinden.
Am Tag vor dem Fest kehrte ich nach Asselt zurück. Ratwin konnte inzwischen wieder die ersten Schritte an Krücken machen. Er humpelte in seinem Zelt auf und ab.
«Gut, dass du wieder da bist», begrüßte er mich. «Ich sterbe hier vor Langeweile. Zum Glück gibt’s morgen ein bisschen Abwechslung.»
«Hast du etwa vor, da hinzugehen?», fragte ich.
«Natürlich», sagte er. «Und du begleitest mich. Erwarte aber nicht, dass ich mit dir tanze.»
«Wie viele Leute sind wir denn?»
«So um die siebzig.»
«So viele?», fragte ich.
«Natürlich», antwortete er amüsiert. «Was wäre das denn für ein Fest, wenn der Saal nur halb gefüllt wäre? Außerdem gibt es einiges zu schleppen. Frag doch deine Freunde, ob sie auch mitwollen. Sollen die Dänen halt noch ein paar Gedecke mehr auflegen. Ach nein, die fressen ja immer direkt aus der Schüssel.»
Lupus und Gauzbert klatschten voller Vorfreude in die Hände. Ich brauchte den halben Abend, um Lupus davon zu überzeugen, dass es keine gute Idee war, im Bärenkostüm dort aufzulaufen.
Am folgenden Nachmittag machten wir uns zur Festung auf wie eine Prozession auf dem Weg zur Wallfahrtskirche. Kaum jemand aus dem engsten Kreis der kaiserlichen Berater und Anführer war dabei. Sie wollten die dänischen Gastgeber nicht unnötig aufwerten, und die Bischöfe empfanden es ohnehin als unter ihrer Würde, dem Heidenbesäufnis beizuwohnen und sich dabei die ganze Zeit über Lästereien und Zoten anzuhören. Außer Ratwin und einer Reihe weiterer Grafen sah ich zwei Priester in vollem Ornat, offenbar die Beichtväter des Kaisers, die auch die überstürzten Verhandlungen geführt hatten und um die Teilnahme nicht herumkamen. Ansonsten kannte ich niemanden, aber schon die Statur der Männer verriet, dass man wahrscheinlich die besten Kämpfer aus allen Abteilungen und vielleicht auch aus der Leibwache des Kaisers ausgesucht hatte – nur für den Fall, dass es Ärger geben würde. Wie gesagt, Waffen waren wohlweislich verboten worden, und auch die Dänen hatten zugesagt, keine zu tragen. Es war unwahrscheinlich, dass sie uns einfach so niedermetzeln würden, schließlich hätten sie sonst die zweite Hälfte der Beute nicht bekommen, außerdem war schon am frühen Nachmittag einer ihrer Anführer herübergekommen, um sich, wie vereinbart, als Geisel zur Verfügung zu stellen. Es war Jarl Olaf, der bei meinem Auftritt als Tanzbär auf dem Podest neben den Königen gesessen hatte. Er hockte jetzt unter Bewachung in Roermond und fraß sich durch die kaiserliche Vorratskammer, während irgendein Priester ihn zu bekehren versuchte.
Obwohl es erst Juli war, wirkte der Tag schon etwas herbstlich. Der Wind fegte über das Lager und bauschte die Planen der Zelte. Wolken flogen über den Himmel, und Möwen segelten durch die Böen, als wäre die Meeresküste nicht fern. Sowohl die Palisaden unseres Lagers als auch die Mauern der Festung waren mit neugierigen Gesichtern gespickt.
Die Priester schritten voran. Damit sie sich im knietiefen Wasser des Flussbettes keine nassen Füße holten und um ihrem Auftritt nicht die Würde zu nehmen, war ein Steg aus Planken über das Wasser gelegt worden. Hinter den Priestern gingen ein paar muskelbepackte Kerle in voller Rüstung, dann folgten etwa zwanzig Träger, die zu zweit je eine Kiste schleppten. Die Bohlen bogen sich unter dem Gewicht. Die Kisten waren in Roermond gefüllt und unter schwerster Bewachung in unser Lager gebracht worden. Was sie enthielten, war schätzungsweise der Gegenwert einer ganzen Stadt.
Hinter den Wachen folgten die Grafen und einige andere Herren aus dem Adel, allesamt demonstrativ in Kettenhemden mit aufwendigen Überwürfen. Lupus und ich stützten Ratwin, dessen verletztes Bein mit der Schiene über dem Boden baumelte. Gauzbert und Erik gingen hinter uns, Gauzbert gut gelaunt und in freudiger Erwartung eines bunten Schauspiels, Erik wie immer mit verängstigten Kuhaugen. Den Abschluss bildete eine weitere Gruppe von Männern aus den Kontingenten, die in allen nur denkbaren Mundarten redeten.
Am Tor, das sie in der Zwischenzeit repariert hatten, empfingen uns ein paar grinsende Dänen, wilde Gesellen mit spitz gefeilten Zähnen und ungepflegten Bärten. Gierige Blicke trafen die Kisten.
