In der Schusszone

Der 800er-Häuserblock der

North Charles Street

Mount Vernon

Baltimore, Maryland

16:54 Uhr

Zarzi hineinzubringen war ein Kraftakt. Ihn wieder herauszuholen würde ein noch größerer Kraftakt sein, weil es stattfinden würde, nachdem alle drei lange Stunden herumgestanden hätten und sich das Blut in ihren Füßen angesammelt hätte.

Swagger fühlte sich wie ein zeremonieller Soldat beim Staatsbegräbnis irgendeines renommierten alten Generals. Er stand nicht stramm, aber er trug die Uniform dieses Tages: eine FBI-Einsatzjacke über einem Hemd und einer Krawatte, eine schwarze Cargohose, deren Hosenbeine in schwarzen Kampfstiefeln steckten. In der Hand hielt er ein Funkgerät, von dem ein Kabel zu seinem Ohr führte. Er stand an der Straße und tat nichts, außer zu gähnen und Ausschau zu halten. Der einzige Unterschied zwischen ihm und den vielen anderen Männern und Frauen in der Umgebung war die Abwesenheit einer Glock .40 in einem taktischen Nigel-Ninja-Holster an seinem Oberschenkel.

Seine Scharfschützenaugen zuckten hin und her, suchten nach … nun, nach was? Einer geraden Linie, wo keine sein sollte? Nein, diese Banalität war in einer Stadt voller gerader Linien bedeutungslos. Nach dem Funkeln von Sonnenlicht auf einem Objektiv? Dazu war Cruz zu professionell. Eine Gestalt auf einem Haus? Ein Helikopter würde einen Schützen auf einem Dach entdecken, bevor irgendein Mann am Boden es konnte. Ein vorbeirasender schwarzer 1937er Cadillac, aus dessen hinterem Fenster der Lauf einer Colt-Tommygun mit einem Cutts-Rückstoßkompensator ragte? Nicht unwahrscheinlicher als alles andere. Bob beobachtete einfach, wartete, blickte sich um, richtete den Blick auf nichts Spezielles, konzentrierte sich ganz auf Bewegungen. Denn wenn Ray Cruz sich bewegte, würde er es schnell tun, und das wäre vielleicht die einzige Möglichkeit, ihn zu bemerken. Aber auch dies nur dann, wenn man zufällig in den kleinen Teil des Universums sah, durch den er sich genau in diesem Moment bewegte. Aber sosehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, irgendeinen unbewachten Bereich zu finden, das heißt einen Bereich, der nicht irgendjemandem offiziell zur Beobachtung zugewiesen worden war.

»Langweilig, hm?«, fragte Nick, der neben ihm stand.

»Spaß macht’s nicht.«

»Ich könnte auch ein bisschen Schlaf gebrauchen. Ich hab die Hoffnung, dass ich allen freigeben kann, sobald dieser Kerl …«

»ACHTUNG, ACHTUNG, AN ALLE STATIONEN, ER KOMMT RAUS, ER KOMMT RAUS!«

Der Secret-Service-Kommandant setzte aus dem Inneren des Restaurants alle davon in Kenntnis, dass der Moment des größten Risikos nun kurz bevorstand. Zarzi würde sich zur Limousine begeben und wäre auf dem Weg dorthin auf der Straße für einige Sekunden verwundbar. Falls Ray hier war, wäre dies der Zeitpunkt, an dem er handeln würde, es sei denn, er hatte eine Panzerfaust, mit der er das schusssichere Glas der Limousine durchbrechen könnte – unwahrscheinlich.

Überall entlang der Straße nahmen die auf und ab gehenden Beobachter Haltung an, übernahmen wieder die Kontrolle über ihre halb eingeschlafenen Nervensysteme, legten ihre Hände an die Pistolen, blinzelten sich den Dreck aus den Augen und wappneten sich für ein paar Minuten höchster Konzentration. Die Helikopter über ihnen kamen ein Stück herunter, und der Wind, den die Rotorblätter aufwirbelten, ließ Dreck von den Dächern fliegen, die sie durch ihre Ferngläser beobachteten. Alle Secret-Service-Scharfschützenteams legten vor ihren Fenstern die Hände an den Schaft, die Wangen an den Kolben und die Augen ans Fernrohr, um ihre Schussbereiche gründlich auszukundschaften.

Bob spürte die hektischen Bewegungen mehr, als dass er sie sah, als Zarzi, dessen Bruder, zwei Kinder und etwa zehn Secret-Service-Beamte und Leibwächter in einer losen Formation das Restaurant verließen. Die Brüder sprachen lebhaft miteinander, als ob sie das ganze Security-Drama, das sie umgab, gar nicht bemerkten. Ibrahim musste natürlich eine Show abziehen. Er trödelte auf freier Fläche herum, nahm die Hände von zwei der jüngeren Kinder, lachte mit seinem Bruder Asa über alte Kindheitserinnerungen. Er weigerte sich weiterzugehen, forderte aus irgendeinem Macho-Polospieler-Instinkt das Universum heraus, ihn zu vernichten, wenn es den Mut dazu hatte. Währenddessen knirschten die Secret-Service-Leute um ihn herum mit den Zähnen und hielten fieberhaft nach irgendwelchen Anzeichen für feindliche Aktionen Ausschau. Aber sie sahen nur das Gewöhnliche und Banale, das Erwartbare, Normale und Eintönige: ein Obdachloser einen Block weiter, ein Taubenschwarm auf dem Rasen im Park, ein hippes Paar auf der anderen Straßenseite, ein Mülllaster, der im nächsten Block aus einer Gasse fuhr, ein Taxi auf einer Querstraße, nichts Besonderes …

Bob dachte: Falsch. Etwas ist falsch. Was stimmt nicht mit diesem Bild? Was ist …

Mein Gott. Die Gedanken kamen so schnell, dass die Worte kaum Schritt halten konnten. Was zum Teufel macht der Mülllaster da?