Samstag, 14. September 1816

Alles war wie am Morgen zuvor. Demuth wurde vom Duft des Bohnenkaffees und von den Geräuschen aus der Küche geweckt. Er zog seine Taschenuhr auf, wusch sich, zog sich an, kämmte sein dünnes Haar, stieg die hölzerne Treppe hinunter und setzte sich im Gastraum auf den Platz am Fenster, auf dem er auch am Freitagmorgen gesessen hatte. Er wurde von einer eifrigen Trudi ein wenig scheu, aber äußerst aufmerksam bedient und genoss Kaffee, Brot, ein kleines Stück Butter, Marmelade und sogar ein hart gekochtes Ei.

Dieses zweite Frühstück in der Poststation an der Emscher schmeckte schon ein kleines bisschen nach Gewohnheit, und das empfand Anton Demuth als überaus angenehm.

Vielleicht war er in letzter Zeit doch ein wenig zu ängstlich darauf bedacht gewesen, dass in seinem Leben alles immer genau so blieb, wie es war.

Er spürte, dass es durchaus seinen Reiz hatte, am Morgen mal ein anderes Gesicht zu sehen als das von Klärchen Stüber und etwas anderes zu beobachten als das Treiben auf dem Werdener Markt.

Es schien ihm so, als seien Platz und Straße vor dem Posthaus heute etwas weniger morastig als am Tag zuvor. Die Katze saß wieder am Straßenrand und schaute in Richtung Sterkrade, und auch heute Morgen war wieder keine Postkutsche in Sicht.

Es regnete nicht. Der Himmel war schmutzig grau.

Demuth sah zum jungen Herrn Heine hinüber. Der hatte schon am Tisch neben dem Kamin gesessen, als er hereingekommen war. Margarete Krumpe hatte neben ihm gestanden und auf ihn eingeredet.

Da hatte Demuth nicht stören wollen. Heine und er hatten einander zugelächelt.

Kurz nachdem Demuth am Tisch neben dem Fenster Platz genommen hatte, hatte Margarete Krumpe sich dann zu Harry Heine gesetzt. Die Frau des Postmeisters hatte viel geredet, Heine hatte zugehört und nur gelegentlich etwas eingeworfen.

Margarete stand erst wieder auf, als Demuth schon bei seiner zweiten Tasse Kaffee war. Sie ging in Richtung Küche, blieb aber kurz vor der Tür stehen und wandte sich um.

»Guten Morgen, Herr Justizrat! Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen!«, rief sie.

Demuth nickte und winkte ihr freundlich zu. Sie winkte zurück und verschwand hinter der Küchentür.

Der junge Heine kam herüber. »Guten Morgen, Herr Kriminalrichter. Störe ich Sie?«, fragte er.

»Nein, ganz und gar nicht«, antwortete Demuth.

Heine setzte sich. Er hatte seine lederne Schreibmappe dabei, die legte er auf einen freien Stuhl. Auch seine Tasse Kaffee hatte er mitgebracht.

»Eine erstaunliche Person, die Frau des Postmeisters«, sagte er leise. »Ganz und gar nicht dumm, und sie ist fest davon überzeugt, dass die Tote eine Hexe war.«

»Ach was.« Anton Demuth zog seine dicht gewachsenen Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. »Die Grete glaubt also auch diesen Unfug.«

Harry Heine dachte eine Weile nach, bevor er entgegnete: »Aus der Sicht eines aufgeklärten Menschen mag das Unfug sein, was die Frau Krumpe über ihre verblichene Nachbarin denkt, aber der Glaube daran, dass es Geschöpfe mit übernatürlichen Gaben und Fähigkeiten gibt, ist seit Jahrhunderten in den Überzeugungen der Menschen verwurzelt. Wenn Sie, Herr Untersuchungsrichter, weiter in der Sammlung der Brüder Grimm lesen, werden Hexen und allerlei Zauberwesen Ihnen noch in so mancher Geschichte begegnen.«

»Dahin gehören sie ja auch, in ein Märchenbuch«, sagte Demuth. »Aber es grämt mich, dass Menschen immer noch mit Hexerei und dergleichen Unsinn ganz schnell bei der Hand sind, wenn sie einfache Erklärungen für irgendwas suchen.«

»So sind sie nun mal, die Menschen. Die meisten jedenfalls«, sagte Harry Heine achselzuckend, und dann erzählte er dem Justizrat in aller Ausführlichkeit, wie er selbst auf eine recht eigentümliche Weise mit Hexen und deren Hexerei in Berührung gekommen war.

Weil Anton Demuth so viel Abergläubisches im Umfeld einer gebildeten Düsseldorfer Kaufmannsfamilie nicht vermutet hatte, verblüffte ihn die Geschichte des jungen Heine zuerst sehr, dann entsetzte sie ihn sogar, und schließlich machte sie ihn für eine kurze Zeit ein bisschen schwermütig.

Ein altes Weib, so erzählte Heine, das geschäftlich des Öfteren mit seinem Vater zu tun gehabt hatte, hatte ihn, den Knaben Harry, ganz maßlos mit Lobhudeleien und Komplimenten betreffend seine Schönheit und Klugheit übergossen. Ganz offensichtlich wollte die Alte sich so den Vater gewogen machen.

Die Kinderfrau der Familie Heine hatte das mitbekommen, und sogleich war in ihr der alte Volkswahn erwacht, dass es Kindern schädlich sei, mit zu heftigen Lobsprüchen überschüttet zu werden, dass sie dadurch erkranken und von allerlei Übel befallen werden könnten.

Aber die Zippel, so nannte Heine die Kinderfrau, kannte ein althergebrachtes Rezept, mit dessen Anwendung man ein betroffenes Kind doch noch vor dem Schlimmsten bewahren konnte. Sie spuckte dem Knaben Harry hastig dreimal auf den Kopf und hatte so zunächst einmal das Schlimmste abgewendet.

Doch dann war der Zippel in den Sinn gekommen, die Alte, die den Knaben so hemmungslos belobigt hatte, könnte eine Hexe gewesen sein. In diesem Fall nämlich wäre dreimaliges Anspucken nicht ausreichend, sondern der böse Zauber könnte nur durch eine Person gebrochen werden, die ebenfalls eine Hexe war.

»So entschloss sich meine gute Zippel, noch denselben Tag mit mir zu einer Frau zu gehen, die ihr als Hexe bekannt war«, erzählte Heine. »Und die bestrich mir mit ihrem Daumen, den sie mit Speichel benetzt hatte, den Scheitel, schnitt mir einige Haupthaare ab, feuchtete diese auf dieselbe Weise an, betupfte mit der Haarsträhne auch andere Stellen meines Körpers und salbaderte dabei allerlei Abrakadabra. Der vermeintliche Fluch der Alten, die mich so penetrant mit Lobeshymnen übergossen hatte, blieb danach völlig ohne Wirkung. Für die Kinderfrau und mich war es keine Frage, dass wir das den Gegenmaßnahmen unserer Hexe zu verdanken hatten.«

Heine lachte und erzählte weiter, dass seine Zippel diese Frau immer wieder mal aufgesucht habe, wenn sie Unterstützung in Liebesdingen oder Hilfe bei irgendwelchem Ungemach gebraucht habe. Er habe sie oft begleitet und so die vermeintliche Hexe nach und nach ein wenig kennengelernt, und er habe im Laufe der Zeit so einiges über sie erfahren.

Die Leute nannten sie die Meisterin oder einfach nur die Gocherin, denn sie war aus dem niederrheinischen Städtchen Goch gekommen. Dort war sie geboren worden, und ihr verstorbener Gatte hatte dort das verrufene Handwerk eines Scharfrichters betrieben. Man munkelte, dass er seiner Witwe mancherlei Geheimnis hinterlassen habe, welches sie nun ihrerseits dazu nutze, ihre zauberischen Kräfte immer weiter zu entfalten. Die Gocherin widersprach solchen Gerüchten nicht, sie zog es vor, aus ihrem Ruf Kapital zu schlagen. Und das gelang ihr auf ganz hervorragende Weise.

Eine Zeitlang waren die Wirte der Düsseldorfer Bierschenken ihre besten Kunden. Sie verkaufte ihnen zu außerordentlichen Preisen ihre Totenfinger. Das waren die Finger gehängter Diebe, die sie angeblich noch aus der Hinterlassenschaft ihres Mannes besaß. Sie dienten dazu, das Bier im Fasse wohlschmeckend zu machen und zu vermehren.

Harry Heine erläuterte mit todernster Miene: »Wenn man nämlich den Finger eines Gehenkten, zumal eines unschuldig Gehenkten, an einem Bindfaden befestigt und ins Fass hinabhängen lässt, so wird das Bier dadurch nicht bloß wohlschmeckender, sondern man kann aus besagtem Fasse doppelt, ja vierfach so viel zapfen wie aus einem gewöhnlichen Fasse von gleicher Größe.«

Demuth machte aus seinen Gefühlsregungen keinen Hehl. Er war entsetzt und ekelte sich und zog ein Gesicht, von dem das deutlich abzulesen war.

»Ich versichere Ihnen, Herr Kriminalrichter, dass es Wirte gab, die das genau so praktiziert haben«, beteuerte Heine. »Allerdings bevorzugen aufgeklärte Wirtsleute heutzutage eine andere Methode, um das Bier zu vermehren. Bedauerlich ist nur, dass es dadurch sehr an Stärke verliert.«

Heine lachte schelmisch und berichtete noch von allerlei Wundertaten der Gocherin, von ihren Liebestränken, die hin und wieder ihren Zweck erfüllten, ihn aber auch hin und wieder verfehlten, von ihren außergewöhnlichen Ratschlägen, beispielsweise von dem, immer etwas Gold in den Taschen bei sich zu tragen, weil Gold sehr gesund sei und besonders den Liebenden Glück bringe.

»Ich blieb mit der Gocherin bekannt, besuchte sie ab und zu zusammen mit der Zippel, manchmal auch allein, bis es mich dann, ich war inzwischen sechzehn Jahre alt, plötzlich Tag für Tag zu ihrer Wohnung zog. Mich lockte eine Hexerei dorthin, die stärker war als alles, was ich bis dahin kennengelernt hatte. Die Gocherin hatte nämlich eine Nichte, die Josepha, die auch gerade sechzehn Jahre alt geworden und plötzlich aufgeschossen war zu einer schlanken weiblichen Gestalt. Ihr Haar war rot, ganz blutrot, und hing in langen Locken bis über ihre Schultern hinab. Und das rote Sefchen, so nannten die Leute das Mädchen, das hat mich auf eine Art und Weise verzaubert, wie es noch nie eine Hexe vermocht hatte.«

Die beiden Männer, der Justizrat Anton Demuth, der gern und häufig zurückblickte auf die Liebesgeschichten seines Lebens, und der Kaufmannssohn Harry Heine, der die meisten seiner Liebesgeschichten noch nicht erlebt hatte, schwiegen eine Weile gemeinsam, und Demuth geriet in eine melancholische Stimmung, als er darüber nachdachte, wie unendlich lange es her war, dass ihn zuletzt ein weibliches Wesen in seinen Bann gezogen hatte.

Um nicht ganz und gar in Schwermut zu versinken, versuchte er, das Gespräch mit dem jungen Heine wieder in Gang zu bringen. »Welcher Mann ist weiblicher Magie noch nicht erlegen?«, fragte er ihn und sich selbst, seufzte und fügte lächelnd hinzu: »Vielleicht sind sie ja alle Hexen, die Frauen.«

»Es gibt wohl sehr verschiedenartiges Hexenwerk«, sagte Heine ganz unsentimental. »In vielen Fällen ist es nichts anderes als ein törichter, aber überaus lebendiger Wahn des Volkes, aber manchmal ist es eben auch etwas ganz Zauberhaftes.«

»Was ist denn aus Ihrem Sefchen geworden?«, fragte Demuth.

»Die Josepha war die Tochter vom Bruder des verstorbenen Ehemannes der Gocherin. Bei ihrer Tante in Düsseldorf war sie nur eine Weile. Von da ist sie zu einem Großvater gekommen, der angeblich auch Scharfrichter ist und irgendwo im Westfälischen lebt.«

Anton Demuth hatte den Eindruck, dass in den Worten keine große Trauer über den Verlust mitschwang. Harry Heine war zu jung, um sich lange über das Ende einer Liebe zu grämen. In seinem Alter war noch nichts endgültig.

Gedankenschwer schaute Anton Demuth zum Fenster hinaus.

