2. Recon Battalion, Hauptquartier

FOB Winchester

Provinz Zabul

Südöstliches Afghanistan

15:55 Uhr

Am nächsten Tag

Die Spannung war mörderisch. Der ITler von S-Two stellte die Satellitenverbindung mit der üblichen Verachtung her, die ITler gegenüber technischen Analphabeten an den Tag legen, obwohl er wie das gesamte Bataillon wusste, dass Ray und Skelton angegriffen worden waren. Doch das hatte keine Auswirkung auf die Schnelligkeit und Sicherheit, mit der seine Finger über die Tasten flogen, diese spezielle Informatikerfähigkeit, die den Offizieren immer mysteriös und unbegreiflich schien. So war er eben.

Während der ganzen langen Nacht hatte es keinen Funkkontakt gegeben. Entweder war Skeltons HF-90M von einer Kugel verschrottet worden, in irgendeinen Graben gefallen, oder er hatte sich mitten in einem Kampfeinsatz eine Ruhepause gegönnt, wie Marine-Corps-Funkgeräte es oft taten. Wer wusste das schon? Die Funker hatten die ganze Nacht versucht, Two-Two auf der richtigen Frequenz sowie auf den Notfallfrequenzen zu erreichen, auf Air-Force-Frequenzen, sogar auf denen der afghanischen Armee. Kein einziger verdammter Pieps.

Das Bild tauchte auf, die grau-grün-schwarz-braune surreale Realität, Zabul aus dem Weltraum, die von der Station W-CIA in der schönen Innenstadt von Langley, Virginia, um die halbe Welt in einen Raum voller müder Marine-Corps-Offiziere gebeamt wurde. Offiziere, die zu viel rauchten, sich zu viele Sorgen machten und zu wütend waren.

Das Kreuz bewegte sich frei umher, so wie immer. Es schien einem Suchmuster zu folgen, aber in Wahrheit war es die Kameralinse, die sich weit oben im Himmel bewegte, 35 Kilometer über dem Hindukusch. Sie suchte nach der Frequenz des GPS-Chips und des Senders, die im Griff von Rays Gewehr steckten.

Das Kreuz schwebte hierhin und dorthin, schien sorglos dahinzutreiben vor dem Hintergrund der vorbeifliegenden zerklüfteten Landschaft von Zabul – hauptsächlich Staub, unterbrochen von Felsen und Bergkämmen, bis auf die Gegenden, in denen die Felsen und Bergkämme von Staub unterbrochen wurden.

»Verflucht«, rief Colonel Laidlaw, der seine Marlboro Nummer 673 zur Hälfte geraucht hatte. »Machen Sie, dass das Ding schneller sucht, Lance Corporal.«

Der Lance Corporal antwortete nicht, nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil er wusste, dass es der Stil des Colonels war, kindlich-komische Anweisungen zu geben, um alle aufzuheitern, die sich in Hörweite befanden.

Und dann …

»Ziel erfasst! Ziel erfasst!«, rief der Lance Corporal.

Wie eine leuchtende Meldung im unteren Quadranten des Bildschirms verdeutlichte, hatte das Frequenzen jagende Dingsbums im Weltraum das Signal von Whiskey Two-Two geortet und zwischen seine elektronischen Zähne geklemmt. Das Terrain sah aus wie – nun, es sah aus wie jedes andere Terrain in Zabul.

»Ist er das?«, fragte der Executive Officer. »Könnte auch irgendein Taliban-Wichser sein, der gerade ein schönes neues Gewehr gefunden hat.«

»Wo ist das, S-Two?«, fragte der Colonel ohne jeden Anflug von Humor. »Ich brauche einen Standort.«

»Ja, Sir.« S-Two las die Satellitenkoordinaten ab und versuchte, sie auf die topografische Karte zu übertragen, die er auf einem Tisch festgepinnt hatte. Er führte rasch ein paar Berechnungen durch. »Nach meiner Einschätzung ist er etwa elf Kilometer östlich des Angriffsorts und nimmt immer noch Kurs auf Qalat, das er aus dem Westen erreichen wird.«

»Jesus, Maria und Josef«, staunte der Executive Officer. »Er hat Ziegen dabei.«

Es stimmte. Irgendwie war es den Überlebenden des Ziegenmassakers gelungen, Ray in den Flussbetten, Serpentinen und Felsspalten Zabuls aufzuspüren und sich wieder um ihn zu versammeln. Ja, er musste es sein – eine leicht leuchtende Figur in der Mitte des nun kleineren, aber immer noch genauso nervtötenden Ziegentrupps, der sich über einen staubigen Pfad bewegte.