«Buh!», machte einer, als die beiden Priester den Durchgang passierten. Die Geistlichen zuckten zusammen und zogen die Köpfe ein. Die Dänen, offensichtlich schon angetrunken, stießen sich an, schnitten finstere Grimassen in Richtung der Priester und lachten sich halb tot. Als Vertreter eines Gottes, dessen Zorn das Meer teilen und die Sonne anhalten konnte, machten die Beichtväter des Kaisers keine gute Figur.
Die Grube hinter dem Tor hatten die Dänen mit Sand zugeschüttet und den Wall planiert. Der Rammbock war in den Innenhof gezogen und umgedreht worden. Wie ein ausgestopftes Beutetier stand er da, und zu allem Überfluss hatten sie der Eisenkappe ein Gesicht aufgemalt und ihr einen erbeuteten Helm aufgesetzt. War das die Art von Späßen, die wir für den Rest des Nachmittags über uns würden ergehen lassen müssen?
«Das kann ja heiter werden», murmelte Gauzbert hinter uns.
Durch ein Spalier von mehreren Hundert Dänen überquerten wir den Innenhof. Bärtige und bartlose Gesichter zogen vorbei, blonde und rote Mähnen, zu Zöpfen geflochten, zu Pferdeschwänzen gebunden oder offen auf die Schultern herunterhängend. Polierte Armreifen und Amulette blitzten auf. Die Blicke, die uns trafen, waren nicht feindselig, sondern eher amüsiert und neugierig, doch die meisten starrten ohnehin nur auf die Kisten und verfolgten sie mit ihren Blicken wie Raubkatzen im Gebüsch ein ahnungslos vorbeihoppelndes Rudel Kaninchen. Überall steckten Fackeln an den Wänden und im Boden, die wahrscheinlich später als Festbeleuchtung angezündet werden würden. Ich fragte mich, wie lange die Veranstaltung wohl dauern sollte.
Am Fuß der Treppe mussten wir die Waffen abgeben. Schwertgehänge wurden abgeschnallt, Messer und Dolche von Gürteln gelöst. Klinge für Klinge wanderte unsere Bewaffnung in eine große Kiste. Widerwillig legte auch ich das Schwert ab. Inmitten der Dänen fühlte ich mich nackt ohne meine Waffe. Immerhin hatten auch sie sich an die Vereinbarung gehalten: Niemand war bewaffnet, nur auf den Mauern standen einige Bogenschützen.
Wir stiegen die Treppe hinauf. Die zugemauerten Fenster des Festsaales waren wieder aufgebrochen worden, sodass die im Westen stehende Sonne hereinschien und die Tische und Bänke beleuchtete. Es duftete nach Braten. Über dem Kohlebecken in der Mitte des Raumes wurden wieder Spanferkel geröstet. Die Luft über dem Spieß waberte. Abtropfendes Fett verzischte in der Glut.
Gottfried und Siegfried standen am Eingang des Saales und blickten uns freundlich entgegen, als wollten sie als Gastgeber den ungehobelten Eindruck wettmachen, den ihre Wachen am Tor hinterlassen hatten. Als Einzige trugen sie noch ihre Schwerter.
Gottfried schien die Wandlung vom heidnischen Räuberhauptmann zum Lehnsmann eines christlichen Kaisers auch durch seine Kleidung zum Ausdruck bringen zu wollen: Über seinem Leinenhemd trug er einen seidenen Überwurf mit Stickereien aus Goldfäden, vielleicht ein umgearbeitetes Bischofsgewand, das er irgendwo erbeutet hatte; seinen Kopf zierte ein silberner Stirnreif mit Halbedelsteinen, die er wahrscheinlich von einem gestohlenen Altarkreuz abgerissen hatte. Sein Bart, immer noch mit eingeflochtenen Knochenperlen, war gestutzt und gepflegt. Auf seiner kräftigen Brust ruhten zwei Schmuckstücke an einer Kette: ein Thorshammer und ein Kruzifix. Wenn er sich wirklich einbildete, den neuen Gott durch diesen Beweis der Gleichrangigkeit mit dem alten zu ehren, dann musste man die Katechese wohl als gescheitert betrachten. Die Priester registrierten es mit deutlichem Entsetzen. Ich dagegen musste ein Grinsen unterdrücken, als ich daran dachte, wann ich Gottfried das letzte Mal aus der Nähe gesehen hatte. Es verschaffte mir eine diebische Freude, zu wissen, was er nicht wusste.
«Na, wieder Lust auf ein Tänzchen?», fragte Ratwin, als er meinen Blick bemerkte.
Siegfried dagegen war vor allem darauf bedacht, seinen Reichtum zur Schau zu stellen. Er trug einen kurzärmeligen Kittel mit Seidenborte und eine Pluderhose mit Wickelgamaschen aus mit goldenen Nieten beschlagenem Leder. Beide Arme waren von oben bis unten mit silbernen Armreifen geschmückt, an denen Münzen mit arabischer Prägung baumelten, die bei jeder Bewegung klingelten. Seinen Hals umschloss ein fingerdicker, vorn offener Ring aus kordelartig verdrehten Golddrähten. Die Enden liefen in Schlangenköpfe aus, die sich unter seinem Adamsapfel anstarrten. Auch er hatte Perlen im Bart. Seine Haut war ledrig und braun gebrannt, als hätte er monatelang am Bug eines Schiffes im Wind gestanden, und diese Wildheit stand in einem merkwürdigen Kontrast zu dem überreichen Schmuck, den er trug.