Ein dunkelhaariger Mann näherte sich von den Pferdekoppeln her eiligen Schrittes dem Posthaus. Als er die Mitte des Vorplatzes erreicht hatte, bemerkte Demuth, dass sein fast schwarzes Haar schütter zu werden begann, dass es von grauen Strähnen durchzogen und am Hinterkopf zu einem Zopf gebunden war. In seinem abgenutzten Gehrock, dessen Schöße um eine aus der Mode geratene Kniebundhose flatterten, sah er aus wie ein Mann, der keinerlei Wert auf seine Erscheinung legte. Wäre der Kriminalrichter Demuth nicht hier an der Emscher auf diesen schmucklosen Menschen gestoßen, sondern in Werden, in Essen oder in Duisburg, dann hätte er ihn für einen zerstreuten Professor gehalten oder für einen verschrobenen Künstler, der sich mit so großer Inbrunst seinen Schöpfungen widmete, dass er für seine Person nur wenig Aufmerksamkeit übrighatte.

Der Mann hastete die vier Stufen zur Tür des Posthauses herauf und betrat wenige Augenblicke später die Gaststube. Als er Demuth und Heine erblickte, blieb er unschlüssig stehen, zog anscheinend in Erwägung, sich den beiden Männern vorzustellen, entschied dann aber, das nicht zu tun, verbeugte sich und verschwand durch die zweiflüglige Tür im Nebenraum, wo am späten Nachmittag ein Marionettenspiel aufgeführt werden sollte.

»Kannten Sie den Menschen?«, fragte Harry Heine.

»Gesehen habe ich ihn noch nie«, sagte Demuth, »aber ich nehme an, dass es der Mechanikus Josef Tendler war.«

»Der Marionettenspieler, ach ja, das könnte sein«, sagte Heine. »Schade, dass ich keine Vorstellung der Leute mitbekommen werde. Einem Puppenspiel würde ich gern noch mal zuschauen.«

»Heute soll nebenan im großen Gastraum ein Stück über die heilige Genoveva aufgeführt werden.«

»Ich weiß, aber dann werde ich aller Voraussicht nach nicht mehr hier sein.«

»Ach was«, sagte Demuth erstaunt.

»Die Frau Krumpe hat mir erzählt, dass schon in aller Herrgottsfrühe ein Postreiter vorbeigekommen ist und gemeldet hat, dass heute endlich wieder eine Kutsche in Richtung Berlin fahren soll.«

»Und da wollen Sie mit?«

»Ja, natürlich. Seit Beginn meiner Reise war es mein Plan, hier auf die Clevische Post nach Berlin umzusteigen. Nur ist leider kein Wagen mehr gefahren, seitdem ich Mittwoch hier angekommen bin.«

»Aber die Linie führt nicht über Hamburg, soviel ich weiß.«

»Das ist so«, sagte Heine. »Sie führt über Essen, Hagen, Paderborn, Braunschweig und Magdeburg nach Berlin. Ich werde bis Braunschweig mitfahren und hoffe, dass ich dort einen guten Anschluss nach Hamburg bekomme.«

»Ich verstehe.«

»Und Sie haben keine Einwände wegen des noch ungeklärten Todesfalles? Immerhin war ich schon Gast hier im Hause, als einen Steinwurf entfernt eine Bauersfrau ums Leben gekommen ist.«

»Nein, nein, Herr Heine, wenn Sie die Gelegenheit haben weiterzureisen, dann tun Sie das nur. Sie haben mit dem Tod der Anna Hasenleder nichts zu tun. Das steht außer Frage.«

»Und leider habe ich auch keinen Hinweis für Sie, der Ihnen irgendwie weiterhelfen könnte.«

»Das kann man wohl auch von einem Reisenden nicht erwarten, der ganz zufällig Gast in einer Poststation ist, in deren Nähe ein Verbrechen geschieht«, sagte Anton Demuth.

Heine nickte zustimmend und fragte: »Haben Sie denn inzwischen mit Herrn Sumser sprechen können?«

Demuth schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nicht mehr, wann ich diesen Menschen zuletzt gesehen habe. Es scheint so, als ginge er mir aus dem Wege.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Heine. »Als ich heute Morgen herunterkam, war er schon mit dem Frühstück fertig. Wir haben noch ein paar Worte gewechselt, dann hat er die Gaststube verlassen und ist wieder hinaufgegangen in sein Zimmer. Vielleicht bastelt er dort ja an seinen Spieldosen herum, das weiß ich aber nicht. Später wollte er jedenfalls spazieren gehen und sich die Gegend angucken.«

»Er hat eine seltsame Art, sich hier in der Gegend umzusehen.« Demuth zog seine buschigen Augenbrauen hoch. »Der Gendarm hat gestern beobachtet, wie er ums Herrenhaus herumgeschlichen ist und versucht hat, in eines der Fenster hineinzuschauen.«

»Ist der Herr Gendarm sich da ganz sicher? Hat er nicht vielleicht nur eine Beobachtung falsch gedeutet?«

»Wenn ein Mann zwischen den Büschen am Schloss des Grafen Westerholt steht, auf ein Fenster starrt und das Weite sucht, sobald er bemerkt, dass er entdeckt worden ist, dann gibt es da meines Erachtens nichts, was man so oder so deuten könnte.«

»Vielleicht hat er ja eine Erklärung für sein Verhalten.«

»Danach möchte ich ihn gern fragen«, sagte Demuth, »und nach ein paar anderen Dingen auch.«

»Das könnten Sie tun.« Heine wies mit einer Hand zum Fenster hinaus. »Sehen Sie? Dahinten ist der Herr.«

Demuth entdeckte Augustin Sumser auf dem Pfad, der von den Pferdeställen zum Schloss führte. Einen hellgrauen Hut auf dem Kopf und einen Spazierstock in der Hand, stand er da, schaute zum Posthaus herüber, wandte bald seinen Blick in Richtung Schloss, ging ein paar Schritte, blieb noch einmal kurz stehen und verschwand schließlich hinter den Büschen, die den Weg zum Schloss säumten.

Anton Demuth fand den Spieldosenmacher Augustin Sumser aus dem Königreich Bayern eine knappe halbe Stunde später hinter dem Schlosspark, dort, wo der Emscherweg auf den Fluss stößt, um von nun an seinen Windungen zu folgen. Sumser hatte eine Decke aus Rosshaar über einen Baumstumpf gelegt und sich so daraufgesetzt, dass er auf die Emscher schaute, die sich zu seinen Füßen breit und träge dem Rhein entgegenwälzte.

Als Demuth nur noch wenige Schritte hinter ihm war, wandte er sich erschrocken um.

»Ach, Sie sind das, Herr Kriminalrichter«, sagte er, ganz offensichtlich erleichtert darüber, dass es niemand anders als Anton Demuth war, der sich da von hinten näherte.

»Ich habe eigentlich ganz exquisite Ohren, aber bei dem Lärm hier höre nicht mal ich, wenn sich jemand heranschleicht, sei es Räuber oder Gendarm«, sagte er, lachte und fügte vergnügt hinzu: »Da habe ich ja noch mal Glück gehabt, dass es kein Spitzbube ist, der mich überfällt, sondern nur ein preußischer Justizrat.«

»Ob das Ihr Glück ist, wird sich herausstellen«, sagte Anton Demuth humorlos.

Augustin Sumser, der in einem eierschalenfarbenen Leinenanzug und mit seinem breitkrempigen hellgrauen Hut am Flussufer saß, als befinde er sich allen Wettern zum Trotz mitten in der Sommerfrische, lächelte über die bedrohlichen Worte des Kriminalrichters hinweg.

»Was ist das für ein Lärm?«, fragte er dann.

»Das ist ein Schmiedehammer«, sagte Demuth.

»Hier gibt es eine Schmiede? So nah bei diesem wunderschönen neuen Herrenhaus des Grafen von Westerholt? Konnte ein so bedeutender Fürst das nicht verhindern?«

»Nein, das konnte er nicht«, antwortete Demuth. »Das Hammerwerk war früher eine Eisenhütte, und die gab es schon, als der Graf hier mit dem Bau seines neuen Herrenhauses begann.«

»Der Posthalter Krumpe hat mir vor ein paar Tagen von einer Eisenhütte erzählt. Die war aber nicht hier an der Emscher, sondern eine halbe Meile nördlich gelegen. Oder hab ich da irgendwas falsch verstanden?«

»Nein, das ist richtig. Das ist in Sterkrade, und ein Dorf weiter östlich, in Osterfeld, gibt es sogar noch eine dritte Hütte.«

»Drei Eisenschmelzen so nah beieinander? Das ist verblüffend«, sagte Sumser.

»Das ist eine Folge der früheren politischen Verhältnisse«, erklärte Demuth. »Osterfeld war bis zum Beginn dieses Jahrhunderts ein Dorf im Vest Recklinghausen, also im Erzbistum Köln, Sterkrade gehörte zu Cleve, also zum Königreich Preußen, und die Emscher war hier die Grenze zum Stift Essen. Als in der Gegend Raseneisenerz gefunden wurde, wollten alle daran verdienen, der Erzbischof von Köln, der König in Berlin und die Essener Fürstäbtissin. So entstanden nacheinander die Hütten Sankt Antony in Osterfeld, Gute Hoffnung in Sterkrade und Neu-Essen, da drüben auf der anderen Seite der Emscher.

»Und das ging gut?«, fragte Sumser skeptisch.

»Nein, ging es nicht«, sagte Demuth. »Es gab nicht viele gute Jahre für die drei Eisenhütten. Letztlich haben sie sich gegenseitig ruiniert. Sie stellten die gleichen Gusswaren her, beschickten dieselben Märkte und kämpften um dieselben Rohstoffe. Vor allem gab es Engpässe bei der Beschaffung von Eisenerz und Holzkohle. Die Köhler konnten die Nachfrage nicht bedienen, und immer öfter standen die Hochöfen still. Das ist aber inzwischen lange vorbei. Heute gehören alle drei Werke zur Hüttengewerkschaft Jacobi, Haniel und Huyssen und machen sich keine Konkurrenz mehr, sondern arbeiten einander zu. Auf Neu-Essen ist seit einiger Zeit kein Hochofen mehr in Betrieb, da wird jetzt nur noch Eisen zu Stäben oder Blöcken geschmiedet, die in den Werkstätten in Sterkrade und Osterfeld weiterverarbeitet werden.«

»Und alle drei Standorte liegen heute im Königreich Preußen?«, fragte Sumser.

Den Kriminalrichter Demuth, der immer noch neben Augustin Sumser stand, während der mit behaglich übereinandergeschlagenen Beinen auf seiner Rosshaardecke saß, beschlich plötzlich das Gefühl, dass dieser Mensch sich vielleicht nur deshalb so sehr fürs Historische interessierte, weil er es vermeiden wollte, über Themen zu sprechen, die ihm weniger angenehm waren.

Ohne auf seine Frage zu antworten, sagte Demuth deshalb: »Ich habe nicht nach Ihnen gesucht, um mit Ihnen über die Geschichte der Emscherregion zu reden.«

»Ach, Sie haben nach mir gesucht? Das hätten Sie doch gar nicht gebraucht. Mein Zimmer im Posthaus liegt dem Ihren schräg gegenüber. Sie hätten jederzeit bei mir anklopfen können«, sagte Sumser freundlich.

Anton Demuth spürte, dass er auf der Hut sein musste. Dieser Spieldosenmacher aus Bayern hatte offenbar die Gabe, Menschen mit seiner ausgesuchten Liebenswürdigkeit von den Themen abzubringen, die ihm unangenehm waren. Das sollte diesem Herrn bei ihm nicht gelingen.

»Möchten Sie sich nicht zu mir setzen?«, fragte Sumser. »Ich könnte ein wenig zur Seite rücken. Auf dem Baumstumpf und meiner Decke ist Platz genug für zwei ausgewachsene Männer.«

»Nein, danke«, sagte Demuth. »Es wäre mir lieber, wenn wir gemeinsam ein wenig spazieren gingen. Um hier still am Wasser zu sitzen, ist es mir zu kühl. Außerdem scheint mir das Dröhnen des Eisenhammers nicht das angenehmste Hintergrundgeräusch für ein Gespräch zu sein.«

»Da stimme ich Ihnen zu, Herr Kriminalrat.« Sumser stand auf, rollte seine Decke zusammen, steckte sie in einen Beutel, den er sich über die Schulter hängte, nahm seinen Spazierstock in die Hand, sah Demuth lächelnd an und fragte ergeben: »In welche Richtung?«

»Emscherabwärts«, sagte Demuth.

Sie passierten den schäbigen Kotten der Kleinrogges und näherten sich Anna Hasenleders kleinem Haus, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Als sie nebeneinander den schmalen Trampelpfad kreuzten, der von Annas Häuschen hinunter zum Steg führte, blieb Demuth stehen.

