Steel Brigade Armory

Danielstown

South Carolina

3:05 Uhr

Nichts. Er klopfte noch einmal lauter an. Nun hörte er, wie sich drinnen etwas regte. Jemand bewegte sich auf einer Metalltreppe.

»Machen Sie, dass Sie wegkommen«, sagte eine Stimme hinter der Stahltür.

»Colonel Chambers?«

»Ich sagte: Verschwinden Sie. Kommen Sie morgen wieder. Ab elf Uhr bin ich hier, Freundchen.«

»Ich muss mit Ihnen reden.«

Selbst durch die Tür war das Geräusch nicht zu verwechseln: Eine Schrotflinte wurde durchgeladen.

»Treib’s nicht zu weit, Freundchen. Durch diese Tür willst du nicht kommen. Würde dir leidtun. Komm morgen wieder, verdammt noch mal.«

»Sir, ich werde meinen Führerschein durch den Briefschlitz schieben. Dann gehe ich ein paar Schritte zurück, während Sie sich überlegen, ob Sie mit mir sprechen wollen.«

»Verflucht noch mal, ich hab gesagt …«

Aber Bob fummelte den Führerschein aus seiner Brieftasche, schob ihn hindurch und trat zurück.

Aus dem Gebäude war kein Laut zu hören.

Schließlich wurde die Tür geöffnet und ein Mann kam zum Vorschein, der genauso aussah, wie man sich einen Colonel der Marineinfanterie im Ruhestand vorstellte: stämmig, Bürstenschnitt, ein von Hanteltraining gestählter Körper unter dem Karohemd, Ende 40 oder Anfang 50, eine Schrotflinte in der Hand und eine Brille im kantigen Gesicht.

Womit man eher nicht gerechnet hätte, war die Liebe in diesen kantigen Gesichtszügen.

Der Strahl einer Taschenlampe fiel auf den vor der Tür stehenden Bob.

»Gottverdammt«, staunte Chambers. »Sie sind’s wirklich, was?«

»Sieht ganz so aus«, erwiderte Swagger.

»Herr im Himmel.«

Der Colonel, der sich nun in ein 14-jähriges Mädchen bei einem Justin-Timberlake-Konzert verwandelt hatte, rannte zu ihm und hätte ihn beinahe umarmt. Er war sowohl beeindruckt als auch ehrfürchtig. Es schien ihm schwerzufallen, die richtigen Worte zu finden. Dann drang ein Schwall unzusammenhängender Bob-Liebe aus ihm hervor, und er packte den alten Scharfschützen und drückte ihn an sich.

»Colonel Chambers«, sagte Bob peinlich berührt, »ich weiß das sehr zu schätzen, Sir, glauben Sie mir, aber ich bin nicht hier, um über alte Zeiten zu reden. Es geht mir um die neue Zeit, jetzt und hier. Ich arbeite derzeit für die Regierung.«

»Sie sind jetzt beim FBI?«

»Sozusagen, Sir.«

»Okay, kommen Sie, kommen Sie rein.«

Sie gingen ins Haus. Der Colonel schloss hinter ihm ab und aktivierte eine komplizierte Alarmanlage. Dann führte er Bob eine Metalltreppe hinauf, die an einem Trockenbau-Flur endete, in dem die fadenscheinige, wahllos zusammengewürfelte Konstruktion des Gebäudes erkennbar wurde. Am Ende des Gangs lag das Büro des Colonels, das eine regelrechte Kirche für die Religion des Scharfschützen war. Ein begehbarer Waffensafe dominierte eine Wand, aber auch die andere demonstrierte seine Besessenheit. Dort befanden sich Aufhängungen für äußerst raffinierte Gewehre, Bücherregale voller Memoiren, militärischer und kriegsgeschichtlicher Texte, eine Computerstation, durchlöcherte Zielscheiben, Fotos von diversen Szenegrößen wie Carl Hitchcock und Chuck McKenzie, ganz zu schweigen von einem Bild des 26-jährigen Staff Sergeants Bob Lee Swagger aus Blue Eye, Arkansas, aufgenommen 1972 nach seinem Sieg beim Wimbledon Cup über 1000 Yards.