«Willkømmen», sagte Gottfried mit einer angedeuteten Verbeugung, als wir eintraten. In seinem Gesicht lag keine Spur von Spott. Er war sichtlich bemüht, seiner neuen Würde gerecht zu werden.
«Mange tak for indbydelse», sagte Ratwin, den Lupus und ich wie einen Betrunkenen in die Mitte genommen hatten. Und mit einem lässigen Blick zu Erik: «War das richtig so?»
Erik nickte schüchtern. Gottfried neigte erfreut den Kopf.
Der Saal war schon zur Hälfte mit Dänen gefüllt. Fast hundert Augenpaare musterten uns aufdringlich, aber nicht angriffslustig. Ich entdeckte ein paar bekannte Gesichter: Sven Knurhår, unübersehbar in seiner Leibesfülle, Jarl Gorm, den ich bei meiner Flucht aus dem Fenster zu Boden gerissen hatte, dann Amelung, den Friesen, und den lockigen Dolmetscher.
«Mist», sagte Lupus. «Keine Frauen.»
Als alle unsere Männer eingetreten waren, wurden die Türen geschlossen und verriegelt, was für Unruhe und irritierte Blicke sorgte. Instinktiv suchte ich einen Tisch, von dem aus ich an einen der Leuchter springen konnte, um die Festung zur Not auf dem gleichen Weg wieder zu verlassen wie beim letzten Mal. Aber wahrscheinlich hatten sie den Saal nur verrammelt, damit die im Hof versammelten Männer keine gierigen Blicke auf die von uns mitgebrachten Schätze werfen konnten, bevor ihre Anführer entschieden hatten, wie sie zu verteilen waren. Offenbar fürchteten sie, dass die Männer beim Anblick von so viel Gold und Silber auf dumme Gedanken kommen könnten.
Auf dem Podest, auf dem beim letzten Fest die Stühle der Könige gestanden hatten, war eine riesige Waage aufgebaut worden. An einem dicken Eichenbalken hingen an Ketten zwei flache Kisten im Gleichgewicht.
Während wir Ratwin auf einer Bank absetzten, damit er sein Bein hochlegen konnte, gingen Gottfried und Siegfried nach vorn und stellten sich nebeneinander vor der Waage auf. Gottfried gebot mit einem scharfen Händeklatschen Ruhe. Sofort verstummten die Gespräche. Dann ergriff er das Wort, um eine Ansprache an seine Männer zu halten. Seine Augen blitzten, die Zustimmung seiner Zuhörer trug ihn wie eine Welle, er steigerte sich in einen Rausch hinein, redete immer schneller und untermalte seine Worte mit beschwörenden Gesten. Nach einem Scherz, bei dem er mit dem Schwert in Richtung der Priester zeigte und der einen Sturm von Gelächter auslöste, wies er unter tosendem Applaus auf das Land jenseits der Fenster. Man musste kein Dänisch beherrschen, um zu verstehen, dass hier nicht der Frieden und die Rückkehr in die Heimat beschworen, sondern die Gier auf Beute und Land angestachelt wurde, als sei das, was ihnen gleich übergeben würde, erst der Anfang. Ich blickte mich um und sah in den Gesichtern unserer Leute, dass sie dasselbe dachten wie ich: Diese Schätze würden keinen Frieden bringen.
Als der Jubel der Dänen sich gelegt hatte, sprang Amelung auf das Podest und wandte sich an uns. Zuerst hieß er alle Gäste im Namen von Gottfried und Siegfried noch einmal willkommen. Die beiden Könige seien glücklich über den schnellen Friedensschluss, nachdem beide Seiten so tapfer gekämpft hätten. Alle Feindschaft solle fortan begraben sein. Man hoffe auf ein entspanntes und ausgelassenes Fest.
«Dass ihr entspannt und ausgelassen seid, bezweifelt keiner», murmelte Ratwin.
Es sei sicherlich im Interesse aller Anwesenden, so fuhr Amelung fort, wenn man zuerst die Formalitäten erledigen und dann zum zwanglosen Teil der Veranstaltung übergehen werde. Weshalb er die Gäste nun auffordere, die Kisten mit – er machte eine kurze Pause, suchte wohl nach einer Bezeichnung, die für uns möglichst wenig demütigend klingen sollte –, mit der Zuwendung nach vorn zu tragen.
Während die Kisten auf das Podest geschleppt und neben der Waage abgestellt wurden, wechselte Amelung ein paar Sätze mit den beiden Königen, dann richtete er erneut das Wort an uns. Man werde nun also den Schatz wiegen, selbstverständlich nicht aus Misstrauen gegenüber dem Kaiser, an dessen Redlichkeit man keinen Zweifel hege, sondern nur um die Übergabe der korrekten Menge an Silber und Gold vor Zeugen zu bestätigen. Um die Prozedur nicht unnötig in die Länge zu ziehen, werde man nur das Gesamtgewicht des Schatzes prüfen. Einer der Männer habe sich bereit erklärt, als Prüfgewicht auf die Waage zu steigen: der allseits bekannte und beliebte Sven Knurhår.