»Dieser Filipino ist ganz schön zäh«, stellte S-Two fest.

»Ich glaube, er hat das Blut von Konquistadoren und vielleicht auch ein bisschen Kamikaze-DNA in sich. Die Cruise Missile kann nichts aufhalten«, sagte der Lieutenant von Rays Abteilung.

»Schauen Sie mal!«, rief S-Two. »Ist es das, was ich glaube?«

Er zeigte auf etwas.

Am unteren Rand des Bildschirms, etwas versteckt hinter einer Digitalanzeige, auf der reihenweise Zahlen vorbeirauschten, die niemand im Raum verstand, nicht einmal die ITler, bahnten sich sechs leuchtende Gestalten ihren Weg durch die Landschaft. Sie hatten sich in einer klassischen taktischen Rautenformation aufgestellt, mit einem Anführer und zwei Flankierern, die jeweils 100 Meter in jede Richtung entfernt waren. Sie bewegten sich mit leichter, geübter Präzision.

»Die jagen ihn«, sagte jemand.

»S-Two, geben Sie mir die Distanz.«

S-Two führte Berechnungen durch und erwiderte: »Sie sind etwa eineinhalb Kilometer entfernt. Und sie sind auf Angriffskurs. Ich glaube nicht, dass sie Spuren lesen. Zum Spurenlesen sind sie zu schnell.«

»Wie zum Teufel haben die’s geschafft, über Nacht an ihm dranzubleiben?«

»Weiß ich nicht, Sir.«

»Diese Scheißziegen halten ihn auf.«

»Aber wenn er die Ziegen nicht hat, fällt er auf. Er muss sie bei sich behalten, und das weiß er auch.«

»S-Two, holen Sie Ihren Kontaktmann von der Agency an den Hörer und finden Sie raus, ob wir einen Hellfire-Angriff auf die Typen da autorisiert kriegen.«

»Ich kann’s versuchen, Sir, aber die sind heutzutage ziemlich geizig mit ihren Hellfires.«

S-Two machte den Anruf. Es war offensichtlich, dass er nicht besonders gut verlief. Als die Frustration den Höhepunkt erreichte, übernahm der Colonel.

»Hier ist Colonel Laidlaw. Mit wem spreche ich, bitte?«

»Sir, hier ist McCoy.«

Der Colonel sah McCoy vor seinem geistigen Auge: 35 Jahre alt, rothaarig, aus Alabama, die rechte Hand des Missionsleiters, ein ehemaliger Delta-Kommandosoldat.

»Hören Sie, McCoy, ich habe hier einen Scharfschützen, der ganz allein da draußen ist, und sechs Feinde bewegen sich auf ihn zu. Sie können es sich über Satellit selbst ansehen.«

»Wir sehen es in diesem Moment, Colonel. Das ist die Enthaupter-Mission, richtig?«

»Ja. Schauen Sie, ich will eine Hellfire mit Splittersprengladung von einer Drohne auf diese Kerle abfeuern, bevor sie noch näher kommen oder sich zu weit voneinander entfernen für so einen Angriff. Fliegt eine Ihrer Reaper irgendwo in dem Gebiet herum?«

»Sir, ich muss dieses Gesuch ablehnen. Tut mir leid wegen Ihres Jungen, aber unsere Richtlinie lautet, dass wir nur identifizierte Ziele angreifen, und das auch nur mit Zustimmung aus Langley. Ich kann das einfach nicht tun.«

Der Colonel überzog den Kerl noch ein paar Minuten lang mit ausgesuchten Marine-Corps-Schmähungen, aber McCoy wollte – konnte – nicht nachgeben, und der Missionsleiter hielt sich gerade in irgendeinem Dorf auf, wo er versuchte, das afghanische Volk auf seine Seite zu bringen, indem er ihnen Zahnhygiene, konstitutionelle Demokratie oder sonst etwas beibrachte.

»Okay«, sagte der Colonel zu S-Two und gab ihm das Telefon zurück. »Versuchen Sie’s weiter. Wenden Sie sich an 113 Wing in Ripley. Vielleicht können wir einen Apache schicken.«

»Ich versuch’s, Sir, aber ich denke nicht, dass ein Apache rechtzeitig dort wäre. Und ich weiß auch nicht, was die Kommandoführung dazu sagen wird, wenn wir mit so einem Krachmacher da rumfliegen.«

»Verdammter Mist«, fluchte der Colonel und sah weiter zu, wie die Jäger sich ihrer Beute näherten.