Sumser sah ihn fragend an.

»Waren Sie hier schon mal?«, fragte Demuth.

Augustin Sumser schaute sich um und nickte. »Ja, ich bin hier einmal während einer Wanderung vorbeigekommen.«

»Wann war das?«

Sumser antwortete, ohne nachzudenken: »Das war am Mittwoch, am Tag bevor hier die Bauersfrau zu Tode gekommen ist. Das war doch hier, nicht wahr? Ist das ihr Häuschen?«

Demuth ging nicht auf seine Fragen ein.

»Wohin sind Sie gewandert?«

»Ich wollte zu einem Kloster, zu einem ehemaligen. Es ist, wie aller Kirchenbesitz, enteignet worden, die Mönche sind nicht mehr da, aber die alte Abteikirche ist angeblich ein Schmuckstück. Jedenfalls hat die Frau des Posthalters das gesagt. Etwa eine Meile flussabwärts liegt dieses ehemalige Kloster.«

»Die Abtei Hamborn«, vermutete Demuth.

Sumser nickte. »Das ist der Name, den Frau Krumpe genannt hat.«

»Und? Waren Sie dort?«

»Nein, so weit bin ich nicht gekommen. Als ich eine knappe Stunde unterwegs war, fing es heftig an zu regnen. Da bin ich umgekehrt.«

»Und noch einmal hier entlanggegangen?«

»Ja, natürlich. Es regnete stark. Ich wollte auf dem kürzesten Weg zurück zum Posthaus.«

»Und gesehen haben Sie nichts und niemanden, nehme ich an.«

»Auf dem Hinweg saß ein Stück weiter vor einem Haus ein alter Mann auf einer Bank. Wir haben einander zugewinkt. Auf dem Rückweg habe ich niemanden gesehen. Das Wetter war so scheußlich, da ist kein Mensch vor die Tür gegangen, der das nicht unbedingt musste.«

»Da unten ist die Anna Hasenleder überfallen worden und tödlich verletzt ins Wasser gestürzt.« Demuth deutete zum Steg hinunter.

»Eine ganz furchtbare Geschichte«, sagte Sumser. »Ich hoffe sehr, dass Sie den Mörder dieser armen Frau finden werden.«

»Sie gehören zu den Verdächtigen.« Demuth wunderte sich selbst ein wenig über seine Schroffheit.

Augustin Sumser allerdings reagierte gelassen. Achselzuckend sagte er: »Da sind Sie auf dem Holzweg, Herr Richter. Ich kannte die Frau ja nicht einmal.«

»Sie sind schon fast eine ganze Woche Gast im Posthaus. Was wollen Sie hier? Das ist kein Ort für eine Sommerfrische.«

»Da haben Sie recht, Herr Kriminalrat, weder der Ort noch das Wetter eignen sich sonderlich für eine Sommerfrische«, sagte Sumser fröhlich. »Aber diese Poststation ist ein ganz besonderer Ort. Sie liegt gleich neben dem wunderschönen neuen Herrenhaus des Grafen Westerholt-Gysenberg, am einzigen Emscherübergang weit und breit, und sie ist eine Station, an der sich zwei Postlinien kreuzen. An einem solchen Platz trifft man gut betuchte Menschen, die sich das Reisen leisten können. Solche Leute haben auch Geld, um sich eine mechanische Spieldose zu kaufen. Deshalb bin ich im Posthaus abgestiegen. Ich habe natürlich nicht geahnt, dass auf den aufgeweichten Straßen keine Kutschen fahren können und deshalb tagelang kein Mensch hier vorbeikommt. Aber so ist es nun mal. Jetzt bin ich hier und versuche, das Beste daraus zu machen und mir das eine oder andere in der Gegend anzuschauen.«

»Ich glaube Ihnen kein Wort«, erwiderte Demuth kühl. »Niemand reist vom Königreich Bayern ins ferne Preußen und mietet sich dort in eine einsam gelegene Poststation ein, weil er mechanische Spieldosen oder sonst irgendwas verkaufen will. Das ist Unfug. Es gibt näherliegende Möglichkeiten, gut betuchte Käufer zu finden.«

»Ich bin hier, um meine Waren feilzubieten«, entgegnete Sumser ungerührt. »Ich habe eine gültige Konzession für das Vertreiben mechanischer Spieluhren in der preußischen Provinz Jülich-Cleve-Berg. Sie liegt in meinem Zimmer im Posthaus. Ich zeige Sie Ihnen gern.«

»Das ist nicht nötig. Der Gendarm Schmitting hat mir schon berichtet, dass Sie über eine solche Konzession verfügen. Aber die beweist nichts. Sie erklärt vor allem nicht, warum Sie hier nach zahlungskräftiger Kundschaft suchen und nicht im Königreich Bayern. Dort gibt es schöne Städte mit wohlhabenden Bürgern. Denen ließe sich gewiss leichter eine Spieldose verkaufen als Reisenden, die ungern mehr Gepäck mit sich herumschleppen als nötig. Nein, Herr Sumser, Sie sagen mir nicht die Wahrheit. Sie sind nicht Ihrer Geschäfte wegen hierhergekommen.«

»Ich reise gern«, sagte Sumser unbeirrt. »Meine Spieluhren fern der Heimat zu verkaufen, gibt mir die Möglichkeit, das Geschäftliche mit dem Vergnügen des Reisens zu verbinden. So komme ich herum und lerne reizende Orte kennen.«

»Reizende Orte?« Demuth schüttelte ärgerlich den Kopf. »Sie versuchen, mich für dumm zu verkaufen, werter Herr.«

»Ich habe nicht die Absicht, Sie zu verärgern, Herr Untersuchungsrichter«, sagte Augustin Sumser treuherzig. Seine offenbar unzerstörbare Freundlichkeit brachte Demuth vollends aus der Fassung.

»Sie sind gestern um das Herrenhaus herumgeschlichen, haben sich da zwischen den Büschen versteckt und zu den Fenstern hinübergestarrt«, wetterte er. »Der Gendarm Schmitting hat das beobachtet, zweimal sogar. Ein Mann, der sich so verhält, gerät leicht in Verdacht, Übles gegen eine gräfliche Familie im Schilde zu führen, möglicherweise sogar umstürzlerische Ideen zu unterstützen. Ich weiß nicht, wie das im Königreich Bayern ist, im Königreich Preußen allerdings sollte man einen solchen Verdacht möglichst umgehend ausräumen, wenn man nicht erhebliche Scherereien bekommen will.«

Gelassen entgegnete Sumser: »Kommen Sie, lassen Sie uns noch ein paar Schritte gehen.«

Ein Stück weiter flussabwärts deutete er auf das Haus der Terhuvens. »Dort hat der alte Mann auf der Bank gesessen. Ach, sehen Sie nur, da ist er ja wieder.«

»Das ist Fürchtegott Terhuven. Er sitzt immer da, wenn es nicht regnet«, sagte Demuth.

Sumser und er winkten dem Alten zu. Der grüßte mit einem Kopfnicken zurück und sah den beiden Männern, die unterhalb seines Hauses über den Emscherweg spazierten, so lange nach, bis sie kurz vorm Wald aus seinem Blickfeld verschwunden waren.

Sumser machte keine Anstalten, sich zu irgendwelchen Vorwürfen zu äußern, anscheinend hielt er es nicht für nötig, Demuths Verdacht auszuräumen. Der spürte, je länger das Schweigen andauerte, umso deutlicher Zorn in sich aufsteigen. Er war drauf und dran, dem Herrn aus Bayern mit einer vorübergehenden Unterbringung im Gefängnis von Werden zu drohen, als Sumser unvermittelt sagte: »Der Herr Gendarm hat sich getäuscht.«

Dieser Satz trug nur wenig dazu bei, Demuth zu besänftigen.

»Ach was«, sagte er ärgerlich.

»Ich habe nicht gestarrt, ich habe gelauscht.«

Demuth blieb stehen und schaute ihn grollend an. Dieser Mensch hatte offenbar die Absicht, ihn zu veralbern.

»Machen wir uns auf den Rückweg zum Posthaus?«, fragte Sumser. »Ich glaube, es beginnt gleich zu regnen.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte er sich um und ging gemächlich flussaufwärts. Demuth blieb einen Moment sprachlos stehen, dann folgte er dem Spieldosenmacher. Als er ihn nach ein paar Schritten eingeholt hatte, begann Sumser zu erzählen.

»Ich bin gestern am Schloss spazieren gegangen, um mir dieses ganz bezaubernde neue Herrenhaus einmal aus der Nähe anzusehen. Irgendwann kam ich an einem geöffneten Fenster vorbei. Wie ich inzwischen weiß, gehört es zu den Gemächern der jungen Gräfin Wilhelmine Karoline. Die Minzi, so wird sie hier anscheinend von den Leuten genannt, ist die älteste Tochter des Grafen Maximilian. Sie ist fünfzehn. Und als ich gestern Morgen in die Nähe ihres Fensters kam, da spielte die Minzi auf dem Klavier.«

Sumser blieb stehen und lächelte eine Weile ganz still in sich hinein. Ohne Demuth anzusehen, sagte er schließlich leise: »Das war, Herr Untersuchungsrichter, als wäre ich plötzlich in einer anderen Welt, in einer, die dem Himmel ganz nah ist. Die Musik, die so plötzlich und unverhofft in mein Ohr drang, die hat mich auf eine Art und Weise ergriffen, wie ich es selten erlebt habe. Und ich verstehe etwas von Musik, Herr Richter. Ich fertige mechanische Musikinstrumente, und vor langer Zeit habe ich das Handwerk eines Geigenbauers erlernt. Ich versichere Ihnen, beides kann man nur, wenn man ein sehr feines Gehör hat.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Demuth.

»Als junger Mann wollte ich nie etwas anderes als wohlklingende Geigen bauen«, sagte Sumser. »Dann bin ich einer Frau begegnet, einer englischen Lady, die ein Musikinstrument besaß, wie ich es bis dahin noch nicht gesehen hatte. Es war eine mechanische Spieldose, die ganz wunderbare, silbrig zarte Töne hervorbrachte. Das waren Klänge, die mich betörten und mich tief im Herzen trafen. Ich wusste sofort, dass ich mich von dieser Musik nie mehr würde trennen können. Von dem Tag an wollte ich keine Geigen mehr bauen, sondern nur noch solch herrlich klingende mechanische Instrumente.«

Dem Kriminalrichter Demuth war jede Neigung zum Überschwang fremd, die Begeisterung des Herrn aus Bayern kam ihm ein wenig übertrieben vor.

Die beiden Männer näherten sich wieder dem Baumstumpf, auf dem Augustin Sumser gesessen hatte.

»Der Eisenhammer ist gerade nicht in Betrieb«, stellte er fest, und nach einem Blick zum Himmel fügte er hinzu: »Und der Regen wird wohl noch eine Weile auf sich warten lassen.«

Er sah den Richter fragend an. »Darf ich Ihnen etwas zeigen?«

Als Demuth durch ein kurzes Achselzucken kundgetan hatte, dass er keine ernsthaften Einwände hatte, zog Sumser die Rosshaardecke aus seiner Umhängetasche, breitete sie wieder über den Baumstumpf, setzte sich, lud Demuth mit einer Handbewegung ein, neben ihm Platz zu nehmen, griff noch einmal in den Beutel, zog eine kleines viereckiges Holzkistchen heraus und öffnete es.

Demuth setzte sich. Er sah im Inneren des Kästchens eine Messingwalze, auf deren blanker Oberfläche viele winzige Erhebungen unregelmäßig verteilt waren. Er begriff, dass diese Zähnchen, wenn sich die Walze drehte, die Zinken eines klingenden Metallkammes anrissen, der an einer Seitenwand der kleinen Kiste befestigt war. Demuth konnte sich beim Blick auf die Konstruktion vorstellen, dass sich auf diese Weise, je nach Anordnung der Zähnchen auf der Walze, verschiedene Melodien erzeugen ließen.

Sumser legte mit einem Finger einen Hebel um, der so klein war, dass Demuth ihn bisher übersehen hatte, und die Walze begann sich zu drehen. Ihre Erhebungen brachten die Zinken des Kammes zum Klingen. Sie erzeugten eine kleine Musik, eine, die ganz zart und heiter dahinplätscherte.

»Sehr schön klingt das«, sagte Demuth. Sumsers Begeisterung kam ihm jetzt nicht mehr übertrieben vor.