»Sieht aus wie eine Hall of Fame oder so was«, bemerkte Swagger.

»Meine Hall of Fame «, erwiderte der Colonel. »Einen Drink, Gunny? Darf ich Sie Gunny nennen?«

»Meine Freunde nennen mich Bob.«

»Dann lassen Sie uns Freunde sein«, sagte der liebestrunkene Colonel. »Das würde ich als eine große Ehre ansehen. Ein Drink? Auf so was muss man doch anstoßen.«

»Nein, Sir. Ich wünschte, es wäre eine Privatangelegenheit, aber in dem Fall wäre ich zu einer normalen Uhrzeit gekommen. Wie schon gesagt, ich bin halb offiziell hier. Ich hoffe, wir können Freunde sein, sobald das Geschäftliche erledigt ist.«

»Nun«, sagte der Colonel, »dann schauen wir mal, ob wir das hinbekommen.«

»Das FBI hat mich auf Zeit angeheuert, damit ich sie zum Fall eines Marine-Corps-Scharfschützen namens Ray Cruz berate. Man glaubte, er wäre vor sechs Monaten in Afghanistan umgekommen, aber jetzt ist er möglicherweise hier in diesem Land und führt Böses im Schilde. Eine tragische Sache, wenn Sie mich fragen. Aber ich habe gerade erfahren, dass Sie mit Cruz zu tun hatten.«

»Ray«, rief der Colonel, und seine Miene wurde lebendiger. »Noch am Leben! Mann, das wäre was! Also, darauf würde ich trinken, das können Sie mir glauben. Ein toller Kerl. Sie würden ihn mögen, Bob. Sie und er, Sie sind Brüder des hohen Grases und des langen Todesschusses.«

»Sir, das mag sein, und alles, was ich über Sergeant Cruz erfahren habe, deutet darauf hin. Aber wenn er noch lebt, wenn das wirklich er war, dann hat er sich gerade durch das Aussprechen gewisser Drohungen auf die Abschussliste der Regierung gesetzt.«

Bob behielt die Augen des Colonels im Blick, hielt nach dem Aufblitzen geheimen Wissens Ausschau. Ihm war bereits aufgefallen, dass die Ray-ist-auferstanden-Nummer gespielt war, aber sie hatte spontan genug gewirkt. Andererseits hatte der Colonel sich nicht einmal für eine Nanosekunde private Trauer anmerken lassen, als Bob Ray Cruz’ Ableben erwähnt hatte, was zu erwarten gewesen wäre, falls sein Schmerz immer noch beträchtlich war. Er hatte nicht einmal reagiert. Dann tat er es doch noch, als ob er versuchte, seine Rolle in diesem Drama nachträglich auszufüllen.

»Als ich hörte, dass er tot ist, hat es mir das Herz gebrochen. So viele Männer sind in diesem Krieg gefallen, von dem die eine Hälfte der Bevölkerung nichts weiß und den die andere Hälfte nicht ausstehen kann. Das ist so falsch. Aber fangen wir gar nicht erst damit an.«

»Und dass Ray nun seinen eigenen Weg geht? Passt das zu dem Ray, den Sie kannten?«

»Ray hatte sicherlich seine Überzeugungen. Er war immer dafür, das Richtige zu tun. Aber leise, nicht laut. Er war kein Schreihals oder Moralapostel. Er war ein Mann der Tat. Und er hat einfach nicht lockergelassen.«

Der Colonel erzählte ihm eine Geschichte darüber, wie Ray mit dem damals noch nicht übernommenen Stoner SR-25 gearbeitet hatte. Die ganze Nacht hatte er in der Werkstatt verbracht, es Stück für Stück auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, hatte versucht, irgendwie an dessen religiöse Essenz zu kommen. Er wollte das Zen jeder einzelnen Schraube und Feder kennen. Er ließ einfach nicht locker.