Der Genannte mühte sich auf das Podest, kaum dass sein Name gefallen war. Es war das erste Mal, dass ich ihn aufrecht stehen sah, und dort oben wirkte er noch gewaltiger. Er war nicht nur unglaublich fett, sondern auch unglaublich groß. Die Dänen begleiteten seinen Auftritt mit vereinzelten Pfiffen und Applaus.
Sven Knurhår, fuhr Amelung fort, sei mit seiner Körpermasse von genau vierhundert Pfund einschließlich der Rüstung gewissermaßen ein lebendes Eichmaß. Das korrekte Gesamtgewicht lasse sich auf diese Weise sehr leicht ermitteln: drei Knurhåre gleich dem gesamten Inhalt aller Kisten, ein halber Knurhår gleich dem Gewicht des Goldes allein. Alle Anwesenden seien nun zum Mitzählen aufgefordert. Um die Zeit nicht zu lang werden zu lassen und die Stimmung zu heben, würde währenddessen Bier ausgeschenkt werden. Vielleicht komme man sich dabei auch ganz zwanglos ein bisschen näher. Für das anschließende Bankett habe man die herrlichsten Köstlichkeiten vorbereitet. Bei Fragen und Wünschen solle man sich, ohne zu zögern, an ihn wenden. Es werde den geschätzten Gästen an nichts fehlen.
«Für eine Dreiviertelmillion Denare würde ich auch nichts anderes erwarten», kommentierte Ratwin.
Amelung forderte nun Sven Knurhår mit einer Geste auf, in die linke Waagschalen zu steigen. Die Waage knarrte und ächzte. Sven Knurhår grinste zufrieden, als wäre ein Körpergewicht von vierhundert Pfund eine besondere Leistung.
Die Könige öffneten nun den Deckel der ersten Kiste und schütteten den Inhalt in die rechte Waagschale. Metallisches Prasseln und Scheppern füllte die Luft. Ein lustvolles Aufstöhnen ging durch den Saal. Im einfallenden Licht glitzerte und funkelte das Silber wie ein verschwenderischer Wasserfall. Ich sah Münzen über Münzen, dazwischen halbe und ganze Barren, Plättchen und Streifen aus Silberblech, Ringe, Ketten, Armreifen, Fibeln, Spangen, Amulette sowie Patenen, Kelche und Kerzenleuchter. Die Dänen johlten und klatschten. Ein paar von ihnen gingen durch die Reihen und verteilten Bier. Gauzbert griff sich gleich fünf Krüge und reichte vier davon an uns weiter.
Eine zweite Kiste wurde ausgeschüttet. Die dritte enthielt Gold und wurde beiseitegestellt, dann folgte die vierte, wieder mit Silber. Als die fünfte Kiste fast geleert war und der blitzende Haufen den Gegenwert einer mittelgroßen Abtei erreicht hatte, hob Sven Knurhår, begleitet von Pfiffen und rhythmischem Händeklatschen, endlich vom Boden ab.
Diese Prozedur wiederholte sich noch zweimal, dann wurde das Gold separat mit Silber aufgewogen und das Gewicht beider Mengen wiederum mithilfe von Sven Knurhår einer Gegenprobe unterzogen. Die beiden Könige standen daneben, Gottfried hatte immer noch sein Schwert in der Hand. Ich musste an die von Titus Livius überlieferte Anekdote vom Keltenkönig Brennus denken, der in einer ganz ähnlichen Situation seine Waffe in die Waagschale geworfen hatte, um die besiegten Römer noch ein bisschen mehr zu erniedrigen. Doch Gottfried steckte sein Schwert in die Scheide und verkündete mit einem Kopfnicken, dass es nichts zu beanstanden gab. Unter abschließendem Jubel wurde der Schatz wieder verstaut. Silber und Gold wurden wie Kies in die Kisten geschaufelt und in einen Nebenraum getragen.
Gauzbert, Lupus und ich waren mittlerweile leicht angetrunken, und das war auch gut so, denn in diesem Zustand ließ sich die Ausgelassenheit unserer Gastgeber besser ertragen. Amelung hatte inzwischen begonnen, unseren Leuten ihre Plätze zuzuweisen. Als er mich entdeckte, strahlte er über das ganze Gesicht. Er stieß seinen Krug gegen meinen.
«Du hier? Ich wusste doch, dass wir uns wieder über den Weg laufen würden.»
Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Er sah mich fragend an, dann wanderte sein Blick zu Lupus, dann wieder zurück zu mir, und er begriff. «Nein, oder? Du warst der Tanzbär?»
Ich nickte, immer noch grinsend.
Amelung lachte laut auf, dann riss er sich zusammen, blickte sich um und beugte sich etwas näher zu mir heran. «Wir reden gleich weiter. Aber es ist besser, wenn Ivars Name dabei nicht fällt.»