Der erzählte, er habe jahrelang getüftelt, um den Klang seiner Spieldosen immer weiter zu verbessern. Einige Jahre und unzählige Versuche habe er allein dafür gebraucht, das richtige Werkzeug zu finden, um ganz fein und präzise die kleinen Erhebungen in die Walze einzuarbeiten. Lange habe er sich auch nach einem Uhrmacher umgeschaut, der Federn und andere Metallteilchen für den Antrieb der Walze ganz exakt nach seinen Wünschen herstellen konnte, eine diffizile Angelegenheit, denn die schönste Melodie klang holprig, wenn die Walze sich zu schnell oder zu langsam drehte.

Das Holz, aus dem die kleinen Kisten gearbeitet wurden, musste eines sein, das mit den Tönen schwingen konnte. Bei der Suche danach waren ihm die Erfahrungen mit verschiedenen Hölzern zugutegekommen, die er schon als Geigenbauer gemacht hatte. Ahorn musste es sein, sehr dünn geschnitten, ein anderes Holz verarbeitete er inzwischen nicht mehr. Und sogar die Maße einer Spieldose, das habe sich im Laufe der Zeit gezeigt, seien überaus wichtig. Sie sollte, um einen vollkommenen Klang zu haben, nicht viel größer und auch nicht viel kleiner sein als die, die der Herr Untersuchungsrichter hier sehe.

Demuth konnte sich gut vorstellen, dass es nach diesen wunderbar klingenden Kästchen eine große Nachfrage gab und dass Augustin Sumser durch seine Kunst ein wohlhabender Mann geworden war.

Der klappte ganz plötzlich die Spieldose zu, steckte sie in seinen Beutel und schaute zum Himmel. »Jetzt fängt es doch schon an zu regnen«, sagte er kopfschüttelnd. »Das ist ja nicht nötig, dass das feine kleine Kästchen jetzt nass wird und sich am Ende noch verzieht.«

Auch Demuth bekam die ersten Tropfen ab. Er stand auf. Sumser rollte die Rosshaardecke zusammen und legte sie auf die Spieldose in den Beutel.

Die beiden Männer gingen gemessenen Schrittes in Richtung Posthaus. Im Himmel konnte sich anscheinend niemand dazu entschließen, die Schleusen ganz zu öffnen. Die dicken Regentropfen fielen weiterhin nur vereinzelt.

»Gestern, als ich dem Spiel der jungen Gräfin lauschte, habe ich mich beinahe so gefühlt wie damals, als ich zum ersten Mal den Klang einer mechanischen Musikdose hörte«, sagte Sumser. »Ein Stück von Beethoven hat sie interpretiert, und das hat sie auf eine sehr berührende Weise getan. Als ich so unerwartet dieser Musik gewahr wurde, bin ich wie angewurzelt zwischen den Sträuchern stehen geblieben. Ich war eine Zeitlang kaum fähig, mich zu rühren. Dass der Herr Gendarm da weiß Gott was denken musste, das verstehe ich schon. Aber ich versichere Ihnen, Herr Untersuchungsrichter, ich habe nicht zum Herrenhaus hinübergestarrt, ich habe gelauscht, ganz andächtig. Auch heute bin ich wieder am Schloss vorbeispaziert, in der Hoffnung, die Minzi säße vielleicht noch einmal bei offenem Fenster an ihrem Klavier.«

Während die beiden Männer an den Pferdekoppeln vorbeigingen und der Regen allmählich dichter wurde, fragte Sumser: »Glauben Sie mir die Geschichte?«

»Ja«, antwortet Demuth, »die glaube ich Ihnen. Aber ich bin weiterhin davon überzeugt, dass Sie nicht hierhergekommen sind, um in einer Poststation an der Emscher musikalische Spieldosen zu verkaufen. Das ist Unfug, und solange Sie mir nicht sagen, warum Sie hier sind, bleiben Sie für mich ein Verdächtiger.«

Auf dem Platz vorm Posthaus hatte eine Kutsche gehalten. Anton Demuth saß am Tisch neben dem Fenster und schaute zu, wie Hermann Krumpe und der Stallknecht Johann die ermatteten Pferde ausschirrten und sie zu den Stallungen führten.

Fünf Passagiere waren dem Postwagen entstiegen, ein junges Paar, zwei griesgrämig dreinschauende Herren mittleren Alters mit Zylindern auf den Köpfen und eine ältere Dame, die von den anderen Reisenden Abstand hielt und sich in der Gaststube allein an einen Tisch setzte.

Die griesgrämigen Herren bekamen von Trudi zwei Schüsseln vorgesetzt und begannen eifrig, sie auszulöffeln. Demuth wusste, dass es sich bei dem Gemüseeintopf, den es heute für alle gab, für die Gäste, die Bediensteten und für den Posthalter und seine Familie, um die Wirsingsuppe vom Vortag handelte, die um einige Zutaten erweitert worden war.

Sumser und er hatten davon gegessen, als sie vor gut einer Stunde zusammen im Posthaus angekommen waren. Krumpe hatte erzählt, dass Hermann auf dem Markt in Duisburg für unglaublich viel Geld Möhren und Kartoffeln aus Holland und einen kleinen Sack Zwiebeln erstanden hatte. Alles zusammen hatten Margarete Krumpe und Trudi in der Küche zerkleinert und so lange in die Wirsingsuppe eingekocht, bis das Ganze zu einer Art Gemüsebrei geworden war, der nicht besonders ansehnlich war, aber, kräftig gesalzen, durchaus angenehm schmeckte.

Die beiden Männer tranken Bier zum Gemüseeintopf und schauten, als Schüsseln und Krüge leer waren, nicht mehr ganz so griesgrämig drein wie zuvor.

Die ältere Dame sah eine Weile zum Tisch ihrer beiden Reisegefährten hinüber, rümpfte irgendwann die Nase, winkte Trudi zu sich und fragte sie, ob es möglich sei, ein Stück Brot und ein Glas Milch zu bekommen. Trudi brachte ihr beides.

Das junge Paar saß auf einer Holzbank vor der getäfelten Wand neben dem Kachelofen, in dem auch heute kein wärmendes Feuer brannte. Die junge Frau hatte ihren Kopf auf die Schulter des Mannes gelegt, der hielt sie mit einem Arm fest umschlungen. Beide hatten die Augen geschlossen und schienen eingeschlummert zu sein.

Sumser und Demuth hatten während ihres gemeinsamen Essens nachdenklich geschwiegen. Als seine Schüssel leer war, hatte Sumser sich verabschiedet, um sich oben in seiner Schlafkammer ein wenig auszuruhen. Demuth war am Tisch sitzen geblieben, um dem Treiben rings um die Postkutsche zuzusehen.

Jetzt ahnte er etwas von der Geschäftigkeit, die hier an guten Tagen herrschen musste, wenn fahrende und reitende Post, Wagen der Schnellpost und der Extrapost und die privaten Kutschen wohlhabender Herrschaften sich begegneten, wenn Reisende ein-, aus- und umstiegen und in der Gaststube des Posthauses etwas zu essen oder zu trinken verlangten, wenn Gepäck auf- und abgeladen wurde, wenn Pferde gewechselt und versorgt werden mussten.

Den Postillion hatte Demuth aus den Augen verloren. Zuerst hatte er ihn auf dem Abtritt hinterm Haus bei den Pferdeställen vermutet, als aber die anderen Reisenden, einer nach dem anderen, in Richtung Abort liefen und kurz darauf zurückkamen, war ihm klargeworden, dass der Postillion sich dort nicht aufhielt. Irgendwann hatte er ihn dann durch die offene Tür in der Küche sitzen sehen, Bier trinkend, lachend und mit Trudi schwatzend.

Harry Heine war schon vor einer ganzen Weile mit Friedrich Krumpe in dessen Bureau verschwunden. Bei einer Abreise gab es Formalitäten zu erledigen, Kost und Logis der vergangenen Tage mussten bezahlt werden, und die Entgelte für eine Fahrt mit der Postkutsche mussten vorab entrichtet werden. Da hatte Krumpe gewiss einiges zu tun, bis er die korrekte Summe des Passagiergeldes, das Trinkgeld für den Postillion, die Gepäckgebühren, Kosten für notwendige Pass- und Zollkontrollen sowie die anfallenden Wege- und Brückengelder ermittelt, zusammengerechnet und von Heine eingetrieben hatte.

Demuth nahm an, dass dem jungen Heine die schwere Reisekiste gehörte, die Hermann Krumpe und der Stallknecht Johann zusammen aus dem Haus zum Wagen geschleppt hatten.

Nachdem sie sie mit Hilfe des Postillions auf das Dach der Postkutsche gehievt und dort mit Stricken befestigt hatten, waren Hermann und Johann in den Ställen verschwunden. Sie kamen mit vier frischen Pferden zurück, die sich ohne jeden Widerstand vor die Kusche spannen ließen. Das erledigten die beiden jungen Männer routiniert, mit eingeübten Handgriffen und ohne viele Worte. Es war leicht zu erkennen, dass der Pferdewechsel zu ihren alltäglichen Aufgaben gehörte und dass sie ein Vergnügen daran hatten, endlich noch mal ihrem gewohnten Tagewerk nachgehen zu können.

Der Postillion erschien wieder auf der Bildfläche. Er überprüfte das Geschirr, klopfte dem Stallknecht Johann auf die Schulter, schüttelte Hermann Krumpe die Hand, wechselte ein paar Worte mit ihm und lief dann ziemlich eilig in Richtung Pferdeställe. Da er schon den Gürtel seiner Hose geöffnet hatte, bevor er hinter den Stallungen verschwunden war, gab es dieses Mal an seinem Ziel keinen Zweifel, zumal Demuth sah, dass auf der Bank in der Küche, auf der der Postillion gesessen hatte, zwei leere Bierkrüge zurückgeblieben waren.

Hermann Krumpe kam in die Gaststube und rief laut: »In einer Viertelstunde fährt der Wagen in Richtung Berlin weiter. Die Passagiere, die mitreisen wollen, sind angehalten, in den nächsten Minuten ihre Plätze einzunehmen.«

Die beiden Herren, die inzwischen gar nicht mehr mürrisch waren, sondern laut und fröhlich miteinander plauderten, hatten schon gezahlt. Sie setzten ihre Zylinderhüte auf, verließen das Posthaus und spazierten gemeinsam in Richtung Abort.

Die ältere Dame legte ein paar Geldstücke auf den Tisch, das junge Paar blieb engumschlungen auf der Bank sitzen.

Der junge Herr Heine kam aus Krumpes Bureau, sah Demuth und winkte ihm noch einmal zu. Dann ging er, begleitet vom Posthalter, zum Wagen und stieg als Erster ein. Ein paar Minuten später verließ das Paar die Gaststube und ging Hand in Hand zur Kutsche. Demuth erkannte, dass die jungen Leute gegenüber von Harry Heine Platz nahmen. Die beiden Männer kamen gemeinsam vom Abort zurück und setzten sich neben Heine, der Postillion kletterte auf den Kutschbock, und als Letzte stieg auch die ältere Dame zu.

Der Postillion blies in sein Horn, die Pferde setzten sich gemächlich in Bewegung, der Postwagen rollte langsam in Richtung Emscherbrücke davon.

Demuth dachte eine Weile darüber nach, was er jetzt tun sollte. Bis zum Beginn des Puppenspiels waren es noch fast drei Stunden. Er könnte es Sumser gleichtun und sich eine Weile hinlegen. Er könnte noch mal bis zum Haus der Terhuvens gehen. Es regnete nicht, und der alte Fürchtegott saß wahrscheinlich wieder auf der Bank vorm Haus.

Er würde gern in Erfahrung bringen, wie es damals weitergegangen war nach dem Unfalltod von Leopold Hasenleder, als Anna plötzlich allein mit ihrem kleinen Sohn war. Hatten die Nachbarn die junge Witwe und ihr Kind unterstützt oder hatten sie die schöne Frau aus der Stadt, die jetzt plötzlich ohne männlichen Schutz zwischen ihnen lebte, wie eine unliebsame Fremde behandelt?

Der alte Terhuven würde das noch wissen, da war Demuth sich ganz sicher. Er würde sich auch daran erinnern, wie sein Sohn Rochus damals reagiert hatte, als die Anna plötzlich allein im Nachbarhaus lebte. Der Alte hatte gesagt, dass Rochus Terhuven nie eine andere Frau begehrt hatte. Wie war er damit umgegangen, dass sie, kurz nachdem er eine andere geheiratet hatte, wieder frei war?

Warum war Anna Hasenleder überhaupt an der Emscher geblieben und nicht zurück nach Duisburg gegangen? Wer oder was hatte sie hier gehalten?

All das interessierte Anton Demuth sehr, auch wenn er sich nicht sicher war, dass Annas Tod irgendwas mit den alten Geschichten zu tun hatte.