»Vielleicht ist das der Filipino in ihm«, fügte Chambers noch hinzu. »Wir mussten das Kaliber 45 ACP erfinden, um die Filipinos zu stoppen, wissen Sie? Wenn die sich was in den Kopf gesetzt hatten, haben die sich von nichts aufhalten lassen, bis wir eine dicke, fette Patrone für sie erfunden hatten. Haben Sie das gewusst?«

»Ich glaube, schon. Sir, ich bin vor etwa zwei Stunden auf Ihre Verbindung zu Ray Cruz gestoßen. Soweit ich weiß, ist das bis jetzt noch eine ganz neue Information, und niemand sonst hat begriffen, welche Bedeutung sie hat. Aber ich bin vertraglich dazu verpflichtet, morgen die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, davon in Kenntnis zu setzen. Was das angeht, habe ich keine Wahl. Spätestens am Mittag wird eine Task Force vom FBI hierherkommen, mit forensischen Ermittlern, stellvertretenden Generalstaatsanwälten, Vorladungen und Durchsuchungsbeschlüssen. Die werden dieses Haus und Sie auseinandernehmen, um Ray zu finden. Ihre Aufzeichnungen, Ihre Telefonabrechnungen, Ihre Kreditkartenabrechnungen, Ihre Geschäftsbücher, Ihre geschäftlichen Transaktionen, das alles werden sie durchgehen. Daher bin ich inoffiziell hier, bevor diese Flutwelle anrollt. Wahrscheinlich sollte ich das nicht tun, vielleicht wird man mich deswegen anschreien oder sonst was. Das spielt keine Rolle. Ich hatte das Gefühl, Ihnen für Ihren Dienst an uns Durchs-Gras-Kriechern und Weitschießern was schuldig zu sein. Daher flehe ich Sie an: Wenn Sie irgendwas über Ray wissen, über seine Pläne, darüber, ob er überlebt hat, sagen Sie es mir besser jetzt, damit man Sie als einen kooperierenden Zeugen behandeln wird. Diese FBI-Leute haben einen Job zu erledigen, und den machen sie. Und wenn Sie sich denen in den Weg stellen, zerquetschen die Sie einfach.«

»Ich weiß die Warnung zu schätzen, Gunnery Sergeant«, erwiderte der Colonel, wobei er in einen förmlichen Marine-Corps-Ton verfiel. Dann fragte er: »Haben Sie was dagegen, wenn ich mir ein Glas Bourbon einschenke?«

»Nur zu.«

Der Colonel öffnete eine Schublade, holte eine halb volle Flasche Knob Creek heraus, goss etwas in ein kleines Glas und kippte es in einem Zug hinunter.

Bob fuhr fort: »Falls Ray zurückgekommen wäre und tatsächlich vorhätte, einen gewissen Kerl auszuschalten, der Anfang nächster Woche in Washington sein wird, dann bräuchte er zur Durchführung dieser Mission eine logistische Basis. Unsere Arbeitstheorie lautete, dass er seine alten Marine-Corps-Kontakte nutzen würde, vielleicht bei der Two-Two Recon. Da war ich schon und bin dem nachgegangen. Aber genauso einfach könnte er es von Ihrer Werkstatt aus tun, könnte eins Ihrer Spezialgewehre benutzen, Ihre Munition, Zielfernrohre, Laser-Entfernungsmesser und so weiter. Das wäre logisch, und ich wette, dass Sie so viel von Ray halten, dass Sie sich drauf einlassen würden, ohne allzu gründlich darüber nachzudenken. Mann, vielleicht hätte ich dasselbe getan, wenn er zu mir gekommen wäre. Sie müssen nur wissen – falls Sie was damit zu tun haben, meine ich –, dass Sie da mit einem sehr heißen Feuer spielen, das in wenigen Tagen alles niederbrennen kann, was Sie sich aufgebaut haben. Das ist es nicht wert, Sir. Und die größte, traurigste Tragödie wäre es meiner Ansicht nach, wenn Ray glaubt, dass er etwas Edles und Richtiges tut und das nur dazu führt, dass er den Rest seines Lebens in irgendeiner beschissenen Zelle verbringen muss. Das wäre so ungerecht.«

Jemand sagte: »Andererseits spielt Cruz vielleicht nur die einzige Karte aus, die er noch hat. Und er ist der Meinung, dass er das für das Corps tut, nicht gegen es.«

Swagger drehte sich um und stand Ray Cruz gegenüber.