Kurz darauf hatten alle Anwesenden Platz genommen. Während die Spanferkel von den Spießen gezogen und aufgeschnitten wurden, trugen Bedienstete Platten, Teller und Schüsseln mit weiteren Köstlichkeiten herein: noch mehr Fleisch, dazu Gemüse, Obst, Brot und fettige Tunken. Weitere Krüge wurden durchgereicht. Amelung hatte Gauzbert, Lupus, Ratwin, Erik und mich an einen Tisch mit Sven Knurhår und ein paar anderen Dänen gesetzt. Ratwin saß am Ende des Tisches, sein Bein ruhte auf einem Schemel.
Auch unsere anderen Begleiter waren in kleinen Gruppen zwischen den Dänen verteilt worden. Entweder sie wollten uns trennen, um uns besser unter Kontrolle zu haben, oder sie hofften darauf, dass es wirklich zur Verbrüderung kommen würde, wenn erst genügend Bier geflossen war.
Tatsächlich lockerten sich die finsteren Mienen ein bisschen. Unsere Priester hatten Ehrenplätze gegenüber den beiden Königen bekommen, und Gottfried und Siegfried nötigten ihnen mithilfe des lockigen Übersetzers ein Gespräch auf. Mit verkniffenen Gesichtern gaben sie Antwort. Als ich das Trinkgefäß von Siegfried sah, stutzte ich: Es war ein goldener Kelch, der zum Klosterschatz von Prüm gehörte. Abt Markward hatte ihn vor dreißig Jahren von einer Pilgerfahrt nach Rom mitgebracht. Und wahrscheinlich würde der Kelch nun früher oder später in einen Schmelzofen gekippt werden, um sich anschließend in einen Halsreif für einen der dänischen Anführer zu verwandeln.
Während wir aßen, trat ein Sänger auf und trug ein paar dänische Weisen vor. Erik übersetzte uns den Text. Er handelte von ihren Göttern und deren Abenteuern: von Thor, der auf einer Hochzeitsfeier als Braut verkleidet zur Verwunderung der Gäste einen ganzen Ochsen verzehrt hatte, von Freya, die sich mit einem Gewand aus Falkenfedern in die Lüfte erheben konnte, und von Loki, der ein Tauziehen mit einer Ziege veranstaltet und sich dafür deren Bart an den Hodensack gebunden hatte – alles in allem ein unterhaltsames Pantheon, doch wie man auf dieser Grundlage eine einigermaßen nachvollziehbare Glaubenslehre aufbauen wollte, war mir ein Rätsel.
Als der Sänger von der Bühne abtrat, richtete Sven Knurhår das Wort an mich. Ich ließ den Redeschwall über mich ergehen, dann sagte Erik: «Er will, dass du ihm von Gott erzählst. Wenn du ihn überzeugst, lässt er sich vielleicht taufen.»
Ich musste lachen. «Das hat er in Aachen auch schon behauptet.»
Sven Knurhår verzichtete darauf, sich meine Worte übersetzen zu lassen, und redete stattdessen weiter auf mich ein. Erik schien froh zu sein, dass es etwas für ihn zu tun gab, und fasste für mich zusammen, was Sven Knurhår sagte.
Den trieb die Kreuzigung um. Ob man diesen Jesus wirklich an den Händen angenagelt habe, wollte er wissen.
«Ja», antwortete ich. «Daran besteht überhaupt kein Zweifel.»
Wie das denn gehalten habe, fragte Sven Knurhår. Er habe in England einmal einen Priester gekreuzigt, um es auszuprobieren. Durch das Körpergewicht seien Haut und Sehnen gerissen, und der Priester sei immer wieder nach vorn gekippt. Eine Riesenschweinerei, als Hinrichtungsmethode völlig ungeeignet. Ob die Römer die Nägel vielleicht doch nicht durch die Hände getrieben hätten, sondern unterhalb des Handwurzelknochens zwischen Elle und Speiche? Bei diesem englischen Priester sei es jedenfalls auf diese Weise schließlich geglückt. Aber vielleicht sei der ja auch einfach nur zu fett gewesen. Ob Jesus übrigens dick oder dünn gewesen sei?
«Eher schlank», sagte ich. Ein beleibter Erlöser schien mir nicht recht zu den Berichten der Evangelien zu passen. Umso besser, wenn sich das auch in Sven Knurhårs Vorstellungen von einer sachgemäß durchgeführten Kreuzigung einfügte.
Der murrte etwas; ein wohlgenährter Jesus wäre ihm wohl lieber gewesen. Doch er ließ es dabei bewenden und fragte stattdessen weiter: ob es denn nun stimme, dass Jesus zuerst tot und nach ein paar Tagen wieder lebendig gewesen sei.
«Darin besteht ja das Wunder der Auferstehung», bestätigte ich.