Trotzdem entschied er sich, nachdem er eine Weile unschlüssig zum Fenster hinausgeschaut hatte, den Besuch bei den Terhuvens noch eine Weile zu verschieben. Der alte Fürchtegott konnte ihm auch morgen oder übermorgen erzählen, was damals, nach dem Tod von Leopold Hasenleder, geschehen war, und mit den anderen Mitgliedern der Familie Terhuven, mit Gertrude, der Schwiegertochter des Alten und mit deren Kindern, konnte er immer noch reden. Jetzt wollte er erst einmal Helena Kleinrogge und ihren Mann Paul kennenlernen.

Er wusste über sie, dass sie in ihrem Leben viel Unglück gehabt hatten, dass ihnen mehrere Kinder weggestorben waren und nur die dreizehnjährige Marie übriggeblieben war. Ihren Jüngsten, er war gerade vier Jahre alt gewesen, hatten sie vor ein paar Wochen verloren, und Helena war davon überzeugt, dass Anna Hasenleder dem kleinen Jungen eine tödliche Krankheit angehext hatte.

So jedenfalls hatte Trudi es berichtet, und die hatte nicht den Eindruck gemacht, diese Ungeheuerlichkeit erfunden zu haben. Was war da naheliegender als der Gedanke, dass Helena oder ihr Mann Paul sich an der Frau gerächt hatten, die sie für den Tod ihres Kindes verantwortlich machten?

Ein paar Minuten später stand Demuth vor dem unscheinbaren Kotten der Kleinrogges. Das alte Haus war noch verwahrloster, als es ihm erschienen war, wenn er auf dem Emscherweg vorbeigegangen war.

Die Fachwerkbalken, die viel zu lange keinen Anstrich mehr bekommen hatten, waren ungeschützt dem extremen Wetter dieses Jahres ausgeliefert. Nässe und Kälte hatten dem Holz zugesetzt, es war rissig und witterte vor sich hin. Hier und da war Lehm aus den Wänden gebrochen, die Fensterläden waren farblos und hatten sich verzogen.

Als Demuth gerade gegen die Haustür klopfen wollte, wurde sie von innen aufgezogen. In der offenen Tür stand Helena Kleinrogge, die Frau, die er bisher nur einmal gesehen hatte, als sie betend in Anna Hasenleders Küche gesessen hatte. Mit ihrer hageren Gestalt, den tiefliegenden Augen, dem strengen Haarknoten, dem schmallippigen Mund und den vielen Gesichtsfalten wirkte sie auch heute wieder verhärmt und krank auf Anton Demuth.

Als habe sie ihn erwartet, bat sie ihn wortlos mit einer Handbewegung in die große Küche, die hinter der Eingangstür lag.

Sie wies auf einen der Stühle, die um den schweren Holztisch in der Mitte des Raumes standen. Erst als Demuth sich setzte, bemerkte er den Mann, der im Schatten auf der Ofenbank saß und ihn schweigend ansah.

Bevor Demuth sich ihm vorstellen konnte, sagte Helena Kleinrogge: »Das ist Herr Demuth, der Untersuchungsrichter aus Werden. Er ist hier wegen dem Tod von der Anna.«

Zu Demuth gewandt, fügte sie hinzu: »Das ist mein Ehemann Paul. Er spricht nicht mehr. Seit Wochen, seitdem unser Junge tot ist, hat er kein Wort mehr gesagt.«

»Ach was.« Demuth betrachtete den Mann auf der Ofenbank mit hochgezogenen Brauen. Als seine Augen das Halbdunkel ganz durchdrungen hatten, stellte er fest, dass Kleinrogge nicht ihn anschaute, sondern ins Nichts starrte.

»Hören Sie mich?«, rief Demuth ihm zu.

Die laute Ansprache hatte Erfolg. Paul Kleinrogge sah ihn an.

»Können Sie nicht reden oder wollen Sie nicht?«, fragte Demuth.

Er bekam keine Antwort. Es schien ihm aber so, als lächele Kleinrogge still in sich hinein.

»Verhext ist er«, sagte Helena.

Anton Demuth widerstand dem Impuls, ihr zu widersprechen.

»Er lässt alles verkommen«, fuhr Helena fort. »Das Haus, der Schuppen, die Felder, alles verrottet und verdirbt.«

Paul Kleinrogge hatte seinen Blick wieder ins Nichts fallen lassen. Er wirkte hilflos und traurig.

»Unser kümmerlicher Weizen liegt im Matsch, die Kartoffeln faulen in der Erde. Wir haben kaum noch was zu essen«, sagte Helena. »Aber anstatt das Pferd vor die Karre zu spannen, zur Hütte zu fahren und zu schauen, dass er eine Fracht bekommt, sitzt mein Gatte auf der Ofenbank und dämmert vor sich hin.«

»Nirgendwo gedeiht etwas, alles verkümmert oder verfault. Das liegt am Wetter. Dafür kann niemand etwas.« Demuth hob die Schultern.

»Er war früher ein fleißiger Kerl. Unser Haus hat nicht immer so ausgesehen.«

»Es sind schwierige Zeiten«, sagte Demuth.

»Wir haben den Wagen und das Pferd. Damit hat er uns so manchen Taler verdient. Er hat Erz und Sand zur Hütte transportiert und Gusswaren von Sterkrade zum Hafen nach Ruhrort. Es gab Tage, an denen ist er mit Material und Werkstücken, mit Barren oder geschmiedeten Stangen gleich mehrmals zwischen Neu-Essen und Gute Hoffnung hin- und hergefahren. In der Nähe der Hütte gibt es für einen tüchtigen Fuhrmann immer etwas zu verdienen«, sagte Helena. Dabei sah sie den Untersuchungsrichter an und nicht ihren Mann, über den sie redete, als wäre er nicht anwesend.

Umso aufmerksamer beobachtete Demuth den Hausherrn, aber dem war nicht anzumerken, ob er die Worte seiner Frau begriff und ob ihre Vorwürfe ihn berührten. Demuth hätte ihn gern aus seiner Teilnahmslosigkeit herausgeholt und versuchte es mit einer überraschenden Ansprache.

»Herr Kleinrogge, ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie etwas mit dem Tod von Anna Hasenleder zu tun haben«, sagte er unvermittelt und laut.

Jetzt sah Paul Kleinrogge ihn an, unverwandt und ohne ein einziges Mal mit einer Wimper zu zucken. Sein Blick war leer. Demuth fand darin weder Erstaunen noch Widerspruch noch Wut.

Helena setzte sich zu Demuth an den großen Tisch. Unaufgeregt sprang sie ihrem Mann zur Seite. »Sie sehen doch, in welchem Zustand er ist. Glauben Sie wirklich, er wäre fähig, einem Menschen das Leben zu nehmen?«

»Ist es wahr, dass Sie beide die Anna Hasenleder für den Tod Ihres Jungen verantwortlich machen?«, fragte Demuth zurück.

»Sie hat dem Kind eine tödliche Krankheit angehext.«

Das sagte Helena so geradeheraus, als rede sie über eine vollkommen unstrittige Tatsache. Obwohl Demuth von ihrer Auffassung gewusst hatte, verschlug ihm die Bestimmtheit, mit der Helena diese absurde Unterstellung aussprach, für kurze Zeit die Sprache.

In den Moment der Stille hinein sagte sie: »Und dass die Sonne nicht mehr scheint und dass auf den Feldern ringsum alles verkommt und verrottet, das haben wir auch der Hexe zu verdanken.«

»Ach was«, murmelte Demuth konsterniert.

Eine ganze Weile war es jetzt still in der Küche. Irgendwann sagte Anton Demuth stockend, so als sei er sich nicht sicher, die richtigen Worte gefunden zu haben: »In Werden, wo ich wohne, in den Orten ringsum, in weiten Teilen Preußens und auch in anderen Ländern, soviel ich weiß, ist das Wetter ganz scheußlich in diesem Jahr. Keine Sonne, es regnet ständig, auf den Feldern verkommt das Getreide, in den Gärten das Gemüse. Sie glauben ernsthaft, dass die Anna das alles verschuldet hat?«

»Sie und ihresgleichen«, sagte Helena unbeirrt, »Hexen und böse Menschen, die mit dem Teufel im Bunde stehen. Sie haben unseren Herrgott so sehr erzürnt, dass er die Sonne zurück in den Himmel geholt hat.«

Demuth spürte, dass es keinen Zweck hatte, gegen diesen Unfug anzureden. So abwegig Helenas Bild von der Welt und von Anna Hasenleders Rolle darin auch war, es half ihr, all das Unglück in ihrem Leben zu verstehen, das Sterben ihrer Kinder, den Trübsinn ihres Gatten, das furchtbare Wetter, die vernichtete Ernte, die wachsende Not und den Hunger.

Den Menschen wurde ihr Elend erträglicher, wenn sie eine Erklärung dafür gefunden hatten. Demuth hatte als Richter immer wieder erlebt, wie Angeklagte und Verurteilte die Schuld an ihrem Unglück bei anderen gesucht hatten, beim böswilligen Bruder, beim sittenlosen Eheweib, beim teuflischen Nachbarn, bei der alten Hexe im verfallenen Haus am Rande des Dorfes.

Wer überzeugt davon war, seinen Feind oder seine Feindin entlarvt zu haben, der konnte gegen jemanden zürnen und kämpfen, der fühlte sich seinem Schicksal nicht mehr ganz so hilflos ausgeliefert.

»Sie haben die Anna gehasst, nicht wahr?«

Helena Kleinrogge antwortete nicht.

»Warum ausgerechnet Anna Hasenleder? Warum war sie die Hexe, die an allem schuld war?«, fragte Demuth.

»Sie war immer auf der Sonnenseite des Lebens. Das Glück haftete an ihr wie die Schuppen an einem Fisch. Dabei hing nicht einmal ein Kruzifix in ihrem Haus. Sie war gottlos und mit dem Teufel im Bunde.«

»Soviel ich weiß, kannte sie auch die Schattenseiten des Lebens«, wandte Demuth ein. »Sie hatte schon als junge Frau ihren Ehemann verloren.«

»Der Leopold war ihr im Wege. Solange er da war, konnte sie sich nicht ganz mit dem Teufel einlassen.«

Demuth mochte diesem Unfug nicht mehr zuhören, ohne zu widersprechen. »Das sind Hirngespinste«, sagte er entschieden. »Anna hatte mit dem Teufel nichts zu tun, sie hat niemandem Böses gewünscht und niemanden verhext. Sie war kein schlechter Mensch.«

»Doch, das war sie«, erwiderte Helena starrköpfig. »Ein paar Stunden bevor die Kinder krank wurden, ist sie hier herumgeschlichen, hat angeblich Kräuter gesucht. Und kurz bevor der Junge gestorben ist, hat unsere Marie sie durchs Fenster gesehen. Da ging sie an unserem Haus vorbei. Das waren ganz gewiss keine Zufälle.«

Demuth schüttelte verständnislos den Kopf. »Anna Hasenleder hat immer und überall Kräuter gesucht, und sie musste jedes Mal an diesem Haus vorbei, wenn sie irgendwohin wollte. Das war ihr Weg zur Poststation, zur Landstraße, wohin auch immer.«

»Sie war böse. Sie war eine Hexe. Sie ist gesehen worden, als sie eines Abends zusammen mit dem Leibhaftigen ins Schloss geschlichen ist. Am nächsten Morgen war die Gräfin tot. Friederike von Westerholt hatte hier an der Emscher ein friedliches Glück gefunden. Ein gottesfürchtiges Leben als Gemahlin des Grafen und als Mutter hat sie geführt. Ein so gottgefälliges Leben war dem Satan und seiner Gespielin zuwider. Darum haben sie es zerstört.«

Jetzt war es Demuth endgültig zu viel. »Sie reden Unsinn«, sagte er empört. »Das glauben Sie doch selbst nicht, was Sie da erzählen.«

»Unsere Marie hat gesehen, wie sie im Herrenhaus verschwand an dem Abend. Und bei ihr war der Mann mit dem Pferdefuß. Wenn Sie das nicht glauben, dann fragen Sie die Dina. Die wird nicht leugnen, dass die Anna im Schloss war, als die Gräfin gestorben ist.«

Demuth mochte dieses Gespräch nicht weiterführen.

»Wo ist sie eigentlich, die Marie?«, fragte er stattdessen.

Helena Kleinrogge rief ihren Namen. Augenblicke später schaute Marie durch eine Luke in der Zimmerdecke und kletterte die hölzerne Stiege herunter. Sie hatte sich dort oben unterm Dach so still verhalten, dass Demuth ihre Anwesenheit nicht bemerkt hatte.

»Das ist unsere Tochter«, sagte Helena Kleinrogge, als das Mädchen neben dem Küchentisch stand.