Dann sei Jesus also ein Untoter gewesen? Und wenn ja, was denn daran so besonders sein solle? Sein Onkel Halfdan Stålorm zum Beispiel sei auch von den Toten auferstanden. Einen Monat lang hätten sie den wandelnden Leichnam mit Blindschleichen und Teichmolchen gefüttert, weil der das so verlangt hatte. Oder Hallbjörn Heringshaut, sein Schwager, der eine Zeit lang jede Nacht ohne Kopf durch den Kamin herabgeschwebt sei. Und er kenne noch mindestens ein Dutzend weitere Fälle dieser Art. Sie seien zurückgekommen, um die Hinterbliebenen zu piesacken, weil ihnen das Grab oder die Beigaben nicht passten, weil ihnen die Sklavin nicht mehr gefiel, mit der sie bestattet worden waren, oder weil sie mit dem Kopf in die falsche Richtung zu liegen gekommen waren. Die einen hätten noch offene Rechnungen mit irgendwelchen Verwandten, die anderen müssten unbedingt verschlüsselte Botschaften loswerden. Jedenfalls wimmele die Welt von Untoten. Was, bitte schön, sei also so besonders an diesem Jesus?
«Er ist gestorben, um uns von unseren Sünden zu erlösen», sagte ich, und noch während ich es aussprach, war mir schon klar, dass Sven Knurhårs Bekehrung zum Christentum kein so einfaches Unterfangen sein würde.
Was denn das nun schon wieder heißen solle? Wenn er die Priester richtig verstanden habe, dann zählten zu diesen Sünden solche Dinge wie Völlerei, Trunkenheit, Prasserei, Müßiggang und Unkeuschheit, also mehr oder weniger alles, was Freude bereite oder zur Entspannung beitrage. Ob er das mit der Erlösung richtig verstehe? Jesus habe sich kreuzigen lassen, damit seine Anhänger all das ungestraft tun dürften? Und wenn ja, warum er es nicht gleich einfach erlaubt hätte, anstatt sich vorher sinnloserweise an irgendwelche Balken nageln zu lassen?
Die Frage war durchaus berechtigt, aber sie berührte theologische Grundfragen, denen man sich ohne eine tiefere Beschäftigung mit der christlichen Glaubenslehre kaum würde nähern können. Um es möglichst verständlich auszudrücken, sagte ich: «Es geht um das Bekenntnis. Wer seine Sünden aufrichtig bereut, dem werden sie vergeben, ganz gleich, wie viele er begangen hat, wie schwerwiegend sie waren und wann er zu Gott gefunden hat.» Ich dachte, ihm auf diese Weise das Tor zum Glauben öffnen zu können. Doch er verstand es als Einladung, sich durch die Hintertür zu schleichen.
Wirklich? Ganz gleich, wann er bereue? Zur Not auch noch auf dem Totenbett?
Das zu verneinen, hätte bedeutet, einen Grundpfeiler des Glaubens umzureißen. «Ja», seufzte ich. «Zur Not auch noch auf dem Totenbett.»
Dann sei ja noch Zeit, befand Sven Knurhår. Wenn er jetzt also weiter fresse, saufe, prasse, faulenze und herumhure und das Ganze dann in seiner letzten Stunde bekenne und bereue, dann komme er ins Paradies?
«Grundsätzlich ja», sagte ich zögerlich. Zwölf Jahre lang hatte ich mich mit den größten Gelehrten unserer Zeit brieflich über Vergebung und Erlösung ausgetauscht, und jetzt drängte mich ein Heide, der noch nicht einmal lesen konnte, mit seinen Fragen an die Wand. Seine ungenierte Bauernschläue war bemerkenswert. Und Sven Knurhår machte unerbittlich weiter.
Ob das Paradies so etwas sei wie Walhalla, wollte er wissen. Ob es dort genug zu trinken gebe? Und wie es mit den Weibern stehe? Ob die da in dem körperlichen Zustand angeliefert würden, in dem sie gestorben seien? Oder, schlimmer noch, halb verwest? Oder als klapperige Gerippe?
Es wurde immer komplizierter. Hätte ich ihm jetzt mit Paulus und der Überkleidung und Verklärung des sterblichen Leibes durch den geistigen kommen sollen? Oder mit Augustinus, nach dessen Ansicht die Seele das Abbild des unversehrten Körpers trug und bei der Auferstehung mit diesem wiedervereinigt wurde?
Wen er da überhaupt antreffen werde, im Paradies, drängte Sven weiter. Auf die Gesellschaft von Halfdan Stålorm oder Hallbjörn Heringshaut mit seiner garstigen Alten könne er gern verzichten. Aber sein Bruder Kjeld, der im Kampf gegen die Christen bei Saucourt gefallen sei, mit dem würde er schon gern noch einmal den einen oder anderen Becher leeren. Und sein lieber Cousin Sigurd, der sich beim Eintreten einer Kirchentür in Cambrai an einem Scharnier geschnitten habe, an einer Blutvergiftung gestorben sei und sicherlich keine seiner sogenannten Sünden bereut habe? Der würde dann ja wohl auch nicht im Paradies anzutreffen sein. Oder?
«Nein.»
Na also.
Sven Knurhår bedankte sich für die Auskünfte und versprach aus reiner Höflichkeit, sich die Sache mit der Taufe noch einmal zu überlegen. Jetzt aber sei es Zeit für ein neues Bier.
Der Nachmittag ging in den Abend über. Es gelang mir tatsächlich, meinen Ärger über die Vertragsbedingungen und deren Bedeutung für meine weiteren Pläne auszublenden. Das Essen war reichlich, und die Dänen benahmen sich uns gegenüber freundlich und zuvorkommend. Der verletzte Ratwin wurde geradezu fürsorglich behandelt. Lupus und Gauzbert hatten ohnehin keinerlei Scheu, mit den ehemaligen Gegnern zu trinken. Erik taute auf, er übersetzte hin und her und vergaß seine Angst. Die Könige überreichten den Priestern unter dem Applaus der ganzen Tischgesellschaft zwei Thorshämmer an Lederbändern. Die trauten sich natürlich nicht, die Gabe zu verweigern. Mit säuerlichen Gesichtern ließen sie sich die Amulette umhängen und pressten ein paar Dankesworte heraus. Sven Knurhår kommentierte, wenn jeder alles glaube, dann glaube ja niemand das Falsche. Vielleicht ergebe sich auf diese Weise ja sogar die Möglichkeit, nach dem Tod zwischen Walhalla und dem Paradies hin und her zu wechseln? Was denn wohl die Evangelien dazu sagten?
Zwischendurch kam Amelung an unseren Tisch und ließ sich in allen Einzelheiten von mir berichten, was sich im Frühjahr nach meiner Abreise aus Aachen ereignet hatte. Als dann auch noch Gorm erschien und mir zu meiner tollkühnen Flucht aus dem Festsaal gratulierte, hätte ich fast selbst geglaubt, dass wir nun alle Freunde geworden waren. Aber natürlich waren wir das nicht.
Als die Dunkelheit hereinbrach, wurden Fackeln und Kerzen entzündet. Die Dänen waren inzwischen allesamt schwer betrunken und forderten unsere Männer zu allen möglichen Wettkämpfen heraus. Es wurde um die Wette gegessen und getrunken. Wer seine Blase leeren musste, erledigte das am Fenster. Als einer der Dänen einem unserer Leute im hohen Bogen ins Gesicht kotzte, wäre es fast zu einer Prügelei gekommen, die aber durch einen neuerlichen Auftritt des Sängers abgewendet werden konnte. Er trug ein Lied von Odins Heldentaten vor, bei dem er, offenbar einem spontanen versöhnlichen Einfall folgend, den nordischen Gott und seine Gefolgsleute durch den Erlöser und seine Jünger ersetzte. Amelung übersetzte: Jesus fing eine riesige Seeschlange mit einem Stierkopf als Köder, schwatzte einem Riesen, dessen Mutter neunhundert Köpfe hatte, einen Braukessel ab und erweckte die Ziegen, die seinen Wagen gezogen hatten, aus Haut und Knochen wieder zum Leben, nachdem er sie geschlachtet und aufgefressen hatte. Es wurde ein bunter Abend.
Als die ersten Köpfe auf die Tische sackten, war es Zeit für uns, das Fest zu verlassen. Ratwin schickte Erik zu den beiden Königen, um unseren Aufbruch anzukündigen und sie zur Herausgabe der Waffen und der Gefangenen aufzufordern.
Auf einmal war ich sicher, dass es jetzt Ärger geben würde. War den Dänen wirklich zu trauen? Ich sah Gottfrieds und Siegfrieds scheinheiliges Grinsen schon vor mir: Welche Waffen? Welche Gefangenen? Welche Abmachung?
Doch Gottfried und Siegfried nickten nur, winkten ein paar von ihren Gefolgsleuten heran und gaben mit schwerer Zunge ein paar Anweisungen.
Unter Johlen und Pfeifen verließen wir den Saal.
«Danke für den gelungenen Abend», sagte Ratwin zu Amelung, als er, wieder von Lupus und mir gestützt, zur Tür ging.
«Jederzeit wieder», antwortete der Friese verbindlich, ohne den ironischen Unterton zu erwidern. Dann entriegelte er die Tür und begleitete uns hinaus.
Der Hof war von Lichtern erhellt. Wie beim letzten Mal hatte der größte Teil der Dänen unter freiem Himmel gefeiert. Jetzt rannten alle zum Eingang des Saales, um endlich einen Blick auf die Schätze zu werfen. Das Gedrängel war so groß, dass wir kaum durchkamen.
Gottfried und Siegfried waren uns gefolgt. Während einer ihrer Leute im Keller verschwand, lallten sie noch ein paar Abschiedsworte. Die Kiste mit den Waffen stand immer noch da. Einer nach dem anderen nahmen wir Schwerter, Messer und Dolche wieder an uns. Die meisten unserer Männer waren genauso betrunken wie die Dänen, einige schafften es noch nicht einmal mehr, die Gurtschnallen zu schließen. Einer übergab sich in die leere Kiste, kaum dass die letzte Waffe herausgenommen worden war.
Als mich gerade zum Gehen wenden wollte, kam Sven Knurhår angerannt. Ich konnte kaum glauben, was er in der Hand hielt: das Schwert, das ich in Prüm einem toten Dänen abgenommen und bei meinem nächtlichen Besuch in Asselt am Strand fallen gelassen hatte, nachdem die Dänen mich erwischt hatten. Mit einer feierlichen Geste und vielen Worten überreichte er es mir nun zurück.
«Das ist das Schwert, das du ihm in Aachen für seine Auskünfte gegeben und ihm später wieder gestohlen hast», übersetzte Erik. Gauzbert und ich tauschten einen Blick. Gauzbert grinste.