»Ich weiß, wir sind uns schon mal begegnet, beim Haus des Holzfällers Hülsken. Da war die Marie zusammen mit dessen Sohn«, sagte Demuth.

»Der Carl und sie sind oft zusammen, sie gehen beide in Sterkrade zur Schule«, sagte Helena Kleinrogge. »Der Carl ist ein braver Kerl.«

Marie setzte sich auf die Ofenbank neben ihren Vater. Demuth wusste nicht recht, wie er das Gespräch im Beisein des Mädchens fortsetzen sollte.

Er sagte, man sehe sich ja sicher gleich beim Puppenspiel, und verließ das Haus der Kleinrogges.

Als Anton Demuth etwa eine halbe Stunde später den großen Raum neben der Gaststube betrat, redete dort schon allerlei Volk mit gedämpften Stimmen aufeinander ein. Die Menschen harrten ein wenig aufgeregt der Dinge, die sich gleich hier abspielen sollten, sie warteten auf »Pfalzgraf Siegfried und die heilige Genoveva, ein Puppenspiel in vier Aufzügen«, das der Mechanikus und Marionettenspieler Josef Tendler an den vergangenen Tagen von Hamborn bis Dellwig und von Hiesfeld bis Styrum in Dörfern und Bauernschaften angekündigt hatte.

Therese Tendler saß hinter der halb geöffneten Flügeltür und kassierte das Eintrittsgeld. Sie bat Demuth um sechs Pfennige. Er legte ihr das Doppelte in die Blechdose, einen ganzen Groschen, und verzichtete mit einem gönnerhaften Lächeln auf die Herausgabe des Wechselgeldes. Daraufhin führte die Frau des Puppenspielers ihn zu den wenigen bequemen Stühlen in der Mitte des Saales. Die harten Holzbänke, die davorstanden, waren nach rechts und links verschoben, so dass man von den gepolsterten Stühlen aus einen freien Blick auf die Bühne hatte.

Die vorderen Bänke waren schon besetzt. Auch hinter den Stühlen gab es noch einige Bankreihen. Für einen Sitzplatz dort und für die Stehplätze ganz hinten im Saal kassierte Frau Tendler nur drei Pfennige pro Person.

Der Raum füllte sich zusehends. Wohl an die vierzig Personen mochten schon anwesend sein. Das überraschte Demuth. Er hatte erwartet, dass nicht viele Zuschauer kämen, weil in dieser Hungerszeit jeder sein Geld zusammenhielt, um etwas Essbares dafür zu kaufen. Doch all das Volk, das jetzt um ihn herumsaß und erwartungsvoll mal hierhin und mal dorthin schaute, hatte die paar Pfennige für den Eintritt erübrigen können und sie in Therese Tendlers Blechdose gelegt. Vielleicht brauchten die Menschen ja gerade in Zeiten wie diesen ein wenig Abwechslung und Vergnügen genauso dringend wie ihr täglich Brot.

Wenn alle Plätze besetzt waren, so schätzte Demuth, würden sechzig Zuschauer im Saal sein, vielleicht auch ein paar mehr. Er überschlug, dass die Familie Tendler an einem Abend wie diesem ungefähr einen Taler einnehmen würde. Das war nicht viel, wenn man all den Aufwand berücksichtigte, den sie vor jeder Aufführung betreiben musste, und wenn man zudem bedachte, dass sie an einem Ort nur eine begrenzte Anzahl von Vorstellungen geben konnte, bevor sie wieder alles zusammenpacken und weiterziehen musste.

Dagegen war er mit seinen rund fünfzig Talern im Monat ein Krösus. Er hatte davon zwar etliche Ausgaben zu bestreiten, musste seine teure Wohnung am Werdener Marktplatz und seine Dienstmagd Klärchen Stüber bezahlen, aber da war noch genug übrig, um den Tendlers einen ganzen guten Groschen zu geben und ihnen damit zu zeigen, dass er ihre Kunst überaus schätzte.

Ein derartiges Bedürfnis hatte der Gendarm Schmitting ganz offensichtlich nicht. Als er den Saal betrat, blieb er zwar kurz neben Therese Tendler stehen, um sich umzuschauen, machte aber nicht die geringsten Anstalten, überhaupt nur einen Pfennig Eintrittsgeld zu bezahlen. Nun ja, der Herr Schmitting war dienstlich hier, und ihm war es wohl auch kein Vergnügen, am späten Samstagnachmittag von Dinslaken aus zum Posthaus am Schloss Oberhausen zu laufen, um sich ein Puppenspiel anzuschauen.

Der Gendarm sah den Kriminalrat auf seinem gepolsterten Stuhl in der Mitte des Raumes sitzen, grüßte ihn mit einem freundlichen Kopfnicken, kam aber zunächst nicht zu ihm, sondern ging an den Bänken vorbei ganz nach hinten, wo auf den Stehplätzen einige junge Männer nicht mehr dezent miteinander plauderten, sondern aufdringlich laut miteinander lachten und palaverten.

Der Gendarm musste nicht einmal seine dröhnende Stimme einsetzen, seine Gegenwart allein sorgte für Ruhe auf den billigen Plätzen. Ohne sich nach hinten umzuwenden, bekam Demuth mit, dass Schmitting mit gedämpften Worten den Störenfrieden klarmachte, dass er sie unverzüglich und ohne Rückerstattung des Eintrittsgeldes an die frische Luft setzen werde, wenn sie die gleich beginnende Vorstellung durch Zwischenrufe, Gelächter, lautes Gerede oder irgendwelche unziemlichen Albernheiten stören würden. Die Frage, ob sie das verstanden hätten, beantworteten die jungen Kerle mit einem zustimmenden Gemurmel.

Was auch immer sie so zahm machte, der schmächtige Herr Schmitting selbst, sein lindgrüner Uniformrock, der preußische Adler auf seiner Lederhaube oder das geschulterte Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett, der Gendarm aus Dinslaken war hier eine Autoritätsperson, die offenbar jeder kannte und fürchtete.

Er setzte sich neben Demuth.

Dort war sein Platz, das war unstrittig. Dem königlich preußischen Gendarmen stand selbstverständlich einer der wenigen gepolsterten Stühle zu, ob er nun Eintrittsgeld bezahlt hatte oder nicht.

»Es freut mich, Sie wiederzusehen«, sagte Schmitting.

Von so viel Artigkeit überrascht, stammelte Demuth: »Ach was. Ja, gewiss. Mich auch.«

Schmitting wollte wissen, ob es irgendwelche neuen Erkenntnisse im Todesfall Anna Hasenleder gebe.

Demuth erzählte ihm hinter vorgehaltener Hand von seiner Begegnung mit Therese Tendler am gestrigen Nachmittag, von seinem Spaziergang mit Augustin Sumser und von seinem Besuch bei den Kleinrogges.

»Haben Sie den Herrn aus Bayern auch gefragt, was er gestern zwischen den Büschen am Schloss wollte?«, fragte Schmitting nach.

»Ja. Er hat sich angeblich dort herumgedrückt, weil eine Tochter des Grafen ganz bezaubernd auf dem Klavier gespielt hat. Sumser hat die Musik zufällig gehört und war davon so berührt, dass er wie angewurzelt zwischen den Sträuchern stehen geblieben ist, um zu lauschen.«

»Möglich wäre das«, gab Schmitting zu. »Dass die junge Gräfin Wilhelmine eine außergewöhnliche Pianistin ist, haben mir schon öfter Menschen erzählt, die die Gelegenheit hatten, ihr Klavierspiel zu hören.«

»Ich glaube dem Sumser immer noch nicht, dass er an die Emscher gekommen ist, um Spieldosen zu verkaufen. Er verschweigt irgendwas und ist für mich nach wie vor ein zwielichtiger Zeitgenosse«, resümierte Demuth. »Auch Helena Kleinrogge bleibt verdächtig, sie hat zweifellos die Anna gehasst. Allerdings spricht sie darüber so offen, dass ich kaum glauben kann, dass sie ihre Mörderin ist.«

»Das könnte eine List sein«, wandte Schmitting ein. »Vielleicht spricht sie gerade deshalb so offen über ihren Hass, weil sie weiß, dass jeder denkt, die Täterin würde das niemals tun.«

»Ja, das ist möglich, das habe ich auch schon in Erwägung gezogen«, sagte Demuth.

»Und was ist mit den Puppenspielern?«, fragte Schmitting.

»Die Tendlers haben nach meiner Einschätzung nichts mit Anna Hasenleders Tod zu tun. Ebenso wenig wie Harry Heine, der übrigens heute nach Hamburg zu seinem Onkel weitergereist ist.«

»Das hab ich schon vom Krumpe gehört«, sagte Schmitting.

Der Gendarm berichtete von seinen Bemühungen, Arnold Terhuven zu finden. Die waren bisher ergebnislos geblieben, aber Schmitting vermutete nach wie vor, dass der Enkel des alten Fürchtegott sich irgendwo hier in der Gegend zwischen Duisburg und Sterkrade herumtrieb.

Der Saal war inzwischen, wenige Minuten bevor das Puppenspiel beginnen sollte, beinahe voll. Demuth erkannte auf den Bänken rechts vorne Helena und Marie Kleinrogge, Paul war nicht mit ihnen gekommen. Neben den beiden saß Helenas Schwester Gertrude.

»Sagen Sie mal, Schmitting, die Tochter von der Gertrude Terhuven, ist die auch im Saal?«, fragte Demuth.

»Die Henriette?« Schmitting sah sich um und deutete auf eine der Bänke, die weiter hinten standen. »Da sitzen ein paar Bedienstete des Grafen: der Geselle des Braumeisters, der Gärtner und sein Gehilfe, der Kutscher, ein Pferdeknecht und zwei Küchenmägde. Die linke der beiden junge Frauen ist Henriette Terhuven.«

Demuth wandte sich um. Der hintere Teil des Raumes war nur mäßig beleuchtet, aber er erkannte, dass die dreiundzwanzigjährige Henriette Terhuven eine fröhliche junge Frau war, die lachend zwischen den Mägden und Knechten saß, mit denen sie zusammen im Schloss arbeitete.

»Das höhergestellte gräfliche Dienstpersonal sitzt dort vorne«, sagte Schmitting, »der Braumeister, die Mamsell, der Stallmeister und die Köchin.«

»Ich sehe die Dina nirgendwo«, stellte Demuth fest.

»Die Dina Becker ist nicht hier«, bestätigte Schmitting, nachdem er sich noch einmal umgeschaut hatte.

Alle Fensterläden waren zugezogen worden, von draußen fiel kaum Licht in den Raum. Ringsum an den kargen weißen Wänden hingen etwa zwanzig Laternen, in denen Talglichter brannten. Eine Reihe ähnlicher Lampen stand an der Stirnseite des Saales auf dem Podium vor dem heruntergelassenen Vorhang. Noch verlor sich der Kerzenschein im roten Faltenwurf des Stoffes, aber zweifellos standen die Lichter da vorne, um während der Vorstellung die Szenerie auf der Bühne zu erhellen.

Als das Gemurmel im Raum erstarb, sah Demuth neugierig auf den Vorhang, aber der hing unbeweglich herab. Etwas anderes hatte die Aufmerksamkeit der Menschen geweckt, die alle in Richtung Flügeltür schauten. Ein stattlicher Herr hatte den Saal betreten, er reichte Therese Tendler freundlich die Hand und legte lächelnd ein paar Geldstücke in die Blechdose, die als Kasse diente. Er wurde begleitet von einem zierlichen Mädchen, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, und von einem blassen Knaben, der noch jünger war.

Der vornehm gekleidete Herr mit dem lockigen dunklen Haar war kaum älter als vierzig. Er hielt einen Hut in der Hand und hatte seinen Gehstock unter den Arm geklemmt. Das war Graf Maximilian von Westerholt, daran zweifelte Demuth nicht einen Augenblick.

»Max Friedrich Graf von und zu Westerholt Gysenberg«, raunte Schmitting, »mit seinen Kindern Wilhelmine Karoline und Friedrich Ludolf.«

Demuth nickte.

»Sind das die beiden ältesten?«, fragte er.

»Es gibt noch Karl Theodor. Der ist siebzehn und in einer Kadettenanstalt, er bereitet sich auf eine militärische Laufbahn vor. Dann ist da noch Maria Anna, die ist jünger als Wilhelmine und älter als Friedrich Ludolf. Zurzeit ist sie bei Verwandten im Münsterland. Und ein paar jüngere Geschwister gibt es auch noch.«

»Und die Wilhelmine Karoline ist die große Pianistin, von der unser Herr Sumser geschwärmt hat?«

»Ja, das ist die Minzi.«

Als Max Friedrich von Westerholt sich plötzlich den Stühlen zuwandte und ein paar schnelle Schritte später vor dem Kriminalrat und dem Gendarmen stand, schaffte der überraschte Demuth es gerade noch, sich zu erheben, während Schmitting schon mit geschultertem Gewehr strammstand.