«Eigentlich gehört es ihm, aber er gibt es dir zurück, weil du ihn in Roermond verschont hast», fuhr Erik fort.
Ich war gerührt. Sven Knurhår schlug mir so fest auf die Schulter, dass ich in die Knie ging. Dann lachte er laut, schüttelte mir die Hand, kehrte in den Saal zurück und ließ mich mit den beiden Schwertern stehen.
Und dann kamen die Gefangenen.
In einer langen Kette trotteten sie aus dem Keller, etwa dreißig Männer, Frauen und Kinder. Die meisten von ihnen blickten lethargisch vor sich hin, zermürbt von Dunkelheit und Entbehrungen, aber nicht abgemagert oder krank. Wenn man bedachte, dass sie mehrere Monate lang in diesem Keller gesessen hatten, waren sie zumindest körperlich in guter Verfassung. Und dennoch schienen sie nicht begreifen zu können, dass ihr Leiden nun ein Ende haben sollte. Niemand jubelte, niemand lachte, als fürchteten sie, dass die Dänen es sich noch einmal anders überlegen könnten.
Meine Augen suchten die Gesichter ab. «Wer von denen ist Osmund?», fragte ich Amelung.
«Osmund? Der Sohn von diesem Bischof?», fragte er. Auch er ließ seinen Blick über die Gruppe schweifen, die langsam näher kam. «Der da.» Er zeigte auf einen etwa sechzehnjährigen Jungen mit stumpfem Blick und dünnem Bartflaum, der in der Mitte ging.
Ich bahnte mir einen Weg zu dem Jungen. Amelung folgte mir.
«Bist du Osmund?», fragte ich.
«Er spricht nicht», sagte Amelung.
«Dann ist er es», sagte ich erleichtert.
Der Junge nickte. War da ein winziges Lächeln um seine Mundwinkel?
Ich nahm seine Hand. Er ließ es geschehen. Vielleicht könnte ich ihn Franco wenigstens persönlich übergeben, wenn ich ihn schon nicht selbst befreit hatte. Möglicherweise würde sich der Bischof im Überschwang von Erleichterung und Glück dazu herablassen, die Erfüllung meines Anliegens doch noch in Erwägung zu ziehen. Vielleicht hatte ich noch eine Chance, wenn ich Osmund nach Lüttich brachte und meinen Beitrag zu seiner Befreiung ein bisschen aufbauschte, ohne dass jemand widersprechen konnte.
Und so verließ unsere ganze Gruppe mit den Gefangenen die Festung, kaum noch beachtet von den Dänen, die sich auf der Treppe und vor dem Saal des Pfalzbaus drängten. Unsere Männer nahmen die Befreiten in die Mitte, Gauzbert übernahm meinen Platz an Ratwins Seite. Wir passierten den Rammbock, dem jemand den Helm wieder abgenommen hatte, dann die zugeschüttete Grube, dann das Tor. Auch die Wachen behelligten uns nicht. Stattdessen blickten sie sehnsüchtig zum Saalbau hinüber. Nachdem wir die Durchfahrt passiert hatten, wurde das Tor geschlossen.
Als wir über das freie Feld vor der Mauer wanderten, schwankten und trotteten, waren erste Laute der Erleichterung zu hören. Die Priester stimmten ein halbherziges Tedeum an, aber niemand fiel ein.
Vor unserem Lager stand eine große Menschenmenge im Schein zahlloser Fackeln. Im Näherkommen erkannte ich Arnulf und Heinrich zu Pferd. Der Kaiser war nicht zu sehen.
Wir überquerten den Plankenweg im Flussbett. Osmunds Hand lag in meiner wie ein totes Reptil, trocken und schlaff. Sein Gesicht war mager und blass, in diesem immer irgendwie unvorteilhaften Zustand zwischen Kindheit und Erwachsenenleben. Sein Kopf bewegte sich nicht, aber die Augen schweiften unruhig hin und her.
Als wir die Böschung hinaufstiegen, löste sich ein Mann aus der Gruppe vor dem Lagertor und trat vor. Es war Franco von Lüttich, angetan mit einem schmucklosen Kittel, als wäre ihm daran gelegen, dass man ihn nicht als den erkannte, der er war.
Verdammt, dachte ich. Er würde seinen Sohn vor aller Augen in die Arme schließen, sich bei Arnulf und Heinrich bedanken, vielleicht noch bei den Priestern, die die Übergabe ausgehandelt hatten, und dann würde er mit Osmund von dannen ziehen.
Francos Blick schweifte suchend über unsere Gruppe. Er suchte immer noch, als ich mit dem Jungen fast schon vor ihm stand.
«Franco», sagte ich. «Hier ist dein Sohn.»
Der Junge riss die Augen auf, als er das hörte. Einen Augenblick später entzog er mir seine Hand, machte einen Satz zur Seite und rannte am Lagerwall entlang davon, als wäre der Teufel ihm auf den Fersen. Niemand folgte ihm. An einem der Türme bog er um die Ecke und war nicht mehr zu sehen.
Francos Gesicht war wie versteinert.
«Das war nicht mein Sohn», sagte er.