»Der Herr Justizrat Demuth aus Werden nehme ich an«, sagte der Graf verbindlich, schüttelte Demuth die Hand, klopfte Schmitting jovial auf die Schulter, winkte seine Kinder heran und setzte sich.

Auf den letzten freien Stühlen nahmen der Postmeister Friedrich Krumpe und seine Frau Margarete Platz. Sie sprach recht vertraut mit der jungen Gräfin Minzi, während Friedrich Krumpe leise auf Maximilian von Westerholt einredete. Demuth bekam mit, dass es im Gespräch der beiden Männer um den gestiegenen Preis für ein Fass Bier ging.

Therese Tendler schloss die Flügeltür, nahm ihre Blechdose unter den Arm und verschwand hinter dem Vorhang. Kurz darauf ertönte ein Glöckchen, das Geplauder ringsum erstarb. Nach dem zweiten Klingeln wurde es ganz still im Saal, und unmittelbar nach dem dritten Ton des Glöckchens flog der rote Vorhang in die Höhe.

Der Blick auf die Bühne versetzte Demuth um tausend Jahre zurück. Er schaute in einen mittelalterlichen Burghof mit Turm und Zugbrücke. Zwei kleine Leute, nicht mehr als eine Elle groß, standen da und redeten lebhaft miteinander. Der eine mit dem schwarzen Barte, dem silbernen Federhelm und dem goldbestickten Umhang über dem roten Wams war der Pfalzgraf Siegfried. Das Wams mit der silbernen Bordüre erkannte Demuth wieder. Es war das Kleidungsstück, das Therese Tendler gestern instand gesetzt hatte.

Siegfried wollte gegen einen Haufen gottloser Heiden in den Krieg reiten und befahl seinem jungen Verwalter Golo, der im blauen Wams neben ihm stand, zum Schutz der Pfalzgräfin Genoveva in der Burg zurückzubleiben. Golo aber jammerte ganz scheinheilig, er könne doch seinen guten Herrn nicht allein in eine solche Schlacht reiten lassen. Beide drehten bei ihren Wechselreden die Köpfe hin und her und gestikulierten heftig und ruckweise mit den Armen.

Ein paar langgezogene Trompetentöne erklangen irgendwo am Rande des Burghofes, und zugleich kam die schöne Genoveva in himmelblauem Schleppkleide hinter dem Turm hervorgestürzt und schlug beide Arme um die Schultern des Gemahls.

»Oh, mein herzallerliebster Siegfried, wenn dich die grausamen Heiden nur nicht massakrieren!«, rief sie laut mit der Stimme von Therese Tendler. Genoveva schluchzte herzerweichend, aber es half ihr nichts. Noch einmal ertönten die Trompeten, und der Graf schritt steif und würdevoll über die Zugbrücke aus dem Hofe. Man hörte aus dem Hintergrund deutlich ein wildes Pferdegetrappel. Siegfried zog mit seinem Reitertrupp ab. Golo war jetzt der Herr der Burg.

Anton Demuth ließ sich bereitwillig verzaubern von alledem, von der exotisch fremden Ritterwelt, von der Illusion, in einer lange versunkenen Zeit unterwegs zu sein, von der zappeligen Lebendigkeit der Puppen an ihren unsichtbaren Fäden, von den phantastischen Kostümen und von der dramatischen Geschichte um Liebe, Betrug und Edelmut.

Im zweiten Aufzug trat Kasperl auf. In beinahe jedem Puppenspiel war er die Figur, die selbst die traurigste Geschichte mit Humor würzte und das Publikum immer wieder zum Lachen brachte. Im Stück um die heilige Genoveva war Kasperl einer der Diener auf der Burg des Grafen Siegfried. Er riss einen Witz nach dem anderen, so dass bald das Gelächter im Saal groß war. Der Gendarm Schmitting, der sein Gewehr zwischen die Knie geklemmt hatte und sich mit beiden Händen am Lauf festhielt, hörte mit angespannter Aufmerksamkeit zu, aber da war nichts Zotiges und nichts Aufrührerisches im schlichten Humor vom Kasperl zu entdecken.

Der hatte in seiner Nase, die so groß wie eine Wurst war, ein Gelenk, das in besonderem Maße zu Anton Demuths Heiterkeit beitrug. Je ausgelassener Kasperl auf der Bühne herumfeixte, desto wilder schlenkerte der Nasenzipfel hin und her, als wenn die Nase selbst sich vor Lachen schütteln müsste.

Außer Kasperls Witzen bot das Stück keine Anlässe zum Lachen. Die Geschichte entwickelte sich auf der Bühne so, wie sie es auch in der Legende tat, die Demuth vor vielen Jahren als Schüler gelesen hatte.

Genoveva, die Tochter eines Herzogs von Brabant, war die Gemahlin des Pfalzgrafen Siegfried geworden. Der zog als Gefolgsmann des Königs in den Krieg, ließ seine schwangere Gattin in seiner Burg zurück und vertraute sie dem Schutz seines Verwalters an. Golo jedoch erwies sich als treulos und hinterhältig und stellte der schönen Genoveva nach. Er umwarb sie immer aufdringlicher, doch die treue Frau wies ihn ein ums andere Mal zurück. Daraufhin beschuldigte der wütende Golo sie fälschlicherweise des Ehebruchs und verurteilte sie zum Tode. Der Henker jedoch verschonte sie und ließ sie heimlich frei.

Das ereignete sich im dritten Aufzug des Puppenspiels. Im vierten konnten Demuth und die anderen Zuschauer im Saal des Posthauses miterleben, wie Genoveva mit ihrem inzwischen geborenen kleinen Sohn versteckt in einer Höhle lebte. Die Gottesmutter Maria selbst schickte ihr eine Hirschkuh dorthin, mit deren Milch Genoveva und ihr Kind überleben konnten, bis ihr Gemahl Siegfried, der stets an ihre Unschuld geglaubt hatte, sie endlich wiederfand.

Als Siegfried und Genoveva lange verschwunden waren und der Vorhang schon vor einer ganzen Weile gefallen war, saß Anton Demuth immer noch auf seinem Stuhl und freute sich für den Grafen und seine schöne Gemahlin, die gewiss gerade jetzt hinter den Burgmauern überaus glückselig ihr Wiedersehen feierten.

Der Saal leerte sich allmählich, auch der Graf und seine Kinder waren schon gegangen, begleitet vom Gendarm Schmitting. Es waren nur noch wenige Menschen im Raum, da bemerkte Demuth, dass der ältere Herr, der während der Vorstellung ganz vorn auf einer Bank gesessen hatte, sich zu ihm umgedreht hatte und ihn anschaute.

Als Demuth ihm ins Gesicht sah, erkannte er ihn sofort. Es war Jacob Troost, der in den Sterkrader Kindertagen sein bester Freund gewesen war.

Die schöne Geschichte von den alten Freunden, die sich nach Jahrzehnten wiedersehen und schon nach wenigen Minuten so vertraut miteinander sind, als hätten sie noch vor ein paar Tagen zusammengesessen, wurde immer wieder gern erzählt. Anton Demuth kannte sie, und er mochte die Geschichte, aber er war trotzdem nicht enttäuscht darüber, dass Jacob Troost und er die Vertrautheit der Jugendtage nicht auf Anhieb wiederfanden. Zu viel Zeit war vergangen, zu viel hatte sich verändert in der Welt und im Leben des einen und im Leben des anderen.

Vom ersten Augenblick ihrer Begegnung an war aber bei beiden die Freude über das Wiedersehen groß.

Sie überlegten eine Weile, wie oft sie sich nach dem Tod des alten Lehrers Demuth noch gesehen hatten. Troost erinnerte sich an eine zufällige Begegnung in Duisburg.

»Ja, du hast recht. Da sind wir uns mal über den Weg gelaufen, aber ich habe keine Ahnung, wie lange das her ist.«

»Du hattest deine Zeit als Referendar in Hamm hinter dir und warst gerade als junger Justizassessor ans Duisburger Stadtgericht versetzt worden.«

»Ach was«, sagte Demuth, lachte und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Dann müsste das etwa 1780 gewesen sein, also vor rund dreieinhalb Jahrzehnten.«

Ihm fiel ein, dass er später noch einmal bei Jacob Troost in Sterkrade gewesen war und sich mit dem Freund zusammen angesehen hatte, was aus der alten Schule geworden war, an der sie beide von Antons Vater unterrichtet worden waren.

»Du warst damals schon eine ganze Weile Lehrer in Sterkrade, aber zwanzig Jahre ist das bestimmt auch inzwischen her.«

»Zwanzig?«

Jetzt war es Troost, der lachte und den Kopf schüttelte.

»Nein, nein, lieber Anton, das ist dreißig Jahre her, mindestens. Du warst damals gerade frisch verheiratet, und deine Frau und du, ihr erwartetet euer erstes Kind.«

»Ist das wahr?«

Demuth mochte es kaum glauben.

»Dann muss das ja schon bald nach unserer Begegnung in Duisburg gewesen sein. Unsere Tochter Susanna ist vor ein paar Wochen zweiunddreißig Jahre alt geworden.«

Nachdenklich schwiegen die beiden Männer eine Weile. Demuth sah Jacob Troost verstohlen aus den Augenwinkeln an. Ihm war es so, als sähe der alte Freund deutlich jünger aus als er, dabei war er nur wenige Monate nach ihm zur Welt gekommen.

»Du hast dich gut gehalten«, sagte er.

Troost lachte. »Das täuscht. Ich habe Glück mit den Haaren. Die sind so dicht und struppig wie eh und je. Auch wenn sie grau sind, lässt das einen alten Herrn weniger alt aussehen. Und der Beruf, der hält natürlich auch jung. Eine Horde Rotzlöffel kann man nur jeden Tag ertragen, wenn man selbst ein bisschen Kind geblieben ist. Aber unter der Oberfläche, da knirscht und knackt es schon ganz gewaltig.«

Er hob den Gehstock hoch, den er neben seinen Stuhl auf den Boden gelegt hatte.

»Ohne den bin ich nicht mehr gern unterwegs. Mal ist es das Knie, mal die Hüfte, immer zwickt irgendwas. Da bin ich ganz froh, wenn ich einen Stock in der Hand habe, auf den ich mich stützen kann.«

Am Nachbartisch wurde laut gelacht. Da saßen die jungen Bediensteten des Grafen, unter ihnen Henriette Terhuven. Demuth sah zu ihnen hinüber. Das Gelächter galt nicht ihm und auch nicht Jacob Troost mit seinem in die Höhe gestreckten Gehstock. Die jungen Leute hatten nur Augen und Ohren füreinander. Einer der Burschen, vielleicht der Geselle des Braumeisters, vielleicht der Gehilfe des Gärtners, hatte seinen Arm um Henriette gelegt.

An allen sieben Tischen in der Gaststube und auf den Bänken an den holzgetäfelten Wänden ringsum saßen Frauen und Männer und redeten und lachten. Die meisten tranken Bier, Trudi ging gerade mit einem Tablett, auf dem Gläser mit Branntwein standen, zu dem Tisch, an dem die gräflichen Bediensteten ausgelassen lachten.

Fast die Hälfte der Leute, die im Saal nebenan Zuschauer beim Puppenspiel gewesen waren, hatte das Posthaus nicht sofort nach dem letzten Vorhang verlassen, sondern in der Gaststube Platz genommen.

Manche hatten sich nur mit einem Glas Bier oder mit einem Branntwein gestärkt, um danach den Heimweg anzutreten, andere saßen immer noch beieinander, zu zweit oder in Grüppchen, besprachen das Schicksal der heiligen Genoveva oder das eigene und tranken inzwischen das zweite oder dritte Bier.

Der Posthalter Krumpe stand hinterm Schanktisch und zapfte, seine Frau Margarete stand in der Küchentür und schaute dem Treiben in der Gaststube zu. Trudi lief von Tisch zu Tisch und verteilte die gefüllten Krüge und Gläser.

Als Hermann Krumpe ein neues Bierfass in den Raum rollte, kam Demuth der Gedanke, dass die Familie des Postmeisters möglicherweise von diesem Abend mehr profitierte als der Puppenspieler Tendler und seine Familie, die mit ihrer Kunst das Publikum hierhergelockt hatten. Und es erschien ihm beim Anblick der Branntwein trinkenden Mägde und Knechte und all der Bauersleute, die lachend und palavernd ihre Bierkrüge schwenkten, durchaus möglich, dass der Posthalter Krumpe nicht nur aus purer Nächstenliebe die Tendlers in den Pferdeställen übernachten ließ und ihnen nicht nur aus Begeisterung fürs Marionettenspiel den Saal im Posthaus für ihre Aufführungen zur Verfügung stellte.

Immerhin hatte Friedrich Krumpe sich an diesem Abend nicht lumpen lassen: Zum ersten Mal, seitdem Demuth hier war, versprach der mächtige Kachelofen an der Wand neben der Flügeltür nicht nur Wärme, sondern er verströmte sie tatsächlich im Gastraum, und das tat er so ungezügelt, dass auch diejenigen Durst bekamen und einen Krug Bier verlangten, die das eigentlich gar nicht vorgehabt hatten.

Trudi hatte schon einige Male im Vorbeigehen in die Krüge des Kriminalrats und des Lehrers geschaut, aber die beiden älteren Herren tranken deutlich langsamer als die jungen Leute am Nachbartisch und als die ewig durstigen Bauersleute.

»Warum ist es eigentlich damals bei dem einen Besuch in Sterkrade geblieben?«, fragte Anton Demuth sich und den alten Freund. »Hatten wir nicht beide den Wunsch, uns öfter zu treffen?«

Jacob Troost hatte eine Antwort auf die Frage: »Ja, die Absicht, hin und wieder ein paar Stunden miteinander zu verbringen, die hatten wir beide. Aber ich denke, du hattest nicht die Zeit dazu, eine Freundschaft zu pflegen. Du warst jung verheiratet, hattest eine kleine Tochter und hast dich damals mit viel Leidenschaft der Juristerei gewidmet. Jedenfalls hatte ich den Eindruck. Und ich war überzeugt davon, dass du eine große Karriere in der preußischen Justiz machen würdest.«

»Eine große Karriere? Hast du das wirklich geglaubt? Ich bin der Sohn eines Dorfschullehrers. Als preußischer Jurist kann man nur nach ganz oben kommen, wenn man da schon geboren worden ist, wenn man aus einem adligen Haus stammt oder aus einer sehr wohlhabenden Familie.«

»Früher mag das so gewesen sein«, räumte Troost ein, »aber haben die Zeiten sich nicht geändert? Wir leben inzwischen im neunzehnten Jahrhundert.«

»Tatsächlich ist heute in der preußischen Staatsverfassung verankert, dass Beamte, die mit Treue, Wärme und Fleiß ihre Berufspflichten ausüben, dem Grade ihres Diensteifers und ihrer Fähigkeiten entsprechend befördert werden müssen, unabhängig von Stand und Rang«, bestätigte Demuth, fügte dann aber nach einer wegwerfenden Handbewegung hinzu: »Die höchsten Ämter in Verwaltung und Justiz besetzen aber immer noch hochwohlgeborene Herrschaften. Und die bleiben da oben gern unter sich und sorgen dafür, dass immer wieder nur ihresgleichen zu ihnen aufsteigen.«

»Du hast es doch weit gebracht«, sagte Troost. »Du bist Kriminalrichter und Justizrat. Aus der Sicht eines Sterkrader Schullehrers ist das eine ganz beachtliche Karriere.«

Demuth schüttelte den Kopf. »Ein studierter Jurist in preußischen Diensten, der mit Anfang sechzig noch kein Justizrat ist, hat entweder aufs Gröbste seine Dienstpflichten verletzt oder sich dem Suff und einem gänzlich unmoralischen Lebenswandel hingegeben. Nein, Jacob, meine Laufbahn ist alles andere als eine großartige Karriere.«

»Aber die Leidenschaft für die Juristerei, die hattest du damals doch. Oder habe ich das auch falsch gesehen?«

»Leidenschaft?«, wiederholte Demuth fragend und dachte eine Weile nach. »Ich hatte den Willen, etwas zu bewirken«, sagte er schließlich. »Als junger Richter hatte ich immer wieder arme Schlucker abzuurteilen, die mit Diebstahl, Raub oder Betrügereien versucht hatten, ihre Familien durchzubringen. Ich habe sie nicht gleich für Jahre weggesperrt. Mir war wichtig, dass ihnen eine Hoffnung blieb. Versteh mich nicht falsch, Jacob! Ich habe durchaus mit Überzeugung das Recht vertreten und die Gesetze angewendet. Wer einem anderen nach dem Leben trachtet, wer einen braven Mann um sein Hab und Gut bringt oder ihm Schaden zufügt, der muss bestraft werden. Sonst funktioniert ein Staatswesen nicht. Aber es gibt Ermessenspielräume, und die habe ich für die einfachen Menschen genutzt, die nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Not auf die schiefe Bahn geraten waren. Das hat mich damals angetrieben.«

»Ja, das passt zu dir.« Jacob Troost lachte und berichtigte sich: »Es passt jedenfalls zu dem Anton Demuth, mit dem ich vor vielen Jahren befreundet war.«

»Bei meinen Vorgesetzten habe ich mich damit nicht beliebt gemacht«, sagte Demuth. »Ich wurde immer wieder zum Rapport einbestellt und musste meine milden Urteile rechtfertigen. Man konnte mir zwar keine Dienstverletzung nachweisen, aber ich nehme an, dass meine Nachgiebigkeit gegenüber vielen Angeklagten auch ein Grund dafür ist, dass ich kein Oberrat und kein Justizdirektor geworden bin.«

»Und wie war das, als plötzlich nicht mehr das preußische, sondern das französische Recht galt? Wirft man als Jurist dann einfach das eine Gesetzbuch in die Ecke und benutzt das andere?«

Demuth lachte. »So ähnlich war es in der Tat. Aber die Umstellung kam ja nicht plötzlich. Schon 1806 war Dinslaken unter französischen Einfluss geraten und ein Teil des Großherzogtums Berg geworden. Das wurde zunächst von Napoleons Schwager regiert, aber das weißt du ja alles. Ab 1808, nach der Übernahme der Regentschaft durch Napoleon selbst, wurden Verwaltung und Justiz dann entscheidend reformiert. 1810 wurde das Dinslakener Landgericht in ein Friedensgericht umgewandelt, und das französische Recht wurde eingeführt. Das geschah also nicht überraschend, trotzdem war es ein gewaltiger Umbruch. Die Gleichheit aller vor dem Gesetz, der Anspruch jedes einzelnen Menschen auf persönliche Freiheit, aber auch die Aufhebung des Zunftzwanges, die Zivilehe oder die Trennung von Staat und Kirche waren Errungenschaften der Revolution, und die hatten im Code Civil, im Zivilrecht der Franzosen, ihren Niederschlag gefunden. Auch im Strafrecht gab es erhebliche Veränderungen, aber eines blieb gleich: Die Gauner, die Diebe und Räuber, die vor Gericht standen und abgeurteilt wurden, waren immer dieselben Leute, und es waren meistens arme Schlucker. Denen war es egal, nach welchem Recht sie hinter Gitter geschickt wurden.«

»Warst du betrübt, als die Preußen dann wieder Herren im Lande wurden?«

»Nein, das war ich nicht. Auch in Preußen hatte es ja inzwischen Reformen gegeben. Außerdem bin ich mir sicher, dass Friedrich Wilhelm dem Volk die Privilegien nicht wieder nehmen kann, die es von Napoleon erhalten hat. Der König hat ja sogar zugelassen, dass in Teilen unserer Provinz weiter die französische Gerichtsverfassung gilt.«

Trudi hatte gesehen, dass die Bierkrüge des Untersuchungsrichters und des Lehrers endlich leer waren. Die beiden hatten ihr aufmunternd zugenickt, und die Magd des Posthalters hatte daraus geschlossen, dass die Herren sich über frisches Bier freuen würden. Jetzt stellte sie wortlos zwei überschäumend volle Krüge auf den Tisch, machte einen Knicks und ging weiter zu ein paar jungen Bauern, die auf der Bank in der Nähe des Kachelofens saßen und ihr durstig zuwinkten.

»Ich freu mich sehr, dass wir uns begegnet sind«, sagte Jacob Troost.

Anton Demuth fiel dazu nur ein, zu nicken und zu sagen: »Ich freu mich auch.«

»Lass uns darauf trinken, dass bis zum nächsten Treffen nicht wieder Jahre vergehen«, sagte Troost.

Beide Männer nahmen ein paar kräftige Schlucke.

Demuth wischte sich den Schaum vom Mund. »Das Bier ist gut hier.«

»Ja, das ist es. Der Braumeister vom Grafen Westerholt ist ein Künstler. Ich komme fast jede Woche einmal her und trinke einen Krug. Aber ich komme vor allem, weil man hier mal andere Menschen sieht als im Dorf, interessante, weit gereiste Menschen, mit denen ich ab und zu ins Gespräch komme. So erfahre ich manches über die Welt, bekomme neue Eindrücke und manchmal sogar neue Einsichten.«

Demuth lächelte. »Was du da sagst, das erinnert mich sehr an den Jacob, mit dem ich einmal befreundet war, an diesen jungen Kerl, der immer neugierig war und an allem interessiert.«

»Schön, dass du mich wiedererkennst.« Troost lachte.

Demuth lachte mit ihm und prostete dem alten Freund zu.

»Warum bist du eigentlich nicht in Dinslaken geblieben?«, fragte Troost ihn. »Du hast doch fast dein ganzes Berufsleben dort verbracht.«

»Als die Preußen wiederkamen, haben sie sofort damit begonnen, Justiz und Verwaltung neu zu organisieren«, entgegnete Demuth. »Ich erfuhr von den Plänen, in Werden ein Inquisitorialgericht zu installieren, das zuständig für die Untersuchung von kapitalen Verbrechen werden sollte. Ich hatte schon lange keine Lust mehr, arme Schlucker abzuurteilen. Außerdem fühlte ich mich einsam in Dinslaken nach dem Tod meiner Frau. Also habe ich mich beworben.«

»Ich habe das damals gehört, dass deine Frau gestorben war. Es hat mir sehr leidgetan für dich. Wie lang ist das jetzt schon her?«

»Das war vor fünf Jahren«, sagte Demuth. »Nicht lange nach ihrem Tod hat unsere Susanna nach Werden geheiratet. Sie lebt dort mit ihrer Familie. Das war auch ein Grund dafür, dass ich ans Untersuchungsgericht wollte. Jetzt sehe ich mindestens einmal pro Woche meine Tochter und meine beiden kleinen Enkelinnen.«

»Das ist schön für dich.«

»Na ja, um ehrlich zu sein, hatte ich auch gehofft, sie würden mich am neuen Gericht zum leitenden Justizdirektor machen. Aber es war dann doch wieder so wie immer. Ein junger Adliger leitet jetzt das Haus. Aber es ist schon in Ordnung so. Er ist ein kompetenter Mann, und er schätzt mich und lässt mich meine Arbeit machen. Und die mache ich wirklich gerne. Jeder nicht aufgeklärte Kriminalfall ist eine Herausforderung für mich, ein Rätsel, das ich unbedingt lösen will.«

»Und jetzt bist du hier, um den Tod von der Anna Hasenleder aufzuklären«, sagte Troost.

»Ja. Woher weißt du das?«

»Von ihrem schrecklichen Tod weiß jeder hier in der Gegend.«

»Kanntest du sie?«

»Ich habe sie oft gesehen mit ihren Kräutern, in Sterkrade auf dem Markt und hier am Posthaus. Es schien mir so, als wäre sie ein ganz besonderer Mensch gewesen.«

»Wie meinst du das?«

»Nun ja, sie wirkte so zerbrechlich und war doch ganz offensichtlich eine starke Frau. Man konnte spüren, dass sie anders war als andere Menschen. Ich hab mir oft gewünscht, sie näher kennenzulernen.«

»Ich verstehe«, sagte Anton Demuth.

»Wirst du ihren Mörder finden?«, fragte Troost.

»Ja, das werde ich.«

»Also wirst du noch eine Zeitlang hier logieren?«

»Das weiß ich noch nicht. Warum fragst du?

»Weil ich mich auf den Heimweg machen muss.«

»Du kannst doch jetzt nicht gehen«, sagte Anton Demuth enttäuscht. »Du hast noch nichts von dir erzählt. Ich möchte wissen, wie das Leben eines Sterkrader Dorfschullehrers heute aussieht, ob noch irgendwas so ist wie damals bei meinem Vater.«

»Ich muss wirklich gehen«, entgegnete Troost. »Es ist stockdunkel. In diesen Zeiten leuchten weder Mond noch Sterne. Aber wenn du möchtest, komme ich wieder. Am Montagnachmittag? Bist du dann noch hier?«

»Übermorgen? Ja, ich werde hier sein«, sagte Demuth.